Benommen öffnete Jarle wieder die Augen. Sein ganzer Körper schien zu brennen, aber er war zu erschöpft um nur einen Muskel zu bewegen und auch seine Umgebung konnte er nicht erkennen. Sein Blick war verschwommen und es schien als ob sich alles um ihn bewegen würde, der Boden, das Licht ... ihm wurde schlecht und ein übler metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Er stöhnte gepeinigt auf und versuchte sich trotz der Schmerzen aufzusetzen, doch sein Körper war weich und ließ sich nicht bewegen.
Noch immer mit benebelten Verstand versuchte er seine Umgebung zu erkennen und erkannte erst jetzt, dass seine Arme und Beine gefesselt waren. Das Seil schnitt in das weiche Fleisch seiner Hand- und Fußgelenke, doch der Schmerz seiner Schulter überlagerte jeden anderen. Verzweifelt versuchte Jarle sich zu konzentrieren, doch sein Verstand war wie in Watte gepackt, seine Gedanken schwirrten chaotisch durcheinander ohne präzise Sätze zu bilden, sondern blieben nur Bilder und einzelne Wörter.
Nach einiger Zeit verbesserte sich wenigstens seine Sicht, sodass er erkennen konnte wo er war. Jarle hatte sich nicht geirrt als er geglaubt hatte, dass die ganze Welt wackeln und schwanken würde.
Er lag zusammengerollt in einer engen, staubigen Kiste und der Boden wackelte als wäre er auf einem Wagen. Durch ein paar Löcher in den Seitenwänden vielen ein paar Lichtstrahlen und tanzten auf seinem schlaffen Gesicht. Die Luft war heiß und trocknen und er konnte wegen der Enge kaum atmen. Nach und nach funktionierten auch wieder seine Ohren und er hörte leise wie durch Nebel das Knirschen von Holzrädern auf steinigem Boden, vereinzelt auch ein Schnauben oder den Knall einer Peitsche.
Das konnte doch nur ein Fehler sein? Die Stadtwache konnte grausam sein, doch nie würde sie einen Gefangen in dieser Art und Weise transportieren, oder etwa doch? Wurden sie nachdem er in Ohnmacht gefallen war etwa verhaftet? War er daran Schuld, dass jetzt seine Freunde wie er in engen Kisten steckten?
Noch einmal versuchte er sich zu bewegen, doch sein ganzer Körper war wie gelähmt. Durch eines der Löcher in den Wänden konnte man einen kurzen Blick nach vorne in Richtung Zugpferd werfen, wo auch eine gebeugte Gestalt saß. Von der Umgebung konnte Jarle nichts erkennen, der Boden schien zu leuchten und verhinderte, dass er irgendetwas außer Schemen und Umrisse erkennen konnte. Müde versuchte er einen Ruf hervorzubringen, aber es kam nur ein heiseres Krächzen heraus, er versuchte sich zu räuspern, aber allein diese kleine Bewegung ließ seine Kehle wie Feuer brennen und der metallische Geschmack nach Galle und Blut verstärkte sich. Unter Schmerzen versuchte es nochmal und zuckte gepeinigt zusammen.
„Hallo!“
Der wagen blieb abrupt stehen und Jarle fiel durch den Ruck mit seiner verletzten Schulter gegen die Wand, fast hätte er aufgeschrien, wenn er nicht gewusst hätte, dass das nur mehr Schmerzen gebracht hätte. Der schemenhafte Fremde von draußen stieg von dem Wagen ab und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem harten Boden. Schwere Schritte waren entlang der Kiste zu hören vor derem hinteren Ende er stehen blieb.
Schlüssel klirrten und das Schloss an der Tür wurde knirschend aufgeschlossen. Das Licht, dass durch die geöffnete Luke hereinströmte blendete Jarle, sodass er stöhnend die Augen zusammen kniff. Als er sie wieder öffnete sah er vor sich eine Mann stehen, im mittleren Alter, bereits ergrauten Haaren und einer langen Narbe über die linke Wange und Teile des Halses.
„Du bist wach“, stellte Reuben sachlich fest und beobachtete Jarles schockierte Reaktion.
„Reuben?“, Jarle war vollkommen fassungslos. Was war hier nur los? „Du arbeitest für den Stadtherrn? Ich dachte dein Bruder...?“
Reuben lachte kalt: „Den Stadtherrn? Sicher nicht. Das ganze ist etwas komplizierter als du denkst.“
Jarle verstand nicht, sein Verstand war noch immer vernebelt.
„Aber wieso? Weshalb hältst du mich gefangen?“ Jarle versuchte in all dem einen Sinn zu erkennen, aber er verstand die ganze Situation nicht. Reuben hatte ihn gefesselt und in eine Kiste gesperrt, aber weshalb? Er hatte immer geglaubt er sei sein einziger wirklicher Freund in den Tunneln. Seit er ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er eine Verbindung zu ihm gespürt. War das alles nur Theater gewesen? Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und er wurde ganz bleich, als ihm ein grauenhafter Gedanke kam.
„Wo ist Lia? Was hast du mit ihr gemacht?“
Schon wieder lachte Reuben sein widerliches Lachen, all seine Freundlichkeit waren wie eine Maske abgefallen und nun zeigte sich sein wahres, kaltes, skrupelloses Wesen.
„Ach ja ... die schöne Lia, die wird keiner vermissen.“
Jarle stockte der Atem, das konnte Reuben nicht ernst meinen? Lia konnte nicht ...
Reuben zog eine feinen Glaskolben aus seiner Tasche und nahm den Verschluss ab.
„Du hättest nicht aufwachen sollen. Es ist für uns alle besser wenn du jetzt weiterschläfst und diese Frau vergisst. Vertrau mir, du hast mir ihr nichts gemein.“
Endlich wurde Jarles Verstand wieder klar genug, um einen vernünftigen Gedanken zu bilden. So laut er konnte rief er trotz den Schmerzen und dem Blutgeschmack in seinem Mund nach Hilfe, vielleicht würde ihn jemand hören und erkennen was hier vor sich ging. Reuben unternahm keinen Versuch ihn zum Schweigen zu bringen, sondern lachte ihn nur aus.
„Hier hört dich keiner Junge.“
Jarle schluckte schwer atmend: „Du Monster, wie konntest du nur? Sie hat niemandem etwas getan, sie war unschuldig.“
„Sie war ein Risikofaktor.“
Jarle konnte nicht glauben was er da hörte, ein Risikofaktor? Wie konnte Reuben nur so etwas schreckliches sagen? Wie konnte er sich so in ihm getäuscht haben? Tränen stiegen in seine Augen und er dachte an Lia. Sie war immer gut zu ihm gewesen, hatte stets nur an andere gedacht und war wahrscheinlich der beste Mensch gewesen, den er je kennen lernen durfte. Wie konnten die Götter es zulassen, dass ein solcher Mensch kaltblütig ermordet wurde? Wie konnten sie nur so ungerecht sein und einen verschlagenen Mörder leben lassen während Lia sterben musste?
Reuben betrachtete Jarle mit einem Blick in dem echter Kummer lag und beugte sich zu ihm in die Kiste.
„Es tut mir Leid, wenn ich dir Kummer bereitet habe, doch jetzt musst du weiter schlafen. Du wirst noch verstehen weshalb ich es tun musste. So gern ich dir alles erklären würde, aber ich darf nicht. Ich bin dazu nicht berechtigt.“
Jarle rannen noch immer die Tränen über die Wangen, wie gern hätte er sich gegen Reuben gewehrt, doch sein Körper ließ sich noch immer nicht bewegen und so musste er hilflos zulassen, dass er ihm ein paar Tropfen von der Flüssigkeit aus dem Glaskolben in den Mund träufelte. Sofort wurde sein Verstand wieder verschwommen und die Augen fielen ihm zu.
„Wir sehen uns in deinem nächsten Leben“, flüsterte Reuben und verschloss wieder die Tür.
Als Jarle das nächste Mal aufwachte überraschte es ihn nicht, noch immer gefesselt zu sein und versuchte nicht einmal sie zu lösen oder sich zu bewegen. Sofort bemerkte er die Steifheit seiner Glieder und den Nebel der seinen Verstand umgab. Seine Umgebung konnte er auch dieses mal nicht richtig erkennen, doch zumindest drehte sich der Raum nicht, sodass ihm die Übelkeit erspart blieb.
Deprimiert wartete er darauf, dass die Droge, die Reuben ihm verabreicht hatte nachließ und dachte über die letzten Geschehnisse nach.
Die Götter mussten ihn hassen, zuerst nahmen sie ihm den Vater, später auch noch die Mutter und dann wurde er auch noch von seiner Schwester getrennt. Alle Beziehungen die er je zu jemanden gehabt hatte endete darin, dass er entweder von ihnen getrennt wurde, oder darin, dass er verraten wurde, so wie bei Linch oder Reuben.
Linch, dieser dreckige Bastard, der ihn in die Arme des Wachmanns gestoßen hatte, um selbst zu entkommen. Seine Handlungsweise überraschte ihn nicht vollkommen, in den Tunneln war das Leben immer nur ein Haar vom Tod entfernt gewesen aber dennoch ... naiverweise hatte er angenommen, dass Linch etwas an ihm lag.
Reuben dagegen war etwas vollkommen anderes. Er war sein Freund gewesen, hatte oft mit ihm gesprochen oder zusammen Würfelspiele gespielt. Immer hatte er angenommen den Händler zu kennen und ihm vertrauen zu können, aber wie sich jetzt herausgestellt hatte, war er nicht besser als Linch.
Verlogene Drecksbande. Niemandem kann man vertrauen. Freunde töten Freunde, und der Lehrer hintergeht den Schüler. Mein Leben könnte nicht beschissener sein.
Langsam wurden seine Gedanken klarer und er erkannte auch endlich wo er sich befand. Er lag auf einer staubigen Decke, in einer dunkeln fensterlosen Zelle, nur durch den Spalt unter der Tür strömte Licht hinein. Seine Augen hatten sich schon längst an die Dunkelheit gewöhnt, aber es gab nichts außer ihm und der Decke in dem dunklen Raum.
Stundenlang lag er so auf dem Rücken und starrte die Decke und die Wände an, manche von ihnen hatten tiefe Kerben, als ob sie jemand hinein geritzt hätte. Entmutigt schloss er die Augen, die Gewissheit noch so lange hier zu sein, bis er Kerben in die Wand kratze war nicht ermutigend.
Mit der Zeit kam auch das Gefühl in seinen Glieder wieder, es begann als leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen und breitete sich aus. Aber mit dem Gefühl kamen auch die Schmerzen wieder, während er geschlafen hatte, musste man ihm ein Schmerzmittel gegeben haben, denn er spürte weder seine verletzte Schulter noch die unzähligen Schnitte in seiner Haut. Langsam bewegte er die Finger und ballte die Hände abwechselnd zu einer Faust, zu mehr war er momentan noch nicht fähig.
Plötzlich durchflutete Licht den Raum und die Zellentür wurde quietschend aufgestoßen. Jarle kniff erschrocken und geblendet die Augen zusammen während eine dürre Gestalt den Raum betrat, in den Händen ein Tablett.
Jarle verkrampfte sich unwillkürlich und ballte die Hände zu Fäusten. Die Gestalt blieb auf der Schwelle stehen, sie war nur ein schwarzer Schatten vor dem blendenden Licht, das durch die Tür fiel.
Wortlos trat die Gestalt näher, bis auf zwei Schritt an Jarle heran und stellte das Tablett vor ihm auf den Boden, wobei er sich vor Jarle hockte.
„Damit du zu Kräften kommst.“
Jarle erschauderte bei der rauen und kalten Stimme des Mannes. Endlich fiel auch Licht auf sein Gesicht und Jarle konnte mit bangem Gefühl sein Profil betrachten.
Der Mann war dünn, fast ausgemergelt. Die Haut spannte sich wie Pergament über die bleichen Knochen und war durchzogen von zahllosen, kleinen Falten. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und schienen wie graue Löcher in seinem Gesicht zu klaffen. Doch seine geschmeidigen Bewegungen ließen erahnen, dass dieses alte, kraftlose Aussehen nur Fassade war.
Jarle warf einen kurzen Blick auf das Tablett am Boden. Das Brot darauf sah trocken aus, das Wasser trüb. Er sah wieder zu dem Fremden auf, der ihn skeptisch musterte. Jarle erwiderte den Blick trotzig. Auf keinen Fall würde er zeigen wie viel Angst er eigentlich hatte.
Der dürre Mann erhob sich wieder, sein Gesicht war wieder im Dunkeln. Er betrachtete den am Boden kauernden Jungen noch einen Moment und verließ wieder langsam die trostlose Zelle. Die Tür schloss sich hinter ihm und erneut war Jarle von Schwärze umgeben.
Jarle atmete keuchend aus, er hatte nicht bemerkt, dass er während des ganzen Besuchs die Luft angehalten hatte und starrte noch immer dem fremden Mann hinterher.
Zu den unzähligen Fragen die in seinem Kopf bereits umherschwirrten kam eine neue hinzu. Wer war der Alte?
Er konnte es nicht erklären aber als der Mann hereingekommen war hatte er ein eigenartiges Gefühl gehabt, als würde er den Fremden schon lange kennen, als ob eine Verbindung zwischen ihnen bestehen würde. Dieses Gefühl hatte er zuletzt vor Jahren gehabt als …
Jarle verwarf den Gedanken. Es gab dringenderes, zum Beispiel so schnell wie möglich seine Fesseln loszuwerden und wieder die Kontrolle über seinen Körper zurückzuerlangen.
Er konzentrierte sich mit aller Macht auf seinen Körper in der Hoffnung, dass er, wenn er sich genug bemühte wenigstens den Arm anheben könnte.
Jarle wusste nicht wie viel Zeit verstrichen war, unzählige Male war er eingeschlafen und wieder aufgewacht es fühlte sich an wie Wochen. Mittlerweile hatte die Wirkung der Droge die ihm verabreicht wurde soweit nachgelassen dass er sich wieder bewegen konnte.
Er hatte es schon vor einer Weile geschafft sich aufzusetzen und sich an die Wand zu lehnen. Nachdem er das bewältigt hatte, war es ihm gelungen die Fesseln an seinen Armen und Beinen abzustreifen. Doch bei dem Versuch aufzustehen, war er sofort wieder zusammengesackt. Zwar konnte er seine Beine wieder bewegen, doch sie fühlten sich weich und schwach an.
Schon seit einer gefühlten Ewigkeit starrte Jarle in die Dunkelheit. Seine Augen hatten sich an sie gewöhnt, sodass er alles in seiner kleinen Zelle erkennen konnte. Neben der Decke auf der er lag, konnte er einen kleinen Holzstuhl in der Ecke sehen. Auch erkannte er nun die Beschaffenheit seiner Zelle. Die Wände waren grob behauen und nirgends entdeckte er eine Stelle die flach abgeschliffen oder ähnliches war, selbst die Ecken waren rund und ungleichmäßig.
Die Steinwände waren vom Dreck und Staub der Jahrzehnte grau geworden, doch an manchen Stellen konnte man noch das rötliche Schimmern des Sandsteins erkennen.
Ein Ziehen und Grummeln in Jarles Bauch unterbrach seine Beobachtungen. Schon seit einer Ewigkeit versuchte er seinen Hunger zu ignorieren, doch allmählich gingen ihm die Ablenkungen aus.
Seine Augen huschten verstohlen zu dem Tablett das noch immer neben ihm auf dem Boden stand. Auf das bereits trübe Wasser hatte sich mittlerweile eine dünne Staubschicht gelegt. Seine Hand zuckte schon in Richtung der Schale, doch sofort zog er sie zurück.
Er würde sich denen, wer auch immer sie waren, nicht beugen. Außerdem war es mit Sicherheit vergiftet.
Er schloss die Augen und versuchte sich auf etwas anderes als auf seinen knurrenden Magen oder seinen schmerzenden Kopf zu fokussieren. Hinzu kam, dass mit der Droge die ihn gelähmt hatte auch die Schmerzmittel nachließen und der Schmerz in seiner Schulter zurückkam. Sie brannte und auch die unzähligen Schnittwunden begannen zu jucken.
Unwillkürlich zog er seinen Arm näher an seinen Körper.
Zum ersten Mal seit seinem Sprung aus dem Fenster in Thoke begann er sein Hemd aufzuknöpfen und sich die Verletzungen genauer anzusehen.
Trotz der Dunkelheit erschrak er vor deren Schwere und erkannte, dass er vermutlich nicht einmal die Hälfte von ihnen spürte. Die Schmerzmittel mussten noch immer wirken. Mit säuerlichem lächeln ahnte er, was ihm noch bevorstand wenn sie ihre Wirkung tatsächlich verloren.
Seine linke Körperhälfte war von einem Netz unzähliger blauer Flecken überzogen, einige hatten sich schon gelblich verfärbt. Das Fensterglas hatte seine Arme, Brust und Gesicht zerschnitten. Doch am schlimmsten sah seine Schulter aus. Ein schwarzblauer Bluterguss hatte sich um sie gebildet und zog sich von der Achselhöhle über die Innenseite seines Armes und die Rippen. Sein Arm war fast auf das Doppelte angeschwollen.
Er versuchte seine Schulter kreisen zu lassen doch bei dem Versuch traten Tränen in seine Augen und er zog den Arm näher an den Körper.
Seine Situation war noch auswegloser geworden, nicht nur dass er hungrig, durstig und allein in einer abgeschlossen Zelle saß, er konnte sich auch nicht verteidigen oder versuchen zu fliehen, wenn sich eine Gelegenheit bieten würde.
Mit leerem Blick lehnte er den Kopf an die Wand und umklammerte mit seiner gesunden Hand seinen anderen Unterarm. Immer öfter huschte sein Blick zu der Schale Wasser und dem Brot, bis ihm die Augen zufielen. Er wusste nicht wie lang er geschlafen hatte oder schon gefangen war, er wusste nicht ob er Thoke jemals wiedersehen würde. Oder Inji.