Kapitel 2: Ria
Das Korsett schnürte Ria fast die Luft ab, doch sie hielt sich aufrecht und lächelte zu den Witzen, die die Männer machten. Sie saßen auf bequemen Hockern oder lagen auf niedrigen Liegen, während sie tranken und vorgaben über die Probleme in Grüneneb zu diskutieren. Die Frauen dagegen saßen zu ihren Füßen, dienten als Schmuckstücke und lachten über alles, was die Männer sagten. In ihren engen Oberteilen und weiten Röcken, die sie kunstvoll auf dem Boden ausbreiteten, sahen sie auch eher wie Puppen aus, und Ria wurde sich mal wieder unangenehm bewusst, dass auch sie in so einem Aufzug steckte, doch den Männern gefiel es. Nun gut, man konnte es verstehen, das Korsett war so eng geschnürt, dass es an der Taille hauteng war und der Brust kaum Platz ließ, während die langen Röcke alles andere verdeckten und noch Raum für Fantasie liesen.
Ria stand hinter dem Stuhl von Fürst Senion von Raja-Grüneneb, hatte einen Arm locker über dessen Lehne gelegt und versuchte höflich zu verhindern, dass der alte Mann sie auf seinen Schoß zog. Der Fürst von Grüneneb hatte wahrscheinlich früher sehr attraktiv ausgesehen, mit seinem ehemals goldenem Haar und all den Muskeln, doch durch die lange Zeit des Regierens und das Alter war sein Haar grau und sein Körper weich geworden. Die anderen Männer im Raum, alles Angehörige des Hochadels, konnten vor lauter Wein nicht mehr gerade sitzen, geschweige denn stehen. Sie lallten, lachten durcheinander und in ihren Bärten hatte sich Schaum und Lippenstift verfangen.
„Komm her meine Schöne“, brachte Senion zwischen zwei kräftigen Schlucken hervor und griff mit seinen dicken Fingern nach Rias Taille. Sie bewegte sich blitzschnell, zu schnell für den Fürsten, dessen Hände ins Leere griffen. Immer noch lächelnd schluckte Ria ihre Abscheu runter und beugte sich zu dem Mann hinunter, dessen Augen vom Alkohol nur noch stumpf zu ihr hinauf blickten.
„Verzeiht mein Fürst, ich sollte euch wohl nicht von euren Aufgaben ablenken, das Schicksal eines Landes liegt in euren Händen.“ In den Händen eines faulen und perversen Idioten, fügte sie in Gedanken hinzu und ging auf den Speisewagen zu, um unter dem Vorwand sich neuen Wein zu nehmen, etwas Abstand von den gierigen Händen Senions zu bekommen. Der Fürst versuchte noch etwas zu sagen, doch er lallte derart, dass man kein Wort verstehen konnte. Ria schloss die Augen und sagte sich: „Erfülle deinen Auftrag, erfülle den Auftrag der Institution!“
Ria hatte den Auftrag bekommen die Pläne des Fürsten zu enthüllen doch das hatte sie schon längst getan, also was sollte sie noch hier? Senion war nicht nur abhängig von Wein und Frauen, er war auch machthungrig und wollte unter allen Umständen König werden. Natürlich müsste er dafür über Leichen gehen, viele Leichen, doch das scherte ihn nicht. Aus diesem Grund veranstaltete er auch immer wieder diese Treffen, um Macht und Einfluss zu gewinnen, Freundschaften zu pflegen und Feinde zu beobachten. Wenn man sie fragen würde, so würde Ria vermuten, dass der Thron für Senion nur ein Ersatz war, um über seine Unfähigkeit Söhne zu zeugen hinweg zukommen.
„Hey Weib, zier dich nicht so vor dem Fürsten, hast doch nichts zu verstecken!“ rief einer der Betrunkenen und kam mit lüsternem Blick auf sie zu getorkelt. Rias Augen wurden schmal, doch ihr Lächeln blieb freundlich. Alles andere wäre für eine Frau unschicklich gewesen, und wie sehr sie es sich auch manchmal wünschte, aber sie durfte diesen Mann nicht töten, auch wenn sie es mit einer Hand gekonnt hätte ohne auch nur einen Schritt zu tun. Für diese Männer musste sie die junge Hofdame Riane bleiben und sie hatte den Auftrag alles zu tun um diese Tarnung zu erhalten.
Zu ihrem Glück, vielleicht auch zum Glück des betrunkenen Mannes, stand nun eine andere Person auf, die noch bemerkenswert nüchtern war und das ganze Spektakel beobachtet hatte. Er griff nach dem Arm des Betrunkenen und hielt ihn höflich, aber bestimmt zurück.
„Entschuldigt unseren Freund meine Schöne. Der Wein scheint ihm nicht wohl zu bekommen, sodass er Manieren und Anstand vergisst.“ Er schenkte Ria ein gewinnendes Lächeln, das bestimmt jede andere Frau verzaubert hätte, doch Ria wurde diese Schwäche schon früh in ihrer Ausbildung ausgetrieben. Der Betrunkene wollte anscheinend noch etwas unfreundliches erwidern, doch als er sah, dass der Fürst mittlerweile ein anderes Mädchen auf seinem Schoß hatte, mit dem er sich amüsierte, ließ er es bleiben und kehrte zu seinem Glas zurück. Dabei schwankte er bedenklich und fiel eher auf seine Liege, anstatt sich zu setzen.
Natürlich wusste Ria, um wen es sich bei den Männer handelte, sie musste schon in ihrer Kindheit alle Fürsten und hochadeligen Personen auswendig lernen und beschreiben können. Bei dem betrunkenen Mann handelte es sich um Niel von Raja, einem Cousin des Fürsten, bei dem Anderen um Fürst Dalibor von Darid-Kalatas.
„Ich danke ihnen Fürst Dalibor, ich stehe wohl in eurer Schuld“, bedankte sie sich leise und musterte ihn. Er sah so aus wie sie ihn sich beim Lernen vorgestellt hatte, nur eben älter. Er war ein großer Mann mit braunem Haar, der soweit sie sich erinnerte 35 sein musste.
„Eine so schöne Frau sollte man angemessen behandeln, findet ihr nicht auch?“
„Danke für die netten Worte, Männer mit Ehre und Anstand werden immer seltener.“ Ria neigte leicht den Kopf und verließ leise ohne ein weiteres Wort den Raum. Aus Senion würde sie heute keine Informationen mehr bekommen, er war zu sehr mit den Mädchen beschäftigt und solange sie sich nicht zu ihnen gesellte, und das würde sie niemals tun, nur wenn es nicht absolut erforderlich wäre um den Auftrag zu erfüllen, würde er ihr auch keine Aufmerksamkeit schenken. Er hatte schon oft versucht sie in sein Bett zu locken, doch sie hatte jedes Mal höflich abgelehnt. Vermutlich war sie die erste Frau gewesen, die das je gewagt hatte, weshalb er auch nicht aufhörte sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Für ihre Arbeit war das nützlich, doch für ihre Nerven war es wie Gift. Sie hasste es immer zu lächeln, hilflos zu wirken und die Männer um sich herum zu bejubeln, selbst wenn die sich nur aus dem Bett erhoben oder es schafften sich allein ihren Becher zu füllen. Doch die Institution hatte es befohlen, und Ria hatte zu gehorchen. Sie war eine Spionin, eine Aniji, und musste ihre persönlichen Gefühle verdrängen um einem höheren Zweck zu dienen, der letztlich vielen unwissenden Menschen das Leben rettete. Wenn sie also das Bett mit diesem stinkenden Idioten von Fürsten teilen musste, um das zu erreichen, würde sie es tun. Ihr wurde ohnehin ihr Leben lang beigebracht, dass Liebe nur eine Illusion war, die aus reinem Egoismus und dem Wunsch nach körperlicher Nähe und Fortpflanzung resultierte. Sie brachte einen dazu gegen seine Prinzipien zu verstoßen und unüberlegt zu handeln, wer sollte schon so etwas wollen? Die Liebe war nur eine Art vorrübergehende Geisteskrankheit, etwas das Heilung bedurfte. Man musste auf seinen Verstand hören, nur dadurch konnte man richtig handeln. Wenn es den Zielen der Institution diente jemanden zu verführen, so würde sie es tun, selbst wenn es der Fürst war.
Würde Senion König werden, würde das Reich eine dunkle Zeit erleben. Zunächst musste der König sterben, vielleicht noch der Kronprinz. Danach würde es zu einem stillen Krieg zwischen den niederen Adelsfamilien geben, wer von ihnen zum Hochadel ernannt wird. In dieser Zeit hätte Grüneneb keinen Herrscher wodurch es keine geregelten Wachen oder Bestrafungen mehr geben würde, wodurch die Kriminalität enorm ansteigen würde. Die Menschen wären nicht mehr sicher und noch bevor der neue König seinen Schwur geleistet hätte für das Volk zu sprechen, wären viele Menschen tot, was zu Zweifeln am System führen würde, zu Umsturz und so weiter.
Ria schüttelte den Kopf, solche Dinge mussten verhindert werden, und diesem Ziel zu dienen war ihre Aufgabe, da durfte sie sich nicht wie eine verwöhnte Göre zieren, wenn sie mal ein paar Stunden lächeln und enge Kleider anziehen musste, andere Menschen hatten es so viel schwerer.
Die Sonne war schon längst untergegangen, doch der Mond und die Fackeln beleuchteten den Weg vor ihr. Auch ohne diese Lichtquellen hätte sie fast so gut gesehen wie am Tag, doch es war dennoch einfacher. Sie lief nicht den direkten Weg zurück in ihre Räume, sondern ging noch durch die Rosengärten und den Palast, um die Beine nach dem langen still stehen zu bewegen.
Es war schon viel Zeit verstrichen, als sie hinter sich im Gang Schritte und heftiges Atmen hörte. Für normale Menschen wären diese Geräusche nicht wahrnehmbar gewesen, aber Rias Ohren konnten die leisesten Dinge wahrnehmen, wie zum Beispiel das Rascheln des Stoffes, den ihr Verfolger trug. Er hörte sich schwer an und war dementsprechend teuer gewesen. Die Schuhe verrieten, dass es ein Mann war und das Atmen, dass er nicht in Form war. Es war unwahrscheinlich, dass es sich um einen dicken, reichen Auftragsmörder mit Schnallenschuhe handelte, weswegen sie gelassen blieb, sich an die Wand lehnte und kurz die Augen schloss um sich zu konzentrieren. Die Schatten an den Wänden breiteten sich aus und umarmten sie mit dunklen Armen, um sie vor fremden Augen zu verstecken. Dies war auch eine Fähigkeit, die Ria so nützlich für die Institution machte, auch wenn das Verschmelzen mit den Schatten nicht vollkommen unsichtbar machte.
Ein paar Augenblicke später kam Fürst Senion von Raja-Grüneneb vorbei und stütze sich mit einer Hand an der Wand ab. Sofort ließ Ria ihre Schattentarnung fallen, es geschah nicht oft, dass man den Fürsten ohne Gefolge antraf. Dazu noch betrunken, was seine Zunge sicher gelockert hatte, vielleicht gab es noch Annahmen, dass Senion etwas plante, von dem sie nichts wusste, vielleicht war sie deswegen noch in Ukoon.
„Mein Fürst“, begrüßte ihn Ria und machte einen eleganten Knicks. Senion lächelte breit um kam ein paar Schritte auf sie zu, doch durch ihre außergewöhnlich starken Sinne konnte Ria dennoch die Mischung aus Wein und Schweiß riechen.
„Meine bezaubernde Riane, es ist mir wie immer eine Freude euer Gesicht zu sehen, auch wenn es im Moment, wie ich zugeben muss, schwer zu erkennen ist.“ Ria lächelte, Senion war gerade nüchtern genug, um klar denken zu können aber nicht genug, um über seine Worte nachzudenken bevor er sie aussprach. Eine perfekte Gelegenheit zu einem kurzen Verhör. Sie trat einen Schritt näher auf ihn zu, damit er ihr Gesicht besser sehen konnte, sein Lächeln wurde breiter und auch er kam noch ein bisschen näher. Sie wusste um die Ausstrahlung, die sie auf die Männer hatte und Senion war keine Ausnahme. Sie waren alle ganz entzückt von ihrer schlanken Taille, hellen Teint und Haarfarbe und den großen blauen Augen. Auch den Fürsten von Kalatas hatte sie damit verzaubert ohne es zu wollen, das konnte sie deutlich in seinen Augen sehen. Andere haben es schlechter als du, sagte sich Ria innerlich und schenkte Senion ein betörendes lächeln. Schon in den ersten Tagen hatte sie gelernt, dass es am einfachsten war etwas von dem Fürsten zu erfahren, wenn man ihn verführte und ihm das Gefühl gab mächtig zu sein.
„Und es ist für mich auch immer wieder einer Freude euch allein anzutreffen.“
„Ach ja? Meine Gemächer habt ihr nicht einmal aufgesucht um mich allein anzutreffen.“
Ria lächelte herausfordernd. „So etwas schickt sich auch nicht für eine ehrbare Frau, mein Fürst. Ihr und ich, allein in euren Räumen? Was soll man nur von uns denken? Was würde eure Frau sagen?“ Senion lachte und schlang seine Arme um ihre Taille, vergnügt, da er dachte Ria überrascht zu haben. Natürlich hatte sie es kommen sehen, seine Bewegungen waren durch den ganzen Wein langsam und schwerfällig geworden und ihr hier, in einem menschenleeren Gang nahe zu sein, war für den Fürsten die uneingeschränkte Bestätigung. Dennoch heuchelte sie einen überraschten Gesichtsausdruck vor: „Nicht so stürmisch!“ Sie lachte noch ein helles Lachen, nur um ihn vollkommen gefangen zu nehmen.
„Wer könnte nur schlecht von euch denken? Und was meine Frau betrifft, die Hebamme meint sie würde ein Mädchen bekommen, obwohl sie es natürlich bestreitet. Was soll ich mit einer weiteren Tochter? Aber bei dir… du würdest mir einen Sohn schenken, ich weiß es.“ Senion grinste sie anzüglich an, nicht das ein anzügliches Grinsen, die ganze Situation noch anzüglicher machen konnte.
„Ich werde nicht eure Mätresse sein und meine ganze Zukunft für eine Nacht opfern“, nach kurzem Ringen mit sich selbst fügte sie noch hinzu, „Selbst nicht für eine Nacht mit euch.“ Es war ihr schleierhaft wie er die Lüge in ihren Worten überhören konnte.
Die letzten Worte nuschelte sie aber nur noch da der Fürst seine gierigen Lippen schon auf ihre drückte. Ria sah es als echten Beweis ihrer Hingabe an das Volk von Kronland und die Institution, dass sie das über sich ergehen ließ, ohne ihm einen Dolch in den Hals zu rammen, und den Kuss sogar zu erwidern. Das stachelte den Fürsten zwar noch mehr an, aber nach einiger Zeit konnte sie sich von ihm lösen. Es war nicht der erste Kuss den sie ihm gegeben hatte, dazu war sie schon zu lange hier und wenn sie nicht ab und zu nachgegeben hätte, hätte er sie sicherlich weggeschickt, wodurch sie die Institution enttäuscht hätte. Aber waren es vorher immer nur kleine kurze Küsse gewesen, von denen sie sich schnell zurückziehen konnte, aber jetzt hielt sie ihn mit großer Mühe zurück.
„Mätresse? Ich könnte dich zu meiner Königin machen.“ Damit begann Senion sie wieder zu küssen, auf Wange, Mund und Stirn... was Ria Zeit gab über ihre nächsten Worte nachzudenken.
„Königin? Ihr wärt sicher gut als König geeignet, das Reich würde unter eurer Macht eine wahre Blütezeit der Freude und des Reichtums erleben.“ Senion ließ kurz von ihr ab, um ihr in die Augen zu blicken.
„Doch“, sprach Ria weiter, „Die Dramang-Familie ist euch im Weg, nicht wahr?“ Sie spielte gerade mit dem Feuer, das wusste sie, und Senion wusste das auch. Selbst im berauschten Zustand würde er nicht jedem seine geheimen Pläne verraten, denn bei allem schlechten, was Ria von ihm hielt, konnte man nicht sagen, dass Senion unvorsichtig wäre, ganz im Gegenteil. Man musste ihm leider zugestehen, dass er ein großes Talent für Intrigen und Pläne hatte, verfeinert mit dem seltenen auftretenden Talent vernünftige Entscheidungen zu treffen. Ria konnte sehen, wie sein benebelter Vertsand arbeitete und zunehmend klarer wurde.
„Passt auf was ihr sagt, für solche Aussagen sind schon welche am Galgen gelandet.“
„Aber ihr würdet mich doch nicht verraten. Ich will euch doch nur unterstützen", erwiederte Ria mit einem weichen Augenaufschlag. Hinter Senions Augen arbeitete es immer noch und er musterte sie nicht mehr lüstern sondern begutachtete sie mit einem abschätzigen Blick. Ria gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange und blinzelte ihn unterwürfig an.
„Ich möchte helfen“, Ria hoffte er wäre nun endlich bereit zu erzählen was er wusste, sonst müsste sie noch einen Schritt weiter gehen, um ihn von ihrer Treue zu überzeugen.
„Ihr wärt tatsächlich eine gute Königin. Es tut mir leid, aber es gibt nichts was ihr tun könntet, meine Probleme lassen sich nicht mit Worten lösen.“
Nun war es an Ria den Fürsten abschätzig zu betrachten. Er war nicht mehr weit davon entfernt ihr alles zu erzählen, nicht mehr weit davon entfernt sie damit von diesem Auftrag zu befreien. In ihrem Kopf machte sich einen Idee breit, die sowohl gefährlich als auch leichtsinnig war. Sie hatte zwar das Talent dazu die Macht der Überzeugung zu nutzen, aber bisher hatte sie es noch nie auserhalb der Ausbildung getan, das war eher die Aufgabe der Beobachter. Wenn sie es falsch anging, konnte sie Senion jede Selbstständigkeit nehmen und sich selbst erheblich schaden, doch wenn sie es richtig tat, würde sie jede Antwort bekommen, nach der sie verlangte.
Noch immer sah der Fürst sie nachsichtig an, und Ria erwiederte seinen Blick mit höchster Konzentration.
„Was sind das für Probleme?“, fragte sie langsam und betonte jede einzelne Silbe.
Senions Augen weiteten sich für einen Moment, wurden dann aber trüb und stumpf. Er sackte fast in sich zusammen, sodass Ria ihn notgedrungen stützen musste. Sie wusste welch unsichtbare Schlacht gerade zwischen ihrer Macht und seinem Verstand statt fand, die Frage war nur wer gewinnen würde. Wenn er zu willensstark war oder gelernt hatte, wie man sich vor solchen Attacken schützte, würde Ria entweder zusammen brechen oder er würde seinen Verstand verlieren. Ria spürte wie ihre Konzentration und ihre Kräfte nachließen, ihre Beine anfingen zu zittern und ihr kalter Schweiß auf die Stirn trat.
Doch nach ein paar weiteren, anstrengenden Augenblicken, konnte Ria endlich spüren, wie der Schutzwall um Senions Verstand wie Staub zerfiel und sie ihm endlich ihren Willen einflößen konnte.
Langsam und monoton, als sei er sich immer noch nicht sicher ob er es wirklich erzählen sollte, sagte er: „Zerian von Abal, ein Hochadeliger aus Nahnhafen. Er vertritt kuriose Ansichten, zum Einen, einen Rat aus Nichtadeligen, der sich an der Regierung beteiligen soll. Zudem kommt noch, dass er gehört hat, wie ich mit einem Vertrauten über meine Pläne gesprochen habe König zu werden, wenn er jemanden davon berichtet, werde ich unter Umständen meinen Status als Hochadeliger und Fürst verlieren.“
„Was sind das für Pläne?“ Rias Kräfte schwanden zunehmends und es fiel ihr mittlerweile schwer selbst auf den Beinen zu bleiben, geschweige denn den Fürsten aufrecht zu halten.
„Den Mord am König. Ich stehe in Verbindung zu jemandem, der am Königshof arbeitet. Gegen die richtige Summe würde er mir bei meinen Plänen behilflich sein. Wenn aber in der nachfolgenden Abstimmung nur der Verdacht aufkommt, dass ich etwas damit zu tun hatte, werden sich die restlichen Fürsten niemals gegen das Recht des Kronprinzen aussprechen. Doch vorher muss ich meinen Status noch weiter ausbauen.“
„Wie ist der Name eures Verbündeten?“ So langsam wurde Ria schwindelig und ihr Blut rauschte in den Ohren, fast überhörte sie die Antwort des Fürsten, der danach zusammenbrach.
„Was zur Korthai war das gerade?“, stöhnte er und fuhr sich zitternd durch das lichter werdenede Haar. Ein paar weitere Stränen lösten sich und fielen von dem Fürsten unbemerkt auf den kalten Steinboden Ria kniete sich neben ihn und schluckte schwer. Sie hatte ihm zu viel zugemutet, sodass sein Körper innerhalb der letzten Minuten um Jahre gealtert war. Seine Wangen schienen nur noch schlaff nach unten zu hängen, seine Augen wurden von dunklen Ringen umrandet und sein Atem ging nur noch stoßweise.
„Ist alles in Ordnung? Senion? Verzeiht, ich meinte euer Gnaden“, fragte Ria mit nur teilweise gespielter Sorge. Er würde sich nicht an die Befragung erinnern das wusste sie, aber besorgt war sie trotzdem, auch um seine Gesundheit. Solche Prozeduren konnten jemanden dauerhaft schädigen oder stark verwirren. Was hab ich mir nur dabei gedacht, fragte sich Ria, wenn ich ihn nachhaltig geschädigt habe, habe ich nicht nur meinen Auftrag verdorben, sondern auch das Gleichgewicht in Kronland innerhalb von wenigen Momenten zerstört.
Der Fürst lag immer noch auf den Knien und lehnte sich erschöpft an Ria, die beruhigend einen Arm um ihn schlang.
„Riane… was….was ist passiert?“, er brachte nur noch einzelne Wörter hervor.
„Ihr habt fürchte ich, zu viel Wein genossen, wer weiß, vielleicht werdet ihr noch krank. Könnt ihr kurz allein bleiben? Dann suche ich eine Wache, die euch in euer Zimmer bringt. Und spart euch diesen Blick mein Fürst. Ich komme nicht mit, dazu seid ihr zu erschöpft.“ Ria wollte schon aufstehen doch Senion hielt sie schwach am Arm fest und schüttelte den Kopf. Es wäre einfach gewesen ihn abzuschütteln, doch sie war ernsthaft besorgt, was auch dem Fürsten nicht entging. Was würde eine Frau tun, die keinen Mann allein hochheben und zu seinem Zimmer tragen kann? Fragte sich Ria und stöhnte innerlich auf.
„Wachen!“, rief sie mit gespielter Panik, „Wachen kommt schnell, der Fürst…!“
Ihr letzter Satz ging in dem Donnern herannahender Stiefel unter und wenige Augenblicke später waren drei kräftige Männer zur Stelle die sich neben sie knieten. Ria erklärte ihnen, dass er zusammengebrochen war und gab ihnen die Anweisung den Fürsten auf sein Zimmer zu tragen und den Arzt zu rufen. Auch seine Frau wurde gerufen und nach kurzer Zeit lag der Fürst stöhnend in seinem Bett, an einer Seite den Hofarzt, an der anderen seine laut weinende Frau, die seine Hand hielt. Sie war hochschwanger, vielleicht Anfang zwanzig und spielte die Rolle als besorgte Ehefrau nahezu perfekt. Nur die bösen Blicke, die sie Ria manchmal zuwarf zeigten ihre wahren Gedanken. Ihr war nur zu bewusst, dass ihre Ehe mit dem Fürsten und all der Reichtum und Komfort nur davon abhing, ob sie einen Sohn oder eine Tochter bekam. Bei einem Sohn müsste sie sich keine Sorgen machen, Senion würde sie auf Händen tragen und sich nie wieder, oder nur noch gelegentlich, anderen Frauen widmen. Bei einer Tochter würde sie in eines der Landgüter von Senion abgeschoben werden und binnen eines halben Jahres keine Fürstin mehr sein. Im Bereich der Scheidungsprozeduren und den damit zusammen hängenden Gesetzten war Senion ein wahrer Meister. Bis zum Zeitpunkt der Geburt aber hatte sie keinerlei Einfluss auf ihr Schicksal, und konnte nichts anderes machen, als allen Hofdamen böse Blicke zuzuwerfen und zu hoffen, dass sie nach der Geburt noch die Gelegenheit bekam, ein zweites Mal schwanger zu werden. Ria beobachtete die Frau traurig, für sie gab es wenige Dinge, die so schlimm waren wie zur Untätigkeit gezwungen zu sein.
Sie selbst stand entgegen ihrem Vorhaben am Fußende des Bettes und sah den Fürsten besorgt an. Nach einer Ewigkeit war der Arzt mit seiner Untersuchung fertig und erklärte, dass der Fürst nur an einer abrupten Entkräftung litt, eine oft auftretende Nebenwirkung von den Strapazen des Regierens. Ria seufzte erleichtert auf und die Fürstin weinte Freudentränen und warf sich auf die Brust ihres Mannes der kurz aufstöhnte. Respektvoll verließen die meisten Wachen, der Arzt und Ria das Zimmer um dem Ehepaar Zeit für sich zu lassen.
Ria kehrte in ihre Räume zurück und ließ sich dort erschöpft auf das Bett fallen, auch für sie war die Befragung kräftezehrend gewesen und ihre Glieder konnten nicht aufhören zu zittern. Mit ihren letzten Kräften wand sie sich aus dem Kleid und schlief entkräftet ein.
Die nächsten Tage verbrachte Ria noch immer in Sorge. Eine andere Person zu überzeugen, wie sie es bei Senion getan hatte, konnte auch Nachwirkungen haben, die nicht direkt auftraten, weshalb sie umso besorgter wurde, als der Fürst die ersten drei Tage keinem seiner politischen Geschäfte nachging. Die Gäste die zuvor angereist waren, reisten wieder ab, dabei auch der Fürst von Kalatas. Dafür wurde die Fürstin fast nur noch in ihren Gemächern und bei den Priestern gesehen, ein Zeichen dafür, dass die Geburt immer näher rückte und damit auch der lang ersehnte Prinz. Wochenlang würde man die Geburt des neuen Erben feiern, bei einer Prinzessin höchstens eine paar Tage. Tage, in denen, der Fürst sich vor allem betrinken würde und mit jeder Frau schlief die er fand, außer mit seiner Ehefrau. Ria wusste was sie getan hätte, wenn sie die Fürstin gewesen wäre, aber sicherlich wäre sie nicht zu den Priestern gerannt, um göttlichen Beistand zu empfangen oder in heiligem Wasser zu baden. Angeblich wollte sie das Kind sogar darin zur Welt bringen. Ria schüttelte sich, eine Geburt war etwas, was sie niemals erleben wollte und zum Glück musste sie das auch nicht. Sie war zwar nicht wie die Freudenmädchen unfähig Kinder zu bekommen, aber es gab dennoch Mittel und Wege eine Schwangerschaft zu verhindern wenn man es wollte.
Ria hing diesen Gedanken nach und spazierte dabei über die Burgmauer, von der man das Nebelmeer sehen konnte, und genoss die warme, salzige Luft.
„Frau Riane, der Fürst wünscht euch zu sehen“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr, und sie drehte sich ruckartig um. Normalerweise hörte sie die Menschen noch bevor sie sie sah. Ich werde unvorsichtig, bemerkte Ria verstimmt und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Besitzer der Stimme. Es war ein gewöhnlicher Diener, der in der Hitze schwitzte und sie gelangweilt anstarrte. Schon sein Geruch nach Schweiß und Minze, die er kaute, hätten ihn ankündigen müssen. Sie nickte ihm zu und er drehte sich um und führte sie zu dem Fürsten. Als ob ich es nicht allein gefunden hätte, dachte sie genervt, folgte ihm aber ohne Wiederrede.
Fürst Senion von Raja-Grüneneb erwartete sie in seinen persönlichen Räumen und stand mit dem Rücken zu ihr gewandt aufrecht im Zimmer. Unwillkürlich spannte Ria ihre Muskeln an und verengte die Augen, inständig hoffte sie, dass der Diener bleiben würde, aber das war natürlich nicht der Fall. Auf ein Winken des Fürsten verbeugte der sich tief und verließ umgehend das Zimmer, um den Fürsten und Ria allein zu lassen. Sicherlich war es kein seltener Befehl von Senion an den Diener, eine Frau zu ihm zu bringen und dann zu verschwinden. Ria drehte sich fast der Magen um. Nun drehte sich auch der Fürst zu ihr um und betrachtete sie neugierig bis sie, entgegen ihren Empfindungen, einen eleganten Hofknicks machte und seinen Blick erwiderte.
„Warum so schüchtern meine Schöne, komm näher.“
Langsam ging sie ein paar Schritte auf ihn zu, als er ihr seine Hand entgegen streckte, machte sie unwillig noch ein paar Schritte, bis sie ihm ihre Hand reichen konnte. Das hier konnte nicht wirklich gut ausgehen. Vor ein paar Tagen, war es einfach gewesen den Fürsten einzuschätzen und zu kontrollieren, jetzt war er aber nüchtern, zumindest größtenteils, und er hatte sie bewusst zu sich gerufen. Was hat dieser versoffenen Irre nur vor?
Senions Hand war warm und verschwitzt, während seine Augen sie mit einem starren Blick durchbohrten.
„Soweit ich mich erinnere, haben wir vor meiner Krankheit darüber gesprochen, dass ihr mich nie besuchen kommt obwohl ihr so gerne mit mir allein seid?“
„Erinnert ihr euch auch an meine Antwort? Ich werde nicht eure Mätresse sein.“
Ria hielt es für besser ihre Antworten kurz zu halten, und den Fürsten sprechen zu lassen. Am liebsten hätte sie ihm ihre Hand entrissen, aber sie blieb pflichtbewusst wo sie war, darauf bedacht ihm nicht in die Augen zu sehen.
„Habt ihr das? Ja ich erinnere mich nur grob, der Rest von diesem Abend ist leider in dicken Nebel gehüllt.“ Er küsste ihre Hand, sie musste den Reflex unterdrücken die Hand wegzuziehen, sowie das Verlangen ihn aus dem Fenster zu werfen, als er ihr noch ein Stück näher kam.
Andere haben es schlechter, dachte sie wieder und machte sich die Wichtigkeit ihrer Aufgabe bewusst.
„Meine Frau bekommt in den nächsten Wochen unser Kind, wisst ihr?“ Senion wirkte nachdenklich, „Wenn ich noch eine Tochter bekomme habe ich den Beweis, dass ich verflucht bin. Verflucht oder zu Höherem berufen.“ Er zog sie noch enger an sich und sah sie eindringlich an. Ria erwiderte den Blick ohne Furcht und antwortete nachdenklich: „Zu Höherem berufen?“
Senion lachte auf, „Vielleicht habe ich auch einfach die falsche Frau? Wer weiß, vielleicht will Elador, dass mein Erbprinz von einer würdigen Gattin ausgetraegen wird.“
Ria wollte etwas erwidern, doch der Fürst erstickte ihre Widerworte, indem er ihr seinen schwammigen Finger auf die Lippen drückte.
„Vielleicht hat es auch etwas zu bedeuten, dass ihr die einzige Frau seid, die sich mir verweigert?“ Er küsste sie sanft auf die Wange, wobei Ria versuchte sich ihm zu entwinden, doch der Fürst hielt sie unnachgiebig fest an sich gedrückt und ignorierte ihren Protest. Sie hätte ihm zwar den Arm brechen können, doch wäre das sicher kein damenhaftes Benehmen gewesen.
„Keine Angst Riane. Ich beginne zu begreifen, dass ihr es seid, für die ich bestimmt bin. Ich kann jede Frau bekommen außer euch, ihr seid es bei der ich Schwäche zeige und zusammenbreche und ihr ward auch die einzige an meinem Bett in deren Augen ich echte Sorge sehen konnte. Wir sind füreinander bestimmt. Bestreitet es nicht.“
Ria war nun wirklich erstarrt. Seine Ehefrau hatte noch nicht einmal das Kind geboren, und schon umwarb der Fürst eine neue Frau. Das Lösen von Problemen war dankenswerterweise Teil ihrer Ausbiildung gewesen, nungut, es hatte sich damals eher auf Situationen bezogen, wie man zum Beispiel aus einem brennenden, fensterlosen Raum entkommt, aber die Situation in der sich Ria im Moment befand, war ihrer Meinung nach genau so gefährlich. Was waren ihre Möglichkeiten? Ihn töten? Das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Aus dem Zimmer fliehen? Das wäre keine ungewöhnliche Reaktion für eine junge, unschuldige Hofdame, die mit der Situation nicht umgehen konnte. Die letzten Möglichkeiten wären noch, zu bleiben und auf das ganze Spiel einzugehen oder zu bleiben und sich aus der ganzen Geschichte rauszureden. Nie und nimmer, würde sie dem Fürsten ihre Liebe vortäuschen, am Ende hielt er noch um ihre Hand an. Die Institution wäre bestimmt erfreut, wenn die Fürstin von Grüneneb eine Makeii wäre. Sie musste Zeit schinden, oder den Fürsten zumindest ablenken.
„Ich weiß nicht ob ich das richtig verstehe, ihr seid verheiratet, erwartet vielleicht einen Sohn. Es kommt mir unvernünftig vor eine treue Ehefrau und ein Kind zu verstoßen, um mit einer Hofdame ohne Namen zusammen zu sein.“
„Die Liebe ist unvernünftig.“
Oh Nein, dachte Ria, Sprich es nicht aus, lass mich einfach gehen.
„Ich bin kein Freund der Unvernunft.“
„Und ich bin bereit, die Vernunft zu Gunsten der Liebe zu opfern. Ihr könnt mir nichts vorspielen, Riane. Und wenn ihr nicht auf mich hören wollt, so hört doch wenigstens auf die Zeichen die uns Elador geschickt hat.“
„Mir missfällt die Vorstellung, dass ein göttliches Wesen bereits mein ganzes Leben geplant hat, ich bestimme es lieber selbst. Gebt mir Zeit über eure Worte nachzudenken, es ist eine wichtige Entscheidung die ich treffen muss.“
„So viel Zeit wie ihr wollt. Doch hört auf euer Herz, es wird euch den richtigen Weg zeigen.“
Senion ließ sie los, nachdem er abermals ihre Hand geküsst hatte und ohne sich noch einmal umzudrehen verließ Ria den Raum. Vor der Tür blieb sie stehen, atmete tief durch und wischte sich mit dem Ärmel Mund und Gesicht ab, die Hälfte davon war mit Senions Speichel überzogen.
Ohne zu wissen wohin sie überhaupt lief kam sie nach einiger Zeit in ihrem Zimmer an, wo sie sich auf das Bett fallen ließ und sich die Augen rieb. Wie konnte Senion nur von Liebe sprechen? Wie konnte ein Mann wie er überhaupt über solche Dinge sprechen ohne dass dem Heuchler die Zunge abfiel?
Ein schrilles Kreischen riss sie aus ihren düsteren Gedanken und lenkte ihren Blick zum Fenster. Dort saß ein sandfarbener Vogel mit krummen Schnabel, gelben Augen und weißen Schwanzfedern. Ein Wüstenfalke. Freude und Furcht ergriff sie, nur die Institution benutze diese Tiere zur Überbringung von Nachrichten, sie waren eine der schnellsten Vogelarten, dazu noch in den meisten Gebieten gut getarnt und an fast jedes Wetter optimal angepasst. Erst vor zwei Tagen hatte sie einen Brief an die Institution geschickt, in dem sie von Zerian von Abal berichtete. Eine so schnelle Antwort hätte sie nicht erwartet. Behutsam ging sie auf den Vogel zu, der hinein flatterte, sich auf der Stuhllehne niederließ und ihr erwartungsvoll sein Bein entgegenstreckte, an dem ein zusammengerollter Brief befestigt war. Erwartungsvoll öffnete sie ihn, insgeheim in der Hoffnung den Fürsten zu verlassen, um sonst wo hin zu gehen.
Aniji,
ihr Bericht beweist die Informationen, die wir bereits hatten. Zerian von Abal hat sich von der Tradition abgewendet und stellt ein Risiko da. Seine Ansichten sind radikal und könnten zu einem Aufstand führen, wenn er die Gelegenheit bekommt sie an die Öffentlichkeit zu bringen. Er soll demnächst als Richter eingesetzt werden, da der Stadtherr von Nahnhafen bedauerlicherweise nichts von seinen Vorstellungen weiß, und auch nicht sicher belegt ist, ob er dem Einhalt gebieten würde. Zerian von Abal ist ein mächtiger Mann, dem es nicht schwer fallen würde Anhänger um sich zu sammeln.
Daher sehen wir uns dazu gezwungen einzuschreiten. Führen sie Befehl 72 aus. Diese Aufgabe hat momentane Priorität, führen Sie sie diskret aus. Ein Taju wird sie erwarten.
Nahnhafen, Südviertel
Nok Aniji
Befehl 72. Ria nickte nur, das bedeutet sie sollte Zerian von Abal leise und diskret töten, dafür vielen ihr mehrere Methoden ein. Verschwinden, Erstechen, Ersticken, Vergiften, Erschießen, Selbstmord... Die genaue Vorgehensweise konnte sie später festlegen.
Unterschrieben war der Brief von Nok Aniji, dem Schattenmeister und benutzt hatte er ihre offizielle Bezeichnung, Aniji, Schatten. Ria musste unwillkürlich lächeln. Sicher, ein Mord war an sich nichts erfreuliches, doch sie verstand warum Zerian sterben musste. Ein Mann mit solchen Ansichten durfte nicht das empfindliche Gleichgewicht von Kronland stören und tausende Menschen in das Verderben stürzen. Dennoch war es schön wieder einen richtigen Auftrag zu bekommen, der ihre Fähigkeiten benötigte. Ihre richtigen Fähigkeiten, kein herumsitzen oder lächeln. Verflucht noch mal, dachte sich Ria, Ich bin eine Kämpferin. Solche Aufträge sollte man mir geben und kein beobachten oder so ein Kram. Ja natürlich, auch das ist von Bedeutung, Informationen sind die besten Waffen, aber dennoch…
Einzig der Taju machte ihr zu schaffen. Taju war das alte Wort für Auge und die Bezeichnung für die Beobachter, die mit Hilfe ihrer Kontakten über die Machtverhältnisse im Land informierten und den Spionen, den Schatten, halfen eine Rolle in der Gesellschaft anzunehmen. Beobachter waren meist hochrangige Personen, die sich aber exzellent auf die Überzeugung und das Durchschauen von Personen verstanden. Etwas vor ihnen zu verbergen war nahezu unmöglich.
Sie seufzte und hielt den Zettel in die Kerze bis sie nur noch Staub in den Händen hielt. Die einzige Frage war nur, wie sie aus Ukoon kam ohne das Senion sie zurückhielt und ihr, einer Frau von neunzehn Jahren, seine Liebe schwor. Dieser Mann war einfach lächerlich. Als ob sie, Ria, sich in einen Mann verlieben würde, der mit Anfang fünfzig alt genug war um ihr Vater zu sein. Doch die Liebe ist unvernünftig, dachte sie wieder an Senions Worte zurück und schüttelte den Kopf. Morgen sollte sie am besten aufbrechen, schließlich sollte sie den Auftrag so schnell wie möglich erledigen und je früher sie ging, desto früher bekam sie einen neuen Auftrag.
Eine Reise nach Nahnhafen, dauerte mit dem Schiff einen halben Tag. Das bedeutete wenn sie morgen früh aufbrach, würde sie schon am Nachmittag dort sein. Vielleicht schaffte sie es noch am selben Tag den Auftrag zu erledigen und in der Nacht wieder nach Ukoon zu segeln, so wäre sie schon übermorgen wieder zurück. Mit etwas Glück würde niemand ihr Verschwinden bemerken und wenn doch könnte sie sagen, sie sei einen Tag in der Stadt gewesen. Ein guter, wenn noch nicht ausgearbeiteter Plan. Aber nun zur Frage, wie sollte Befehl 72 ausgeführt werden? Leise lächelnd ging sie auf leisen Sohlen zu ihrer Kommode und kniete sich davor. Nach kurzer Zeit hatte sie auch schon das schmale Holzkästchen darunter hervorgeholt, wo es mit Wachs an der Unterseite festgeklebt worden war. Die Wahl die sie zu treffen hatte war eigentlich schon längst gefallen. Sie würde die geheimste aller Waffen verwenden, Gift.
In der Holzschachtel bewahrte sie ihre eigenen Gemische auf. Gifte die einen Mann innerhalb von Sekunden töteten, andere setzten sich im Körper fest und töteten erst nach Monaten, während ein einziger Tropfen schon zehn Männer töten konnte. Daneben lagen auch winzige Pfeilspitzen und ein Blasrohr. Der Pfeil würde sich nach weniger Zeit selbst auflösen, während das Opfer noch nichts von seinem Schicksal wusste. Fast schon wurde Ria Sentimental als sie daran zurückdachte wie sie die Pfeile selbst hergestellt und das Blasrohr geschnitzt hatte.
Nach einiger Überlegung nahm sie das Blasrohr, zwei Pfeile und drei verschiedene Gifte mit. Eines war weiß, sah aus wie mit Wasser verdünnte Milch und tötete innerhalb weniger Stunden, früher wenn das Opfer sich körperlich anstrengte. Es war nicht nachzuweisen, außer man schnitt das Herz oder die Augen auf, denn beides war von innen leicht grün geworden. Das andere Gift war zähflüssig wie Honig und hatte auch dieselbe Farbe. Nur schmeckte es bitter und salzig. Man musste es in Essen oder Getränke mischen und tötete ebenfalls erst nach Stunden. Das Opfer hatte Brustschmerzen sodass es am Ende nach einem Herzanfall aussah. Passend wie sie fand, da Zerian von Abal schon weit über der sechzig war. Das letzte Gift nahm sie eher aus Gewohnheit mit, es war ihre eigene Erfindung und trug den Namen Nachthimmel. Kein erschreckender Name, doch hatte die Mischung eine tiefblaue Farbe und schimmerte weiß. Ein einziger Tropfen und das Opfer war binnen Sekunden Tot. Keine Schmerzen oder Ankündigung, man fiel einfach um und hörte auf zu atmen. Man konnte es als Giftpfeil benutzen, ins Essen mischen oder nur lange genug seinem Geruch ausgesetzt sein, ein vielseitiges Werkzeug.
Zufrieden sah sich Ria ihr Gepäck an, Gifte, Blasrohr, Pfeile, Kleidung und für alle Fälle einen Langdolch. Sie wickelte alles in einen Beutel und legte sich schlafen. Morgen würde ein ereignisreicher Tag werden.