Die Höhle wirkte eigentlich ganz normal und war in sich abgeschlossen. Nichts deutete auf etwas Aussergewöhnliches hin, ausser ihre tief bewegende Atmosphäre. Nathalie schaute von hinten nun dem Wasserfall zu, welcher rauschend über den Eingang stürzte und blickte sich um. Auch hier gab es einige Moose und Pflänzchen, die nicht viel Licht brauchten. „Hier muss es sein!“ sprach der Geist der Krähe zu ihr. „Was denn?“ „Das weiss ich auch nicht so genau. Es sollte einen Zugang geben, aber dieser ist allein durch deinen Geist zugänglich. Du musst aus meinem Körper raus.“ „Aber, dann werde ich sogleich in meinen menschlichen Körper zurückgezogen.“ „Nicht, wenn du dich auf ein ganz besonderes Ziel fokussierst.“ „Aber ist das nicht gefährlich?“ „Ich werde mit dir kommen.“ „Du kommst mit mir? Also du verlässt deinen Körper auch? Aber woher kannst du sicher sein, dass es gut geht und wie sollen wir wissen, auf welches Ziel wir uns ausrichten sollen?“ Die Krähe sprach: „Du hast eine Frage in deinem Inneren, welche du beantwortet haben willst. Das spürte ich und darum hat mich ein besonderer Ruf, zu dir geführt. Weisst du welche Frage das ist?“ „Ja, ich möchte wissen, wann der Zeitpunkt kam, als sich meine Seele für Jonathan entschieden hat, auch wenn Marc einst mein Seelenpartner war.“ „Richtig und genau diese Frage, musst du ganz klar in deinem Geiste stellen und dich zu jenem Ort führen lassen, wo diese Antwort liegt. Diese Höhle hier, ist sehr geeignet, um sich zu fokussieren, denn sie ist ein Kraftplatz, ein Kraftplatz, dessen Energie uns zugleich auch beschützen wird. Willst du es also versuchen?“
„Irgendwie habe ich etwas Angst.“ „Fürchte dich nicht, ich werde dir helfen. Es ist mein Auftrag, denn der grosse Vater Krähe war es einst, von welchem ich und alle anderen meiner Art, einst abstammen. Vater Krähe war von Anbeginn der Hüter des geheimen Wissens. Er hatte jederzeit Zugang zu diesem Wissen und ich kann dieses Wissen auch wieder in mir wecken, ebenso wie du das alte Wissen wieder in dir wecken kannst, weil du eine uralte Seele bist.“ „Ich kann das kaum glauben. Ich fühle mich irgendwie gar nicht so. Ich fühle mich eher sehr schwach und unreif. Ich habe so viel Angst und falle viel zu schnell in eine depressive Stimmung.“ „Das ist, weil du in dir die tiefe Sehnsucht nach einer anderen Welt in die trägst, einer Welt die unvergänglich ist, einer Welt, wo alles wunderbar klar ist. Das ist verständlich. Ich bin sicher, du wirst es schaffen! Du wirst es schaffen, das Wissen zu erhalten, dass du dir tief in deiner Seele wünschst. So lass und also beginnen! Konzentriere dich ganz auf die Antwort, auf deine wichtigste Frage und dann lass dich führen. Geh so vor, wie vorhin, als du deinen menschlichen Körper verlassen hast, um in meinen Körper zu gelangen! Ich bin dicht bei dir, es kann nichts schiefgehen. Ich bin dein Totem, vertrau mir!“
Nathalie atmete tief durch und versuchte die Frage, die sie hatte, möglichst klar zu formulieren. Sie betete: „Grosser Geist, hilf mir die Antwort auf meine Frage zu finden! Hilf mir an den Ort zu gelangen, der mir diese Antwort gibt!“ Sie konzentrierte sich ganz intensiv darauf, und darauf den Körper der Krähe, wieder zu verlassen.
Es dauerte eine ganze Weile, doch schliesslich gelang es Nathalie tatsächlich, sich in einen so hohen Bewusstseinszustand zu erheben, dass sie einmal mehr einen sanften Ruck spürte und den Körper der Krähe gleich darauf verliess! Um sie herum veränderte sich alles! Die Umgebung schien nun von einem wundervollen Pulsieren und Leuchten erfüllt. Sie sah alle Lebensfunken, im Moos, in den Pflanzen, sogar die Steine lebten und der Wasserfall wirkte wie ein glitzernder, funkelnder Schleier aus winzigen, lichterfüllten Tröpfchen. „Schau hierher!“ vernahm sie auf einmal eine Stimme und dann erblickte sie den Geist der Krähe! Dieser wirkte nun weiss und transparent und auch in ihrem Inneren pulsierte der Lebensfunken. „Da bist du ja!“ rief Nathalie und sah sich ungläubig um. Und dann wusste sie, worauf die Krähe sie hatte aufmerksam machen wollen. Die hintere Wand der Höhle war nun seltsam transparent geworden zu sein und dahinter, schien sich etwas, noch Unbekanntes, zu befinden. Sie berührte diese eigenartige Wand, durch die man dennoch nicht hindurch sah. Diese erzitterte wie ein Vorhang aus Wasser, unter ihrer Hand und schlug leichte Wellen. „Hier müssen wir rein, hier bekommst du deine Antwort!“ sprach die Krähe und dann ging sie einfach durch den Vorhang hindurch und war verschwunden! Nathalie zögerte noch einen Moment, dann trat sie, mit den Händen vor sich ausgestreckt, ebenfalls durch den seltsamen Vorhang.
Ungläubig schaute sie sich um, ein unbeschreiblicher Anblick bot sich ihr hier dar. Es war, als wäre sie mitten hinein ins All getreten. Sterne und Planeten umkreisten sie. Es war ähnlich wie ein Planetarium, nur noch viel realer und sie fühlte sich eins mit allem, was um sie herum existierte. Eigentlich stand sie in einer Art Kuppel und doch auch wieder nicht. Der Boden unter ihr war fest und trotzdem, schien auch er Teil von diesem lebendigen, pulsierenden Universum zu sein. Nathalie erinnerte sich an den Traum zurück, in dem sie der grossen Krähe im Weltall begegnet war. Träumte sie wohl wieder? Nein, das hier fühlte sich ganz anders an! Die Krähe stand neben ihr und schaute unverwandt auf einen hellen Stern vor ihnen, der sich nun auf sie zuzubewegen schien. Je näher der Stern kam, umso mehr nahm er eine Form an. Der Form einer weiteren, jedoch noch viel leuchtenderen Krähe, welche nun zu ihnen herab geflogen kam.
In ihrem Schnabel trug sie eine uralte Schriftrolle. Sie landete nun vor ihnen und Nathalie wich zutiefst beeindruckt zurück. Diese Krähe war ungewöhnlich gross, etwa einen Meter hoch. Ihr Gefieder leuchtete in den Schattierungen verschiedenster Weisstöne und ein unglaublicher Präsenz, ein Strahlen, ging von ihr aus, dass Nathalie zutiefst bewegte. Und dann auf einmal erinnerte sie sich: „Vater Krähe…! Du bist es tatsächlich! Ich… erinnere mich an dich!“ „Suna! Welch eine Freude!“ erwiderte der mächtige Vogel und seine, wie helle Sterne, strahlenden Augen, musterten die junge Frau. „Du erinnerst dich auch an mich?“ „Ja, du weisst ja, ich habe Einblick in das Gedächtnis des Universums und bin auch Teil davon, darum weiss ich natürlich, wer du bist. Ich kenne alle die jemals lebten, ob Mensch, oder Tier und ich weiss all ihre Geheimnisse, Lehren und Gedanken. Freue dich Suna, ich bin hier, um dir eine Antwort auf deine Frage zu bringen und noch vieles mehr. Nimm diese Schriftrolle, sie beinhaltet wichtige Informationen.“ „Was denn für Informationen?“ „Sieh selbst! Wenn du die Schriftrolle entgegen nimmst, wird all ihr Wissen in deinem Inneren gespeichert werden. Oder viel mehr, wieder aufgefrischt, denn deine Seele weiss noch um alles, du kannst dich nur nicht mehr richtig erinnern. Alles wird sich danach für dich verändern.“
Die junge Frau zögerte einen Augenblick und schaute hilfesuchend zu ihrem Totemtier, das still neben ihr stand, herüber. Dieses neigte zustimmend das Haupt und sprach: „Tu es, es wird dir auf jeden Fall von grossem Nutzen sein!“ „Also gut.“ Nathalie trat ehrfürchtig zu der strahlenden Gestalt von Vater Krähe und nahm die Schriftrolle mit zitternden Händen entgegen und dann durchfuhr es sie eiskalt und zugleich glühendheiss! Die Worte, die in der Schriftrolle gestanden hatten, wurde augenblicklich Teil von ihr und sie erinnerte sich urplötzlich an alles. Gleich darauf fand sie sich in ihrem menschlichen Körper wieder und schreckte auf.