17. Kapitel
Blind vor Tränen, lief Nathalie aus der Siedlung heraus, hinaus in das vom Schnee weisse Grasland hinaus. Sie sah nicht mehr die Sonne, die sich in den tausenden von Schneekristallen mit herrlichem Glitzern brach. Sie sah nicht mehr den tiefblauen Himmel, der sich über ihr spannte und nicht mehr die Leute die ihren Weg kreuzten. Sie lief einfach und lief, bis ihre Lunge anfing zu schmerzen und sie sich keuchend gegen einen kahlen, schmalen Baumstamm lehnte, dessen dürftige Krone vom Wind zerzaust war. In ihrem Herzen klaffte ein tiefes Loch, dass sie glaubte nie mehr schliessen zu können. Jonathan hatte dieses Loch hinein gerissen, nur aus irgendwelchen dummen Ängsten heraus. Sie war so wütend auf ihn, so unglaublich wütend, dass er ihr das antat. Nur weil sie eine verdammte Animalriderin war und Marc ihre einstige grosse Liebe sein sollte! Dabei basierten all diese Geschichten nur auf Erzählungen, von irgendwelchen alten, vermutlich bereits senilen Männern. Sie schwankte zwischen Zorn und tiefstem Kummer.
Im einen Moment, war sie auf alles und jeden wütend und im anderen, spürte sie wie in ihr die Trauer bis ins Unerträgliche wuchs. Ein heiseres Schluchzen drang aus ihrer Kehle und sie liess sich am Baum entlang hinabgleiten, bis sie unter sich den kalten, nassen Boden spürte. Doch das war ihr egal, es spielte sowieso keine Rolle mehr. Am liebsten wollte sie gerade hier und jetzt sterben. Kein Licht mehr, erreichte im Augenblick ihr Gemüt und sie fiel in tiefste Schwermütigkeit. Die Kälte kroch in ihre Knochen, doch sie merkte nicht, wie ihre Zehen und Finger langsam zu Eis erstarrten. Sie umwickelte ihre Knie mit ihren Armen und schaukelte, gefangen in ihrer Not, auf und ab. Ja, sie wollte sterben! Warum auch nicht, dann musste sie sich wenigstens nicht mehr mit all diesen Animalrider Geschichten herumschlagen. Das alles hatte ja doch keinen Zweck. Jetzt da Jonathan sie auch noch verlassen hatte, hielt sie hier nichts mehr.
„Beim grossen Geist, takoza! Du erfrierst ja!“ hörte sie auf einmal eine weibliche, ihr sehr vertraute, Stimme. Im selben Moment legte jemand eine warme, wunderbar flauschige Decke um sie. Nathalie schreckte wie aus einem dunklen Traum hoch und erst jetzt spürte sie, wie die Kälte bereits ihren ganzen Körper durchdrang. Sie fing an zu schlottern und zog die Decke enger um sich. „Steh auf, steh auf!“ sprach die Stimme, welche sich nun als jene ihrer Urgrossmutter Mondblume entpuppte. „Du musst dich bewegen, das ist sehr wichtig!“ Mondblumes Stimme, klang resolut und zugleich zutiefst besorgt. Nathalie erhob sich und stöhnte schmerzvoll auf, als das Blut wieder durch ihre beinahe abgefrorenen Zehen zu zirkulieren begann. Ihre Urgrossmutter, massierte ihren Rücken, um zusätzlich Wärme zu erzeugen. Nathalie hüpfte auf der Stelle, bis langsam wieder Leben in ihre Füsse und Beine zurückkehrte. Die alte Frau nahm auch Nathalies Hände in ihre und rubbelte sie, bis auch diese wieder wärmer wurden. „Wir müssen so schnell als möglich zurück ins Dorf!“ Komm mein Kind! Komm!“ Die Indianerin, legte ihren Arm um Nathalie und führte sie zurück in die Stadt Pine Ridge.
Nathalie schaute tief bewegt in die Augen ihrer Urgrossmutter. „Du bist da? Du bist tatsächlich auf Besuch gekommen!“ „Ja, ich bin nur deinem Ruf gefolgt, ich weiss dass du in der Gestalt des Adlers bei mir warst.“ „Ich habe nicht selbst die Gestalt angenommen, aber ich bin mit dem Adler sozusagen gereist. Er wollte aber nicht zu nahe an dein Tipi. Er hatte zu grosse Angst.“ „Ach so, darum hat er auf einmal wieder gewendet! Tja, … so traurig es auch ist, die Tiere vertrauen uns Menschen leider schon lange nicht mehr. Sie haben zu viel Leid durch uns erfahren.“ Damit hatte Mondblume wohl recht. „Es waren übrigens auch die Tiere, welche mich zu dir geführt haben, mein Kind. Was ist bloss in dich gefahren, dich hier draussen fast zu Tode zu frieren. Hast du Todessehnsucht? „Ja… eigentlich schon,“ sprach Nathalie und erneut brannten Tränen in ihren Augen.
Die Indianerin schaute sie mitfühlend an und legte den Arm noch enger um sie. „Du kannst mir alles erzählen!“ Ja und das tat Nathalie auch, während ihr die Tränen über die Wangen flossen und dort, bedingt durch den eisigen Wind, kalte Spuren hinterliessen. „Ach, du armes Kind! Es ist kaum zu glauben, dass Jonathan so überreagiert. Das ist sonst doch nicht seine Art. Ich glaube wirklich, er war zu sehr von Ängsten getrieben. Ich werde nochmals mit ihm reden. Doch zuerst musst du dich erholen!“
Sie klopfte an die Tür eines ziemlich verrosteten Trailers, der am Rand der Siedlung lag. Eine ältere, ziemlich korpulente Frau öffnete. Sie war eher ärmlich gekleidet, trug ein rotes, schlabbriges Sweatshirt und dazu verwaschene Jeans. Ihre schulterlangen Haare, hingen in dünnen Fäden herab. Sie roch irgendwie nach Zigaretten und Alkohol. Als sie die beiden jedoch sah, begrüsste sie sie freundlich. Sie wandte sich an Nathalies Urgrossmutter, welche nun ebenfalls Alltagskleidung trug und sprach: „Mondblume, welche Freude, dass du mich besuchst!“ Die beiden wechselten einige Worte in Lakota und die Frau bat sie sogleich herein. In Englisch forderte sie Nathalie auf, sich neben den bereits aufgeheizten Holzherd zu setzen, um sich aufzuwärmen. Währenddessen setzte sie nach, traditioneller Art, Kaffee auf.
Gutmütig reichte sie der jungen Frau eine Tasse: „Das wird dich von innen heraus wärmen.“ Nathalie nickte voller Dankbarkeit und nahm die Emaille- Tasse, welche ihr die Frau reichte, entgegen. Erneut wechselten die beiden älteren Frauen einige Worte auf Lakota. Nathalie verstand nur wenig. Mitleidig blickte die Frau, welche sich Laura Buffaloheart nannte Nathalie an. „Es tut mir sehr leid. Wenn man eine grosse Liebe verliert, ist es immer sehr schwer. Ich weiss wovon ich spreche. Ich vermisse meinen Mann noch immer, der vor ein paar Jahren verstorben ist. Seit er von uns gegangen ist, ist es hier noch schwieriger geworden. Seither trinke ich oft etwas zu viel und ich rauche auch, besonders wenn ich angespannt bin und das ist fast immer der Fall. “
Als Laura vom Verlust ihres Mannes sprach, musste Nathalie schon wieder weinen. Laura tätschelte ihren Rücken. „Oh ja, du musst Jonathan sehr geliebt haben…“ Sie holte eine Flasche Whiskey, goss ein Glas ein und reichte es Nathalie mit den Worten: „Vielleicht hilft dir das ja ein wenig.“ Mondblume meinte ärgerlich: „Trinken ist doch keine Lösung! Genau daran kranken so viele unserer Brüder und Schwestern. Wir müssen uns wieder mehr auf unsere innere Kraft besinnen.“ „Ach Anne, oft ist das nicht so einfach wie es klingt!“
„Nur keine Angst Grossmutter!“ sprach Nathalie und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Der starke Alkohol brannte in ihrer Kehle, doch in ihrem Bauch breitete sich sogleich eine angenehme Wärme aus. „Ich werde schon nicht zur Alkoholikerin.“ Nach einigen Anfangsschwierigkeiten, leerte sie das erste Glas und verlangte dann von Laura ein zweites. Bereits etwas angetrunken, sprach sie: „Hach das tut gut. Mir ist schon viel wärmer und auch sonst fühle ich mich besser.“ Als sie sich jedoch noch ein drittes Glas einschenken lassen wollte, ging ihre Urgrossmutter dazwischen. „Nein, du hast jetzt genug gehabt! Wir sollten zu Wandernder Bär und den anderen zurückkehren. Sie machen sich bestimmt bereits Sorgen!“
Sie schob das Glas ausser Reichweite der jungen Frau und zog sie dann mit sich. „Danke Laura für deine Gastfreundschaft! Trink auch du nicht mehr zu viel, okay?“ „Ja, ich versuch‘s!“ gab die Angesprochene mit leicht schleppender Stimme zur Antwort. „Würde mich freuen, wenn ihr mal wieder vorbeikommt.“ „Das wird sich bestimmt bald wieder einrichten lassen, aber nun… muss ich zuerst dieses unglückliche Mädchen zurück bringen.“
„Viel Glück noch Nathalie!“ rief Laura ihnen hinterher. „Bestimmt wird alles gut!“ Nathalie, die leicht schwankend hinter Mondblume herging, hob noch einmal die Hand zum Gruss und rief: „Danke Laura und bis bald!“
Einige Zeit später, kamen Nathalie und ihre Urgrossmutter bei dem Haus von Wandernder Bär an. Tatsächlich war dieser bereits sehr besorgt und sehr froh, als Nathalie wieder daheim ankam. Snakeman war auch bei ihm. Beide begrüssten die beiden Frauen herzlich und Wandernder Bär, bot ihnen noch etwas von dem Eintopf an, den er gerade gekocht hatte. Erst jetzt merkte Nathalie welchen Hunger sie doch hatte. „Jonathan ist leider heute wieder sehr kurzfristig abgereist,“ sprach der alte Mann. Er meinte, er habe etwas Wichtiges zu erledigen und könne darum nicht mehr hier bleiben…“ Als er das sagte, brach Nathalie erneut in Tränen aus. Einen Augenblick lang, hatte sie das Gefühl gehabt, sich wieder etwas gefangen zu haben. Doch nun, da Jonathan so schnell abgereist war und seinem Vater scheinbar nicht mal erzählt hatte, dass er Schluss mit Nathalie gemacht hatte, brach der Kummer mit ganzer Macht über sie herein. Sie konnte sich kaum mehr beruhigen und William wusste gar nicht, was eigentlich los war.
Mondblume erklärte ihm in einigen knappen Worten, was sich zugetragen hatte.
Die Augen des alten Medizinmannes, weiteten sich erschrocken: „Er hat… Schluss mit Nathalie gemacht? Aber… Das hätte ich jetzt niemals erwartet!“ Nathalie funkelte ihn aus tränennassen Augen an. „Ach nein? Dabei warst du es doch, der ihm diesen Floh ins Ohr setzte, hinsichtlich meiner angeblichen Verbindung mit Marc. Ja, ich habe damals alles gehört, als du ihm die Beziehung mit mir, aus diesem Grunde, ausreden wolltest.“ „Aber, das habe ich nicht getan, das hätte ich niemals gewollt!“ „Und dennoch hast du ihn scheinbar so sehr verunsichert, dass er völlig durchgedreht ist, als er Marc sah. Danach hat er sich einfach aus dem Staub gemacht. Ihr… ihr könnt mich alle kreuzweise mit diesem Animalrider Gequatsche! Ich will gar keine von diesen Allessehenden sein! Man sieht ja, was es mir gebracht hat! Ich hätte niemals herkommen sollen. Ich will nichts mehr davon wissen!" Nathalie lief davon und schloss sich in ihr Zimmer ein.
„Wo sie recht hat, hat sie recht Will,“ meinte Snakeman ernst an ihn gewandt. „Du hast Jonathan scheinbar doch mehr beeinflusst, als du dachtest. Mit all dem Gerede der Verbindung zwischen diesem… Marc und ihr. Das war eigenmächtig und ziemlich ungeschickt. Denn was wissen wir schon wirklich? Es gibt so vieles, dass wir nicht wissen. Wir sehen oft nur die Spitze des ganzen Eisberges und wir sollten vorsichtig sein, mit dem was wir zu den, uns Anvertrauten, sagen.“ Wandernder Bär nickte bekümmert: „Ja Bruder, vermutlich hast du recht. Es war dumm von mir. Nun habe ich meinen Sohn und jene die mir wie eine Tochter ist, unglücklich gemacht. Das werde ich mir wohl nie verzeihen.“
„Das hilft uns jetzt auch nicht weiter. Wir sollten versuchen das Beste daraus zu machen,“ mischte sich Mondblume ins Gespräch. Vielleicht können wir Jonathan ja noch zu Vernunft bringen, bevor Nathalie wieder zurück in die Schweiz geht.“ „Wir können es versuchen, doch da sie bereits morgen Abend abreist, wird es ziemlich schwierig werden. Ausserdem…“ William blickte tief bekümmert „weiss ich nicht ob ich es dann nicht noch schlimmer mache. Vielleicht soll es ja so sein wie es ist, auch wenn es im Augenblick schrecklich sein mag.“ „Das kann auf keinen Fall so bestimmt sein!“ protestierte Mondblume. „Jonathan hat aus dem Affekt gehandelt, sein Kopf war nicht klar!“ sie machte eine drehende Bewegung auf Höhe der Schläfen „er… war nicht ganz bei Verstand. Das müssen wir ihm klarmachen! Ich werde zu Nathalie gehen und ihr beistehen."
Das tat Mondblume dann auch und mit ihrer Urgossmutter an ihrer Seite und der Gewissheit, dass Wandernder Bär versuchte Jonathan zur Vernunft zu bringen, liess Nathalie, sogleich als sie sich hinlegte einschlafen. Denn sie wusste ihre Urgossmutter war bei ihr und wachte über sie.