Ein Gefühl der Leere hatte Silvia erfasst. Und so Etwas, wie ein schlechtes Gewissen. Sollte Gerhard so krank gewesen sein? Hatte sein plötzlicher Tod etwas mit seinen immer wieder geäußerten Kopfschmerzen zu tun. Wenn sie gewusst hätte, dass er so krank ist, hätte sie ihm wohl mehr Geduld entgegen gebracht. Alles was sich neben ihr abspielte, nahm sie wahr, als liefe irgend ein Film neben ihr ab. Sie hörte die Wortfetzen und konnte sie nicht zuordnen. Die Apothekerin stand bei ihr, bei dem Sessel auf den man sie gesetzt hatte und redete auf sie ein. Der Notarzt gab ihr gerade ein Mittel zur Beruhigung, als die Leute vom Bestatter den Leichnam in einen Zinksarg legten und und eine Polizistin kam auf sie zu. "Frau Weber, es tut mir sehr leid für sie. Die Apothekerin sagte mir, Herr Wiegand sei ihr Freund gewesen?" Ohne aufzusehen nickte Silvia. Sie wollte jetzt nicht reden! Der Zinksarg wurde in den Leichenwagen geschoben und nun schlug der Schmerz erbarmungslos zu!
Dieses Bild hatte so etwas Endgültiges, dass Silvia hemmungslos zu weinen begann. Ein Häufchen Elend kauerte da in der Apotheke auf einem Stuhl und weinte zum Steinerweichen, geschüttelt vom Schmerz, Gerhard im Streit verlassen zu haben und vom Schmerz, nun für immer von ihm verlassen worden zu sein...
Die Polizistin gab es auf, mit ihr über den Hergang reden zu wollen und setzte Silvia in den Streifenwagen. Sie brachten sie zu ihrer Mutter, die ebenfalls aus allen Wolken fiel. Man riet ihr, sich ein wenig hin zu legen und die Beamtin anzurufen, wenn es ihr ein wenig besser ginge. Das Beruhigungsmittel begann nun Wirkung zu zeigen und Frau Weber setzte sich zu ihr an die Couch. Sie hielt die Hand ihrer Tochter und bedauerte, ihr nicht helfen zu können. Es war einer dieser Momente, die Jedem irgendwann in seinem Leben begegnen und ihm die absolute Hilflosigkeit demonstrieren, mit der man dem Schicksal oft gegenübersteht. Silvia hätte wirklich kein schlechtes Gewissen haben müssen, doch niemand hätte ihr das in diesen Stunden nahe bringen können. Sie hatte das Gefühl, Gerhard im Stich gelassen zu haben, ihm einfach zu wenig Verständnis entgegen gebracht zu haben und sie fühlte sich dafür mit seinem Tod aufs Grausamste bestraft...
Natürlich war das Unsinn, doch so ein Erlebnis prägt sich tief in das Gedächtnis eines Menschen ein und sie wusste, dass sie seinen Tod in ihren Armen ihr Leben lang vor sich sehen würde. Und zu allem Überfluss spürte sie, dass sie mit Sicherheit ein kleines Leben, ein Teil von ihm unter ihrem Herzen trug. Das kleine Würmchen würde seinen Vater niemals kennen lernen. Ruckartig richtete sie sich auf und versuchte an ihrer überraschten Mutter vorbei in die Toilette zu kommen, doch auf halbem weg übergab sie sich und zog eine Spur Erbrochenes hinter sich her bis zum WC. Dort fiel sie auf die Knie und kauerte vor der Klomuschel. Das arme Ding fühlte sich nur mehr schlecht... und schmutzig... und schuldig...