Nathalie beobachtete tief erschüttert was an der Verhandlung passierte. Sie beobachtete dieses Mädchen, mit dem sie sich so verbunden fühlte. Ihr altes Ich, wie es kämpfte um Kais Leben. Sie lauschte seiner feurigen Rede, die soviel an Kraft enthielt! Irgendwie war sie stolz auf diese Stärke, eine Stärke, die sie heute wohl nicht mehr gehabt hätte. Oder vielleicht doch? „Du warst eine starke Persönlichkeit Nathalie,“ sprach der weisse Wolf zu ihr. „Du hast noch immer diese Kraft in dir, du musst sie nur wiederfinden! Damals an dieser Verhandlung hatte sich dein Leben ganz grundlegend verändert. Du wurdest zusammen mit deinem Geliebten zur Verstossenen, obwohl du dich stets so verbunden fühltest mit allen Geschöpfen um dich. Es spielte für dich als Allessehende keine Rolle ob jemand Mensch oder Tier war. Du liebtest alle gleichermassen. Doch nich alle dachten so wie du und so nahmen sie dir und Kai etwas sehr Fundamentales weg. Du warst damals lange orientierungslos und voller Kummer. Du wusstest anfangs nicht, wie du dein Leben auf die Reihe kriegen solltest. Irgendwie haben es dein Geliebter und du dann aber doch geschafft. Aber etwas blieb, ein tiefer, innerer Schmerz, ein Gefühl grösster Verlassenheit und Schuld. Das wirkt noch heute in dir nach und... in Kai...“ „Ist...Kai...auch wiedergeboren wie ich?“ „Ja, er ist dir sogar schon begegnet.“ Nathalie horchte auf und dann begann sie fieberhaft nachzudenken. Wer war es, von dem der Wolf sprach? Sie hatte da so ein Gefühl, doch nur ganz unterschwellig, kaum wahrnehmbar. Schliesslich sagte ihr der Verstand, dass es keinen Sinn hatte darüber nachzudenken. Diese Antwort lag noch im Verborgenen und vielleicht war es auch besser so. Dennoch fragte sie ihr Totemtier: „Weiss du denn, wer es ist?“ Der Wolf schien zu lächeln als er erwiderte: „Ja ich weiss es wohl.“ „Kannst du es mir nicht sagen?“ „Nein, das musst du schon selbst herausfinden.“ „Das war ja klar,“ gab Nathalie etwas enttäuscht zurück. „Dann wollen wir wieder gehen?“ fragte das Totemtier. „Ja, ich glaube ich habe verstanden was du mir zeigen wolltest. Vieles steht jetzt viel klarer vor mir. Ich danke dir.“ Nichts zu danken Sunkmanitutanka... Nichts zu danken...“
9. Kapitel
Das Schwitzhütten- Ritual wurde nicht mehr weiter geführt, Snakeman hielt es nicht mehr für nötig. So brachen sie die Hütte wieder ab und beschlossen über Nacht erstmal hier zu campieren. Es wurde eine kalte Nacht. Marc konnte lange nicht einschlafen und lauschte auf all die fremden Geräusche rundum. Er war angezogen in den dicken Schlafsack geschlüpft und wickelte die Decken, die ihm zur Verfügung standen eng um sich, um nicht zu stark zu frieren. Sein Lehrmeister Frank lag dicht neben ihm, damit sie beide jeweils etwas von der Körperwärme des andern profitieren konnten. Mit der Zeit wurde es etwas wärmer in dem kleinen Zelt, doch es war immer noch kalt. Marc starrte mit weit offenen Augen in die Finsternis über sich. Es gab nirgends eine Lichtquelle und er war froh nicht allein zu sein. Laufender Hirsch war wieder fortgegangen und... bald würde ihn auch noch Weise Schlange verlassen. Er dachte schon jetzt mit ziemlichem Unbehagen daran. Dennoch fürchtete er sich nicht mehr so wie anfangs. Irgendwie hatte er eine andere Einstellung zu dem Ganzen gewonnen. Seit dieser...Vision. Noch immer erschauderte er vor Ehrfurcht wenn er daran zurückdachte. Was genau hatte die Libelle gemeint? Welche Illusionen würde sie bei ihm zerstören? Musste er sich wohl davor fürchten, oder... würde es ihn endlich von einer Last befreien, die ihn schon das ganze Leben begleitete? Auf einmal wurde ihm mit selsamer Intensität bewusst, dass er eigentlich stets auf der Suche nach seinem innern Frieden gewesen war und dennoch... trotz allem was er stets getan hatte, trotz all seiner Freunde, Geliebten und Handwerksarbeiten, hatte er ihn nie gefunden. Plötzlich begann sein Herz heftiger zu schlagen. Es war ein Gefühl, als ob er diesem innern Frieden nun wahrlich auf der Spur kommen würde. Er war ihm näher als jemals zuvor und... auf einmal hatte er das erste Mal die Hoffnung ihn auch wahrlich zu finden...
Am nächsten Tag war die Welt um sie überzogen mit Frost, er bedeckte den Boden und die Bäume wie ein weisser Film. Einzelne Nebelschwaden lagen wie geisterhafte Gestalten über dem Fluss. Der Atem der beiden Männer stand wie Wolken vor deren Mund, während sie das Zelt abbrachen. Marc stellte erfreut fest, dass er sich schon etwas an die Kälte hier gewöhnt hatte. Irgendwie war in ihm ein Enthusiansmus, über den er sich wunderte. Er begann dieses wilde Land immer mehr zu lieben. Man war hier vollkommen entfernt von jeglicher Hektik und Stress. Die ruhige und doch starker Gegenwart seines sehnigen Lehrmeisters, der noch immer erstaunlich fit für sein Alter war, tat ihm ausserdem sehr gut. Irgendwie fühlte er sich mit ihm nun viel tiefer verbunden. Anfangs hatte er ihn noch für verrückt gehalten, doch nun begann er dessen Wesen immer mehr zu ergründen und zu verstehen. Es tat ihm ehrlich leid, dass Frank ihn bald verlassen wollte, Furcht empfand er deswegen aber immer weniger. Es würde schon gutgehen. Ausserdem hatte Weise Schlange ihm versichert in der Nähe zu bleiben.
Schliesslich gingen sie wieder los. Sie verliessen den Fluss und erklommen einen Hügel. Marc blickte sich um. Das Licht der Morgensonne tauchte die bizarre Landschaft der Badlands in einen zarten rosaroten Schein und spiegelte sich auf der, von Reif überzogenen Umgebung wieder. Es war noch immer kalt, doch je mehr die Sonne emporstieg, umso wärmer wurde es und das Licht wurde immer greller. „Wir können froh sein, dass es nicht geschneit hat,“ sprach Frank. „Sonst könnten wir nicht hier sein, es wäre zu gefährlich.“ „Ist die Höhle weit weg von hier?“ fragte Marc. „Der Angesprochene grinste etwas spöttisch, dann erwiderte er: „Es kommt drauf an, was man als weit bezeichnet. Ich finde sie liegt nicht weit weg, doch es ist kein einfacher Aufstieg.“
Tatsächlich kam Marc an jenem Morgen noch ziemlich ins Schwitzen und der Weg kam ihm sehr lange vor, weil es so steil war.
Um die Mittagszeit herum, erreichten sie dann endlich ihr Ziel. Die Höhle lag ziemlich versteckt, ein schmaler Eingang zwischen zwei weisslichen Felsblöcken, die breite Schatten warfen. Snakeman, der ein Gewehr bei sich trug, gab Marc mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er einen Moment draussen warten solle.
Nach einer Weile kehrte er wieder zurück. „Die Höhle ist zur Zeit von keinem Tier bewohnt. Du kannst also ohne Angst hierbleiben. Es wäre jedoch ratsam stets ein Feuer am Brennen zu haben.“
Er führte Marc nun in die doch recht kleine Höhle hinein, in der man gerade knapp aufrecht stehen konnte. Sie war in sich abgeschlossen, besass also keine weiteren Kammern, was dem jungen Mann eine gewisse Geborgenheit vermittelte. Es gab nur oben an der Decke eine kleine Öffnung, durch die etwas Tageslicht herein fiel. Es malte einen hellen Kegel auf den gräulich- weissen Boden der Höhle und erhellte den sonst dunklen Raum auf angenehme Weise. Dennoch gab es noch viele dunkle Flecken und Winkel die nicht vom Licht erreicht wurden. Es war wie in Marcs Leben, da gab es noch vieles, dass noch verborgen, das noch im Dunkeln lag. Diese Winkel galt es zu erforschen, wie diese Höhle.
Es herrschte eine recht angenehme Temperatur hier drin, man war geschützt von Wind und Wetter. Bestimmt würde er in dieser Nacht weniger frieren. „Ich lasse dir einige Decken und den Schlafsack hier,“ sprach Frank. „Ich zeige dir jetzt noch die Umgebung. Komm!“
Sie verliessen die Höhle wieder. „Wir Lakota bleiben jeweils vier Tage und vier Nächte allein in der Wildnis, ohne zu essen und zu trinken. Doch da du kein Lakota bist, werden wir für den Anfang mit drei Tagen und zwei Nächten beginnen, in denen du aber ebenfalls nur wenig trinken, doch vor allem kaum etwas essen solltest. Es wird dir womöglich sehr lange vorkommen, doch es lohnt sich. Du wirst viele Antworten finden, lernen mit der Natur im Einklang zu leben und zum Grossen Geist zu sprechen. Es gibt einen kleinen Bach hier hinten!“ Er führte Marc um die Höhle herum und sie kamen zu einem Gebirgsbach, der ziemlich steil über die kahlen Felsen hinab floss. Etwas unterhalb des Plateaus auf dem sie sich befanden, hatte sich ein kleiner Zwischenbecken gebildet. „Dort kannst du dich gut waschen,“ sprach Weise Schlange. „Das Wasser ist ausserdem klar und sauber, man kann es ohne weiteres trinken. Es wird dir hier an nichts fehlen. Hier noch dein Proviant!“ Marc nahm den Beutel, den er ihm hinhielt mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Unsicherheit kehrte wieder zurück, jetzt da ihn sein Mentor endgültig verlassen wollte. „Wirst du wirklich immer in der Nähe sein?“ „Ja, aber Ziel ist es, dass du alleine klarkommst. Ruf mich also nur, wenn du wirklich in Not bist und ich bin zur Stelle!“ Er legte seinem Schüler noch einmal warm die Hand auf die Schulter. Toksa mein Junge, wir sehen uns in drei Tagen, sofern nichts dazwischen kommt.“ Dann drehte er sich um und entschwand Marcs Blick.