Der kleine Lichtschimmer, der aus seiner Wohnung kam, ließ ihn instinktiv nach seiner Waffe greifen. Er war sich sicher, dass er das Licht ausgeschaltet hatte, als er gegangen war. Langsam ging er zur Tür, schloss sie auf und öffnete sie leise. Der Ursprung des Schimmers lag in seinem Arbeitszimmer. Jemand musste da drin sein. Frank legte die Aktenmappe auf den Küchentisch, zog seine Pistole, entsicherte sie und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
„Lassen Sie diese Spielchen und kommen Sie endlich rein“, rief eine Männerstimme aus seinem Arbeitszimmer. Franks Atem stockte. War er in eine Falle getappt? Hatte er irgendeinen Fehler gemacht? Die Antworten auf seine Fragen würde er gleich bekommen. Er öffnete die Tür und betrat sein Arbeitszimmer. Sein Besucher hatte die Schreibtischlampe zur Tür gedreht und eingeschaltet, so-mit konnte Frank nicht erkennen, wer der nächtliche Besucher war.
„Ich habe Sie erwartet, Mister Enris“, begrüßte ihn der Mann, der am Schreibtisch saß. Frank blinzelte und versuchte vergeblich, etwas zu erkennen.
„Nehmen Sie die Waffe runter. Wenn ich hier wäre, um Sie zu töten, hätte ich das schon längst getan“, fuhr der Besucher fort. Frank steckte nach einem Moment des Zögerns die Waffe weg. Sein Besucher schaltete daraufhin das Licht aus und bot Frank die Möglichkeit, ihn zu mustern. Der Mann war groß und schlank. Obwohl Frank etwas kräftiger gebaut war als sein Gegenüber, wusste er, dass ihm der andere überlegen war. Wie Raubtiere belauerten sie einander; warteten nur auf einen Fehler des anderen, um ihn zu töten.
„Was wollen Sie?“, fragte Frank direkt heraus.
„Ich soll Sie abholen. Man will Sie sehen.“
„Wer? Caesar?“
Sein Gegenüber lachte leicht. „Ich glaube nicht, dass Caesar sich mit Ihnen unterhalten will, Mister Enris. Ich glaube eher, dass er Ihren Kopf auf einem Silbertablett serviert haben will. Nein, Yhtill will Sie sehen.“
Frank starrte den Besucher verdattert an. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Sein Besucher stand derweil in aller Seelenruhe auf und gab ihm mit einem Wink zu verstehen, ihm zu folgen. Frank folgte ihm gehorsam, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Lange nahm beiläufig die Aktenmappe mit und verließ Franks Wohnung. Schweigend fuhren Sie mit der großen Limousine des Langen durch die Straßen. Franks Gedanken drehten sich um das anstehende Treffen mit Yhtill. Was verschaffte ihm diese Ehre? Als er seinen Blick vom Seitenfenster löste und nach vorne blickte, sah er auch ihr Ziel.
„Neu-Babylon“, entfuhr es ihm. „Nicht ganz“, erwiderte der Fahrer gelassen und deutete auf den höchsten der Drillingstürme, die sich aus dem Stadtzentrum in den nächtlichen Himmel erstreckten.
Der Aufzug, den sie in der Tiefgarage betreten hatten, trug sie bis in das höchste Stockwerk. Leise öffneten sich die Türen und der Lange wies Frank an, weiterzugehen. Er würde ihn nicht begleiten und auch die Aktenmappe würde er nicht aushändigen. Frank wusste nicht, ob er darüber erfreut oder besorgt sein sollte. Er fühlte sich an Rattengesicht erinnert, nur, dass er dieses Mal in die Rolle des Opfers geschlüpft zu sein schien. Aber er hatte keine andere Wahl. Es bestand ja noch Hoffnung, dass der Lange kein Spiel mit ihm trieb und ihn wirklich zu Yhtill brachte.
Langsam trat er aus der Liftkabine und blickte den Langen so lange an, bis dieser hinter den sich schließenden Aufzugstüren verschwand und sich die Kabine wieder in die Tiefe bewegte. Etwas raschelte hinter ihm. Eine Frau war aus einer Tür getreten und kam auf ihn zu.
„Guten Abend, Mister Enris, es freut mich, Sie wohlauf zu sehen. Wie ich sehe, haben Sie Ihren Auftrag erfüllt.“
Frank erwiderte nichts, sondern musterte die Frau interessiert. Die hochgesteckten, dunkelroten Haare hoben sich von ihrer hellen Haut ab.
„Dürfte ich nach Ihrem Namen fragen, Miss? Ich weiß, dass es mir eigentlich nicht zusteht, aber ich unterhalte mich gerne auf Augenhöhe mit meinen Mitmenschen.“
„Natürlich dürfen Sie das. Nennen Sie mich Cassilda. Kommen Sie mit!“ Sie drehte sich um und verließ die große, runde Halle, um ihn in einen großen Garten zu führen. Frank sah sich mit großen Augen um. Es gab nur wenige, die den neuen Garten Eden gesehen hatten, aber seine Schönheit übertraf alle Gerüchte und Legenden, die über ihn im Umlauf waren. Der Duft der Blüten stieg ihm angenehm in die Nase und vertrieb den Gestank der Stadt.
Sie gingen einen kleinen Kiesweg entlang, bis sie an den Rand des Gartens kamen. Cassilda lehnte sich an das Geländer und wartete, bis Frank neben Sie getreten war. Unter ihnen erstrahlte die Stadt im Glanz ihrer Lichter, während über ihnen die Sterne funkelten.
„Sie wollten mich sprechen“, führte Frank das Gespräch fort.
„Ja, das wollte ich. Sie haben gute Arbeit geleistet, Mister Enris. Sehr gute Arbeit.“
„Danke, aber deswegen bin ich wohl nicht hier, oder?“
Er erhielt ein herzliches Lachen als Antwort. „Sie sind sehr ungeduldig, Mister Enris, wissen Sie das?“
„Ich muss zugeben, dass ich etwas nervös bin. Ich spreche nicht täglich mit Angehörigen von Yhtills Spitze.“
Ein spöttisches Funkeln schlich sich in ihre grünen Augen. „Was wissen Sie über Yhtill?“
„Nicht viel. Nur, dass es die älteste und größte Organisation in der Stadt ist.“
Wieder bekam er ein sanftes Lachen als Antwort. „Sie denken, Yhtill sei eine Organisation, welche die Stadt beherrschen würde? Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Yhtill beherrscht nicht die Stadt. Yhtill ist die Stadt.“
„Und Sie?“
„Ich? Ich bin eine von wenigen, die Yhtill kontrollieren. Uns entgeht nichts; selbst die Ratten in der Kanalisation werden von uns beobachtet und kontrolliert.“
„Und Caesar? Warum haben Sie überhaupt zugelassen, dass er an Macht gewinnt?“
„Konkurrenz belebt das Geschäft, Mister Enris.“
Das konnte er nicht abstreiten. Er beschloss, seine Chance zu nutzen und ein paar Antworten zu erhalten. „Und was werden Sie nun unternehmen?“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun angeblich sollen in der Mappe Dokumente sein, die Ihre Macht gefährden könnten. Sind Sie nicht besorgt, dass Caesar zu gefährlich werden könnte?“
„Caesars Organisation ist von unseren Agenten unterwandert und er weiß es nicht einmal. Sollte er wirklich eine Gefahr darstellen, wird er umgehend beseitigt. Er wird nicht wissen, was geschieht, wenn es soweit ist.“
„Und weswegen bin ich dann hier?“
„Ich möchte, dass Sie für mich arbeiten.“
„Für Sie? Oder für Yhtill?“
„Ich glaube, das spielt keine große Rolle.“
„Sie wissen wahrscheinlich, dass ich meine Freiheit genieße, oder?“
Cassilda lächelte ihn an. „Ihre Freiheit, Mister Enris, ist nicht das, was sie scheint. ‚Yhtills Wurzeln gehen tief.‘ Damit ist genug gesagt. Nehmen Sie das Angebot an?“
Frank dachte über die Situation nach und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Würde er annehmen, würde er seine Freiheit aufgeben, aber würde er ablehnen, würde er an die Polizei ausgeliefert werden oder so gut wie tot sein. Cassilda musterte ihn stumm und wartete auf seine Antwort.
„Sehr gerne, Miss Cassilda.“
Sie nickte nur, löste sich vom Geländer und ging zurück ins Innere der Kuppel. Sie führte Frank in ein großes Büro und wies ihn mit einer Handbewegung an, sich zu setzen. Sie selbst ging um den großen Schreibtisch herum und griff in eine Schublade, aus der sie eine kleine Aktenmappe hervorholte. Sie legte die Mappe auf den Tisch und schob sie zu Frank.
„Es gibt anscheinend eine neue Gruppe, die ihre Macht ausbreitet und wohl die Kontrolle übernehmen will. Bisher wissen wir nur sehr wenig darüber.“
Er griff danach und blätterte eine Zeitlang in der dünnen Aktenmappe. Verwirrt runzelte er die Stirn. „Sie wollen, dass ich eine Sekte infiltriere?“
Cassilda zuckte mit den Schultern. „Infiltrieren wäre wohl das falsche Wort. Besorgen Sie sich so viele Informationen wie möglich.“
„Haben Sie in etwa einen Ansatzpunkt?“
Cassilda wich zum ersten Mal seit ihrem Zusammentreffen seinem Blick aus. „Es geht das Gerücht um, dass das Zentrum der Gruppe sich in der alten Kathedrale in der Unterstadt befindet.“
Franks Kehle schnürte sich zu. Die Unterstadt war ein Ort, den selbst er mied. Und nun sollte er in die Höhle des Biests hineingehen, um dort nach neuen Informationen zu suchen? „Sie scherzen, oder?“, fragte er heiser.
„Nein, leider nicht“, sagte Cassilda seufzend. „Sie sind der einzige, dem ich in dieser Sache vertraue.“
„Warum gerade ich?“
„Nun, bei ihren früheren Aufträgen haben Sie stets die nötige Vorsicht und Diskretion walten lassen. Keine Zeugen, keine unnötigen Leichen, keine brauchbaren Beweise oder Spuren, die wir noch nachträglich verwischen mussten. Das sind Faktoren, die ich sehr schätze und die uns auch einiges an zusätzlicher Arbeit ersparen.“
Frank dachte angestrengt nach. „Bei wem muss ich mich melden, wenn ich genug Informationen gesammelt habe?“
„Direkt bei mir.“
„Und wie kontaktiere ich Sie?“
Cassilda gab ihm eine Visitenkarte, auf der eine Telefonnummer stand. „Rufen Sie diese Nummer an, damit erreichen Sie meinen persönlichen Assistenten.“
Frank steckte die Visitenkarte ein und erhob sich. „Ich melde mich, sobald ich fertig bin“, sagte er und wandte sich zum Gehen.
„Tom wird sie nach Hause bringen. Und passen Sie auf sich auf“, rief ihm Cassilda nach.