Logbucheintrag 2-78999-532
An Bord der Astéri X-3Zweite Zeitperiode des fünften Pentaphobs
892. Tedradeka
800 Lichtjahre von der Erde entfernt.
Eigentlich ist das hier kein Logbuch. Nicht im Entferntesten. Ich glaube die Menschen haben das hier vor unzähligen Pentaphobs als Tagebuch bezeichnet. Die Menschen damals haben nämlich in Tagen gezählt und wenn sie festhalten wollten, was sie erlebt haben, dann haben sie das in einem Tagebuch getan. Zumindest habe ich das im Unterricht gelernt. Das hier ist also eigentlich ein Tagebuch. Obwohl auch das nicht ganz zutrifft. Die Tagebücher früher sind nicht wie die Bücher heute. Genauso wie die Menschen der Erde nur noch wenig mit den Menschen zu tun haben, die seit Beginn der neuen Zeitrechnung von Sonnensystem zu Sonnensystem reisen. Ihre Bücher sind so merkwürdig. Es gibt einen Sektor auf dem Schiff indem Relikte aus alten Tedradekas gelagert werden. Auch Bücher. Sie fühlen sich ganz anders an als unsere Bücher. Sie bewegen sich nicht, weder die Bilder noch die Schrift und sie bestehen tatsächlich aus Papier. Papier! Das gibt es ebenso lange wie den Planeten Erde nicht mehr. Bücher sind verrückt: Wenn man in ihnen blättert, sich also die einzelnen Seiten ansieht, dann steht in ihnen immer das Gleiche. Egal wie lange man sie anschaut. Und Bücher riechen. Sie haben einen ganz eigentümlichen Geruch. Er ist nicht zu beschreiben, weil es nichts Vergleichbares an Bord der Astéri gibt. Und ich habe auch noch keine Planeten und keine Kolonien in diesem Sonnensystem gesehen, die einen Stoff oder eine Substanz mit ähnlichem Duft beherbergen. Er ist einzigartig. Ich mag ihn. Jedenfalls ist ein Buch daran schuld, dass Jasper und ich die nächsten Deka-Ten die Kommandobrücke putzen dürfen. Wenn Jasper nicht so besessen von der Geschichte unserer Vorfahren wäre, dann hätten wir deutlich weniger Ärger. Nun und weniger Abenteuer.
„Avery, du musst dir ansehen was ich gefunden habe!“
„Wenn es der Keks ist, den du vor Ewigkeiten verloren hast, will ich ihn nicht sehen.“
„Mach dich nicht lächerlich, Mann. Den hätte ich schon längst gegessen, wenn ich ihn wiedergefunden hätte. Schau dir dieses Buch an!“
„Oha, weiß dein Dad das du schon wieder eines der Relikte eingesteckt hast? Du weißt noch, was es beim letzten Mal für einen Ärger gab, oder?“
„Ja, kriege dich ein. Dieses Mal lege ich es zurück, bevor er es merkt. Ehrlich.“
„Schon klar, wie immer. Zeig her, was hast du gefunden?“
Weihnachten. Jasper hat ein Buch mit einer Beschreibung des Weihnachtsfestes gefunden. Ich hätte nicht fragen sollen. Wirklich nicht. Das wäre so viel einfacher gewesen. Aber ich habe gefragt und er hat erzählt. Weihnachten muss für die Menschen früher ein sehr, sehr wichtiger Tag gewesen sein. Vielleicht sogar einer der wichtigsten in ihrer Zeitrechnung, die in Jahren stattgefunden hat. Weihnachten wurde also jedes Jahr gefeiert. Ich habe nicht genau verstanden warum. Wegen irgendeines Kindes? Wegen eines komischen Mannes in rotem Gewand mit langem weißen Rauschebart? Keine Ahnung. Aber ich habe verstanden worum es ging. Um Familie. Um Geborgenheit. Um Beisammensein und um Liebe. Na und um Geschenke. Aber ich glaube das war mehr so eine Art Bonus. Ich meine, eigentlich klingt das alles ja auch echt nett. Aber wenn Jasper sich etwas in den Kopf gesetzt hat werden die meisten Dinge die ‚nett‘ klingen wirklich furchtbar.
„Du, Avery?“
„Ja?“
„Du weißt, in ein paar Stunden kommen wir auf dem Planeten Págos an …“
„Und?“
„Wir machen da ja eine längere Pause, ein paar Stunden, Proviant aufladen, wichtige Triebwerkteile besorgen und so ‘n Zeug. Mein Dad sagte das braucht ein bisschen …“
„Okay, Jas. Komm zum Punkt.“
„Der Planet ist voller Eis und Schnee und du hast das Buch doch gelesen, zu Weihnachten hat Schnee gelegen und-“
„Also, wenn ich mich recht entsinne stand da bloß, dass Schnee liegen konnte. Weil Weihnachten zu einer, wie nennt sich das gleich, Jahreszeit gefeiert wurde, wo das Wetter eben kühler war.“
„Wie auch immer. Du hast auch die Bilder gesehen! Ich will das wir das auch machen?“
„Was? Es in der Asterí schneien lassen?“
„Nein, du Snorblers. Ich will Schneemänner bauen. ‘Ne Schneeballschlacht machen. So ein Zeug halt“
„Hey, ich bin kein, ach vergiss es. Ich kriege dich nicht davon überzeugt, dass das eine blöde Idee ist, oder?“
„Oh, komm schon Avery. Du bist mein bester Freund!“
„Schon gut, schon gut. Ich bin doch sowieso dabei.“
Nun, bis dahin war ja eigentlich auch alles noch in Ordnung. Ich kann Jasper aber auch echt keinen Wunsch abschlagen. Wir sind Freunde seit ich zurückdenken kann. Eigentlich sind wir mehr als das. Wir sind wie Brüder. Eine Familie. Wir machen praktisch alles zusammen. Allerdings hat der Planet Págos so seine Tücken, weshalb wir - als Zivilisten - die Asterí gar nicht verlassen dürfen. Die Bewohner sind, nun ja, fremden nicht immer ganz wohl gesonnen. Aber sie würden niemals 'Nein' zu einem guten Deal sagen und sie können einfach alles in dieser Galaxie auftreiben. Nun ja, jedenfalls haben wir uns also, kaum das Commander Hayes – Jaspers Vater – von Bord war, auch heraus geschlichen. Schließlich habe ich Jasper versprochen das wir Schneemänner bauen. Außerdem ist der Planet selbst ja nicht allzu gefährlich. Im Gegensatz zu so einigen anderen im All. Streng genommen ist er dem ehemaligen Planeten Erde sogar ziemlich ähnlich. Er hat sogar die gleiche Atmosphäre. Allerdings besitzt er keine Klimazonen. Es herrscht ewiger Winter, wie die Menschen früher zu sagen pflegten. Unser Ausflug war also soweit ganz cool. Ich gebe zu, Schneeballschlachten machen echt Spaß, obwohl ich glaube, dass es noch cooler gewesen wäre, wenn wir Stella, Grace und Max mit raus genommen hätten. Das wäre sicher der Hammer gewesen. Aber die drei sind, nun ja, weniger abenteuerlustig als Jasper und ich. Und Max pflegt immer zu sagen, dass ich mir mit Jaspers Aktionen – an denen ich nie ganz unbeteiligt bin – irgendwann meine Karriere als Pilot kaputt machen werde. Egal. Das war echt gut und die drei haben definitiv etwas verpasst. Wären wir nach diesem Ausflug auch direkt an Bord zurückgekehrt, dann hätte wohl niemand außer den dreien je von unserer Aktion erfahren. Aber wie Jasper nun einmal ist, auf eine dumme Idee folgt die nächste. Deshalb sind wir natürlich nicht zum Schiff zurückgekehrt, sondern haben uns auf den Weg Richtung Hauptplatz gemacht. Ich zitiere: "Also wenn man schon mal die Gelegenheit hat sich Págos genauer anzusehen, dann sollte man das doch auch tun.“ – Im Nachhinein lautet die Antwort ‚Nein‘. Nein, das sollte man nicht. Zu spät.
„Wow, die ganzen Stände hier. Ich habe noch nie so einen großen Markt gesehen. Ist das nicht cool? Hey, das ist fast wie der Weihnachtsmarkt in dem Buch!“
„Ehm … ich glaube wir sind auf dem Schwarzmarkt gelandet, Jasper. Das hat nicht im Geringsten etwas mit einem Weihnachtsmarkt zu tun.“
„Du bist so ein Spielverderber.“
„Hast du dich mal umgesehen. Siehst du wie uns die Págosianer ansehen? Die würden uns am liebsten häuten und vier teilen.“
„So ein Quatsch. Solche Praktiken wenden sie nur bei Schwerverbrechern an. Außerdem sind das doch nur Gerüchte. Somís, die man Kindern erzählt. Das weiß doch- oh Wahnsinn, sieh mal da drüben!“
„Wo?“
„Da vorne der Händler. Der mit intergalaktischen Wesen aus allen Sonnensystemen wirbt. Das ist doch, … das ist eine Katze, Avery! Eine echte Katze, wie von der Erde.“
Nun ich bin mir nicht mehr ganz so sicher, ob unser pelziger, neuer Freund wirklich eine Katze ist. Oder Kater. Er sieht zwar danach aus, aber seine telekinetischen Fähigkeiten …, darüber habe ich jedenfalls noch nichts gelesen. Egal. Im dunkeln Käfig sah die Fellnase tatsächlich genauso aus wie eine Katze von der Erde. Und seitdem wir im Terrakunde Unterricht von diesen Tieren gehört haben, ist Jasper völlig vernarrt in sie. Na ja und da waren wir gerade mal sechs. Spätestens also als er in die tiefgrünen Augen der Katze gesehen hat war mir klar, dass wir ein echtes Problem haben. Mit Págosianern zu handeln ist ohnehin schon eine Kunst, aber mit Págosianern zu handeln, wenn du ihnen eigentlich nichts anzubieten hast, das ist ein glatter Selbstmord. Wie gesagt, sie sind einem nicht gerade freundlich gesinnt. Ihre riesigen gelben Augen scheinen dich immer zu verfolgen und die großen, spitzen und trichterförmigen Ohren hören alles. Bei Wut färbt sich ihre sonst blaue Haut tiefrot und dann solltest du schleunigst deine Beine in die Hand nehmen und laufen. Sie sind durchweg keine besonders sympathischen Zeitgenossen, aber das hat Jasper ja noch nie davor bewahrt eine Dummheit zu begehen. Das Ende vom Lied? Wir wurden von zwei - verdächtig nach Bodyguards aussehenden - Págosianern aus dem Zelt geworfen, mit der klaren Anweisung uns nie wieder Blicken zu lassen, wenn uns unsere Klauen lieb sind. Banausen. Wir haben Hände. Diese kleine Tatsache habe ich dann aber doch lieber für mich behalten. Ich stelle mich ja die meiste Zeit über wenig geschickt an, aber ich weiß zumindest wann ich besser den Mund halten sollte. Ganz im Gegensatz zu Jasper.
„Boah, was ist denn bloß falsch mit diesen Págosianern? Man kann ja wohl ein bisschen freundlicher sein, oder nicht?“
„Du hast den págosianischen Händler von vorne bis hinten belogen. Was dachtest du denn, wie der reagiert? Mit ‘nem freundlichen Händedruck? Was hattest du überhaupt vor?“
„Trotzdem, kein Grund gleich so aggressiv zu werden. Außerdem dachte ich mir, dass uns sicher etwas einfällt, wenn ich ihn etwas hinhalte.“
„Uns? Ihn hinhalten? Okay, Jasper. Lass uns zurückgehen. Echt. Die Luft hier bekommt dir nicht. Vielleicht ist die Atmosphäre hier doch nicht so gut für uns Menschen.“
„Nein.“
„Wie ‚Nein‘?“
„Du hast doch gesehen, wie unglücklich die Katze in dem engen Käfig war. Darin kann sie sich ja nicht einmal ausstecken. Das ist doch Quälerei. Außerdem kannst du es als weihnachtliche Nächstenliebe sehen. Die Katze braucht ein richtiges Zuhause.“
„Unglücklich? Bei aller Liebe, du hast doch noch nie zuvor eine echte Katze gesehen, woher willst du da wissen, wie eine unglückliche Katze aussieht? Und außerdem sind uns die Hände gebunden. Was willst du machen? Den Págosiander bestehlen? Dann können wir gleich anfangen unser eigenes Grab zu schaufeln. Lass uns gehen. Und höre bitte endlich mit deinem Weihnachtsmist auf.“
„Bitte, Avery!“
„Oh, nein. Komm schon. Nicht dieser Blick! Das ist echt unfair.“
„..“
„Ich hasse Weihnachten und wir werden dabei draufgehen.“
Kleiner Newsflash: Wir leben noch. Aber es war echt knapp. Also wirklich verdammt knapp. Schon mal eine Prügelei unter Págosianern als Ablenkung angezettelt? Nein? Ist auch echt nicht empfehlenswert. Wir wollten wirklich nur einen kleinen Streit, damit der Händler im Zelt und seine zwei Schränke vielleicht dazu animiert werden aus ihrem Zelt hervorzukommen und wir ein paar Minuten haben um vielleicht diesen verdammten Käfig aufzubekommen. Ja, fast. Am Ende hat sich fast die gesamte Markthalle geprügelt und wir haben den Käfig natürlich nicht aufbekommen. Da wir das ganze Chaos aber ja schon angezettelt haben, – und weil Jasper echt verzweifelt war – habe ich mir kurzer Hand den ganzen, verdammten Käfig unter den Arm geklemmt und wir sind auf und davon. Ich meine, wenn wir so einen Scheiß schon abziehen, dann muss es sich ja auch lohnen, oder? Okay, das habe ich jetzt nicht geschrieben. So schnell bin ich zumindest noch nie zuvor in meinem Leben gerannt, also wenn Max jemals noch einmal sagt, mir fehle es an Fitness. Kaum hatten wir uns allerdings zurück an Bord der Astéri geschlichen, erwartete uns das nächste Problem. Und ich rede nicht von dem Übel, dass wir ja auch noch irgendwie den Käfig der Katze aufbekommen mussten, die zu diesem Zeitpunkt schon kläglich zu mauzen begonnen hatte. Ich wusste schon in der Sekunde in der ich Stellas Blick aufgefangen habe, dass wir erledigt sind. Auch wenn wir in der Markthalle ja noch einmal davon gekommen waren. Stella meinte nur Commander Hayes würde uns seit mehr als sieben Minuten auf der Brücke erwarten. Natürlich haben wir ihr erst einmal die Katze anvertraut. Der Blick hätte uns beinahe getötet. Aber ich glaube sie hat es irgendwie schon geahnt. Also dass wir schon wieder Mist gebaut haben. Sie hat das Tier dann wortlos mit in ihr Zimmer genommen. Dafür lieben Jasper und ich sie. Sie stellt niemals fragen. Sie vertraut uns einfach. Tja, von Commander Hayes kann man das nicht gerade behaupten.
„Was habt ihr beide euch dabei eigentlich gedacht? Habt ihr überhaupt eine Sekunde nachgedacht? Ich bin maßlos enttäuscht von euch!“
„Aber Dad …“
„Nichts, Dad. In diesem Fall Commander. Ich meine, eine Massenschlägerei, Jasper? Ein entwendetes intergalaktisches Wesen? Wir mussten unsere geschäftlichen Verhandlungen abbrechen. Wir reisen sogar früher als geplant ab und ich bin mir nicht sicher, wann wir uns wieder auf Pagós sehen lassen können. Du weiß genau wie dieses Volk ist. Seid ihr beide eigentlich noch zu retten?“
„Gibt es dafür überhaupt Beweise?“
„Ich bitte dich, Jasper. Ich brauche wirklich keine Beweise um zu wissen, dass mein Sohn an dieser Misere beteiligt war.“
„Also gibt es keine Beweise?“
„Frag ja nicht so hoffnungsvoll, Avery. Ich habe wirklich gedacht, du würdest meinen Sohn ein wenig unter Kontrolle halten.“
„Es tut mir Leid, Sir.“
„Oh, Dad. Bitte. Es war nicht Averys Schuld.“
„Das habe ich auch nie behauptet.“
„Außerdem gibt es keine Beweise. Ich kenne dich, wenn es welche gäbe, dann wärst du in ganz anderer Stimmung.“
„Jasper, lass es gut sein. Bitte.“
„Dein Freund hat vollkommen Recht, junger Mann. Sei lieber still. Wie redest du eigentlich mit mir?“
„Ich bin Sechzehn, Dad“
„Und du benimmst dich wie ein fünfjähriger. Grundgütiger. Natürlich gibt es keine Beweise und ich werde euch sicher nicht ans Messer liefern, aber ich weiß doch genau, dass ihr etwas damit zu tun habt. Es ist unglaublich, dass ich euch keine fünf Minuten aus den Augen lassen kann. Zu Strafe werdet ihr die nächsten drei Deka-Ten die Kommandobrücke putzen.“
„Die nächsten drei Deka-Ten? Du kannst uns doch nicht für etwas bestrafen, wofür es keine Beweise gibt. Außerdem sind zum Putzen doch die Roboter da!“
Manche Dinge sollte man einfach nicht zu früh sagen. Keinen Augenblick später ist Stella mit der Katze auf den Arm auf der Brücke erschienen und meinte unser neuer Freund habe merkwürdige Fähigkeiten. Denn plötzlich war das Schloss des Käfigs offen. Nun, da Stella den lebenden Beweis für unsere Schuld praktisch vor Commander Hayes Nase hielt, kamen wir um die Putzstrafe nicht mehr herum. In Anbetracht der Tatsachen kann ich damit aber gut leben. Man hätte mir auch die weitere Flugausbildung untersagen können. Oder noch schlimmer: Küchendienst. Außerdem mag ich unsere kleine, weiße Fellnase. Wir haben ihn „Christmas“ getauft. Wenn wir dann so alle zusammen auf der Couch im Aufenthaltsraum sitzen, Christmas schnurrt und wir eine Tasse heißen Kaftó trinken, bilde ich mir manchmal ein, wir säßen vor einem brennenden Kamin und ich denke an Weihnachten.