Unachtsam warf ich mein verrostetes Fahrrad ins nasse Gras und begann nervös auf und ab zu laufen. Warum hatte ich mich überhaupt auf Rick´s Idee eingelassen, wenn mir doch von vornherein klar gewesen war, dass ich zögern würde? Überlegend stand ich am anderen Ende des Ufers und ließ meinen Blick über das trübe Wasser, bis hin zum verlassenen Haus, schweifen. Obwohl ich wusste, dass es kein Zurück mehr gab, drehte ich mich noch ein Mal um und blickte vier erwartungsvollen Augen entgegen.
„Na los! Du willst doch wohl nicht kneifen oder?“, rief mir Rick lachend zu und stieß Tobi verächtlich in die Seite. Dieser zwang sich, ein kaum überzeugendes Lächeln auf, doch als er meine zusammengekniffenen Augen bemerkte, versteinerte sich sein Gesicht und er setzte seine gewohnte, ernste Miene auf. Unruhig begann er auf der Unterlippe herum zu kauern und gab mir den Hinweis, dass er schon längst etwas sagen wollte. Doch in Gegenwart von Rick würde er kaum irgendwelche Worte über die Lippen bringen können. Zumindest keine, die die Ideen Rick's anzweifeln könnten. Das tat nicht mal ich mit meiner großen Klappe, die mir schon so einige Türen wieder zugeschlagen hatte.
„Ich kneife nicht! Ich frage mich nur, ob es euch nicht peinlich ist ein Mädchen vorzuschicken.“
„Sicher doch. Große Klappe, Nichts dahinter."
„Es dreht sich nicht immer alles um dich! Es war weder meine Idee, noch habe ich mich für diesen Schwachsinn freiwillig gemeldet.“
„Und warum sind wir dann hier?“
„Ich will nur nicht das ihr scheitert. Ihr könntet doch sowieso keinen Fuß mehr vor den Anderen setzen“, zischte ich, die Haare zur Seite werfend und hoffte sie würden mich trotz aller Erwartungen begleiten. Den Beiden sah man die Angst förmlich an, hätten sie sich nicht beweisen müssen, wären sie doch schon längst aus dem düsteren Wald geflohen.
„Schwachsinn“, brummte Tobi mit der Hoffnung, wenigstens etwas einflussreich zu wirken und machte einen Schritt auf mich zu. Von oben schaute er auf mich hinab und bildete sich wohl möglich etwas auf seine Größe ein. Jedoch brauchte er das gar nicht zu versuchen, immerhin kannte ich ihn zu Genüge und ließ mich schon lange nicht mehr von ihm einschüchtern.
„Wie ihr meint, aber denkt bloß nicht irgendwelche Lügen in der Schule erzählen zu können. Wer feige ist, muss dazu stehen.“
„Feige? Wir?“, fragten sie fast synchron und schauten sich empört an. Für einen Augenblick hielten sie Blickkontakt, als würden sie versuchen ihre Gedanken auszutauschen. Dann allerdings lösten sie ihr Starren und wendeten sich wieder meinen Worten zu.
„Einer muss schließlich auf die Fahrräder aufpassen.“
„Richtig Rick, einer, ihr seid aber zu zweit. Also wer kommt mit?“, lachte ich und musterte Tobi, der seine Augen nun ganz angespannt zu Boden gerichtet hatte, in dem Glauben, ich würde ihn übersehen. Schon jetzt war seine versuchte Überlegenheit sichtlos verschwunden und er zog sich in sein bekanntes Schneckenhaus zurück.
„Ich seh' schon, heut` wird das nichts mehr. Dann muss ich wohl alleine gehen. Kommt ihr wenigstens bis zur Brücke mit?“, hakte ich hoffnungsvoll nach, doch sie schmetterten meine indirekte Bitte gnadenlos ab und setzten sich auf einen Baumstamm, der quer auf dem Weg lag. Seufzend machte ich mich auf, um den Beiden beweisen zu können, dass ich nicht das kleine Mädchen war, welches sie beschützen mussten. Murmelnd schob ich die trockenen Äste zur Seite und bahnte mir den Weg, zum verlassenen Haus, frei.
Jeder Schritt wurde schwerer und hätte ich nicht ein so verdammt großes Ego, wäre ich längst umgekehrt. Doch es half alles Nichts, ich musste ihnen und allen Beweisen, dass an den Geschichten nichts Wahres dran war. Wie es schon über Jahrzehnte in unserem kleinen Dorf erzählt wurde, lebte wohl vor vielen Jahren, ein alter Mann in diesem Haus, der ein riesiges Vermögen gehabt haben soll. Abgeschottet von Allen, lebte er Jahr für Jahr und Niemand interessierte sich für ihn und seine kleine Enkeltochter. Doch als diese in dem riesigen See um das Haus herum ertrank, wurden die Leute aufmerksam. Ihm wurde vorgeworfen sie umgebracht zu haben, woraufhin er sich selbst in den See stürzte. Seit dem haben sich wohl schon viele auf den Weg dort hin gemacht, um das verschollene Vermögen zu ergattern und angeblich, soll bisher Niemand mehr zurück gekehrt sein.
Schwachsinn wenn man mich fragt, aber genau diese Äußerung hat mich überhaupt in diese Lage gebracht. Hätte ich doch nur dieses Mal meinen Mund halten können. Ich glaubte nicht an Übernatürliches oder Mysteriöses und erst recht nicht an Geister, aber wenn ich meine Umgebung genauer betrachtete, wurde ich doch immer nervöser. Leise knackten die vereinzelten Äste unter meinen Füßen, während der Nebel mich bereits völlig eingehüllt hatte. Schwer wogen sich die Baumkronen im Wind und ergaben ein Gänsehaut erzeugendes, knarrendes Geräusch. Ich beschleunigte meine Schritte, als ich dunkle Schatten hinter mir bemerkte, die mich zu verfolgen schienen. Verzweifelt versuchte ich mir einzureden, dass es nur die Jungs waren, die mich versuchten zu erschrecken, doch als ich bereits an der kleinen Brücke angelangt war, befanden sie sich immer noch hinter mir.
Vielleicht waren es nur die Raben gewesen. Wie dunkle Schatten zogen sie durch die Lüfte und ließen sich auf den grauen Dachziegeln nieder. Unsicher wagte ich den ersten Fuß auf die modrige Brücke und schaute zu den Jungs, auf der anderen Seite, des Sees. Doch diese winkten mich nur eifrig weiter, als wäre nichts dabei, sich auf die kleine Insel zu wagen. Der dichte Nebel war mir bis hier her gefolgt, doch auch dieser traute sich nur bis zum Beginn der Brücke. Ich holte einmal tief Luft und schritt dann weiter, bis meine Stiefel in den matschigen Boden, auf der anderen Seite, traten. Wie bedrohliche Speere ragten die spitzen Äste aus dem Wasser, die auf mich den Eindruck machten, als würden sie mich jede Sekunde aufspießen wollen. Jetzt, wo ich dem Haus so nah gegenüberstand, wirkte es noch viel größer und bedrohlicher, als ohnehin schon. Die Farbe bröckelte von der grauen Fassade ab und ein paar Ziegel hingen ganz schief, sodass man die Befürchtung bekam, sie würden jede Sekunde wie schwere Backsteine auf einen zurasen. Ein paar alte Fenster waren bereits aus den Angeln gerissen, während Andere schon gar nicht mehr zu existieren schienen. Es gab nicht einmal mehr eine Eingangstür, anstatt ihrer konnte man das Haus nur noch über einen Rahmen betreten.
Ich legte den Kopf in den Nacken, als ich die ersten Regentropfen aus den finsteren Wolken bemerkte. Noch weit von mir entfernt schien ein Gewitter aufzuziehen und brachte dumpfes Donnergrollen mit sich. Bedrohlich ragte das verlassene Gemäuer vor mir empor und spiegelte sich im trüben Wasser wieder. Erschrocken zuckte ich zusammen, als plötzlich helles Licht, ganz oben unter der Dachschräge, durchs Fenster schien. Mein Herzschlag verdoppelte sich und meine Hände begannen ganz schwitzig zu werden. Selbst wenn meine Stimme vor Angst noch nicht verschwunden wäre, hätte ich den Beiden nichts entschuldigendes zu rufen können. Nein auch dieses Licht, durfte mich jetzt nicht abschrecken. Ich musste dort rein, ob ich nun wollte oder nicht! Zögernd fasste ich meinen letzten, noch übrig gebliebenen Mut zusammen und nahm die nächsten Schritte auf mich. Es sind nur zehn Minuten, nur zehn Minuten, die ich in dem einsamen Haus verbringen müsste. Verlassen! Verdammt noch mal es war verlassen! Niemand wäre dort und Niemand würde mich sehen, aber woher kam dann das Licht? Nur ein Fehler der Elektrik. Immer wieder betete ich mir diese Worte vor und betrat dann den ersten, dunklen Raum. Am Eingang, wo ursprünglich eine Tür gewesen sein musste, drehte ich mich ein letztes Mal zu ihnen um und starrte den See entlang. Seelenruhig standen sie dort und filmten, wie ich mich quälte, endgültig hinter den dunklen Wänden zu verschwinden.
„Zehn Minuten“, flüsterte ich und stellte einen Wecker, der mich daran erinnern sollte, das Haus wieder verlassen zu können. Mordrieger Geruch, verbunden mit dem der Verwesung, trat mir in die Nase und brachte mich zum Schütteln. Zögernd überlegte ich, ob ich nur am Eingang stehen bleiben sollte, gerade soweit im Raum verschwunden, dass sie mich nicht mehr sehen konnten, doch dann siegte meine Neugierde. Sie und die Reden, die ich üblicher Weise schwang, hatten mich schon so oft in Schwierigkeiten gebracht.
Vorsichtig wagte ich mich weiter hinein und blieb vor einem alten Gemälde stehen. Die Ecken waren ganz ausgefranst, die Farbe an manchen Stellen etwas zerlaufen und Unruhestifter mussten mit einem scharfen Gegenstand, das Gesicht des Mädchens zerstört haben. Eine Weile betrachtete ich das Gemälde und philosophierte darüber, wer die Frau, mittleren Alters war. Behutsam tätschelte sie den Kopf des Mädchens und lächelte ihr ganz friedlich entgegen. Fast idyllisch hielten sich Vater und die Frau in den Armen und wirkten als wären sie zufrieden und glücklich. Ein leises, schrilles Piepen drang mir in die Ohren und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es waren noch neun Minuten. Ich verschwendete meine Zeit nicht länger mit Fragen, auf die ich sowieso keine Antworten finden würde und wagte mich nach kurzem Überlegen auf die Treppe. Jeder Schritt hinterließ ein ohrenbetäubendes Quietschen, das mir eine Gänsehaut bescherte. Im Vorbeigehen blitzen die goldenen Streben im Lichtkegel meines Handys auf. Manchmal erschrak ich mich sogar kurz vor ihrer Reflektion.
Die dicke Staubschicht, die auf Geländer und den kaputten Lampen über mir lag, bestätigte meine Vermutung. Hier war Niemand, hier durfte einfach Niemand sein. Wenn das Haus nicht so heruntergekommen wäre, hätte es vielleicht noch einen sehr hohen Wert. Die Gemälde, die sich die ganze Wand rechts von mir, hochzogen, waren in dicke Goldrahmen gelegt. Selbst die Lampen über mir, so unscheinbar sie auch waren, hatten goldene Verschnörkelungen, die dem Ganzen einen fast magischen Touch brachten. Ein roter Teppich lag auf den hölzernen Dielen. Er war so eingestaubt und verdreckt, dass man fast denken konnte, seine ursprüngliche Farbe bestehe nur aus grau. Auch wenn ich sehr froh über das Licht meines Handys war, so muss ich wohl zugeben, dass es das ungewöhnliche Ambiente zerstörte.
Während ich die knarrenden Treppenstufen hinaufschritt, betrachtete ich die kostbar erscheinenden Objekte in meiner Umgebung. Mit ihnen schien es gar nicht mehr so unmöglich, dass dieses Haus Unmengen von Geld verbergen würde. Erneut drang die Erinnerung der verbleibenen Zeit in meine Ohren. Acht Minuten. Ich beschleunigte meine Schritte, bis ich die letzten Treppenstufen hinter mir hatte. Sie führten mich zu einem Flur, an den sich eine Vielzahl von Zimmern anschlossen. Doch ich hatte nicht genügend Zeit in ihnen allen herumzuschnüffeln. Wenn sich hier Geld befand, dann war es mit Sicherheit auf dem Dachboden, dort wo das Licht schien. Entschlossen setzte ich meinen Weg fort und folgte weiteren Stufen, die mich bis nach ganz oben führen sollten. Wenn sich hier Geld oder Gold befand, dann würde ich es finden. Auch wenn mir nicht ganz wohl zu Mute war, alleine in die Nähe des Lichtes zu gehen, so beeilte ich mich doch sehr. Vergebens versuchte ich mich mit den Gedanken an meinen Triumph abzulenken, während ich dem Dachboden immer näher kam. Ein wenig musste ich doch schmunzeln, als ich mir vorstellte, wie verblüfft sie von mir sein würden, wenn ich mit dem ganzen Geld und Gold vor ihnen wieder auftauchen würde. Aber eins stand fest, sie könnten vergessen, dass ich teilen würde! Nie!
Langsam verließ ich die letzte Stufe, die nach oben führte und öffnete die strahlend, weiße Tür. Sie war das Einzige was in diesem Haus noch strahlend und sauber zu sein schien. Voller Neugierde schritt ich in den kleinen Raum und achtete ganz besonders darauf, dass sich die Tür hinter mir nicht schloss. Kurz überlegte ich, das Licht an meinem Handy wieder auszuschalten, doch dann erinnerte ich mich an die Dunkelheit im Treppenhaus und ließ das Licht zur Sicherheit an. Es war angenehm das ganze Zimmer, ohne größere Bemühungen, sehen zu können, ohne einen eingeschränkten Lichtkegel, der entschied, wie viel ich von meiner Umgebung mitbekam. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich erkannte, dass ich alleine war. Ich interessierte mich nicht warum das Licht brannte, ich war einfach dankbar dafür.
Die Erinnerung meines Handys riss mich aus der Bewunderung und verriet mir, dass ich noch sieben Minuten hatte. Sieben Minuten, bis sie kommen und nach mir sehen würden. So hatten wir es abgesprochen, doch ehrlich gesagt zweifelte ich an ihrem Versprechen, denn ich konnte mir viel besser vorstellen, dass sie wie kleine Kinder fliehen und mich allein lassen würden. Feiglinge! Durch die Erinnerung meines Handys war ich wach geworden und auf einmal ziemlich motiviert, das Geld zu finden. Kontrollierend strich ich über die weißen Laken, die eine Menge Gegenstände verdeckten. Gelegentlich hob ich sie hoch und schaute nach, was sich unter ihnen verbarg, doch meistens waren es nur alltägliche Gegenstände, wie Stühle, Tische und Sessel. Nach kurzen Überlegen erkannte ich das Fenster, aus dem das Licht geschienen hatte. Schmunzelnd bewegte ich mich auf es zu und wollte es öffnen, um den Jungs signalisieren zu können, dass mich noch kein Monster gefressen hatte. Doch beim Öffnen schweifte mein Blick über die linke Ecke des Zimmers. Mein Atem stockte, als ich ein kleines, verschüchtertes Mädchen auf dem Boden hocken sah. Schnell ließ ich vom Fenster ab und begann abzuwägen, was ich tun sollte. Jemand hatte ihr ein weißes Tuch um den Mund gebunden, was ihr verbot zu sprechen. Trotzdem gab sie erstickende Laute von sich, die mir eine Gänsehaut bescherten. Die Augen hatte sie ganz eng zusammengekniffen, als würde sie versuchen irgendeinen Schmerz zu ignorieren. Die Hände waren fest an ein Rohr gebunden, das hinter ihr bis zur Decke ragte. Die Füße waren ebenfalls mit einem straffen Seil fixiert worden. Kleine, spröde Locken vielen auf ihr weißes Kleid, das an vielen Stellen mit Blut verschmiert war.
War es ihres? Oder das des Entführers? Ihr Gesicht war von vielen kleinen Kratzern geschmückt, die ihre Sommersprossen fast verdeckten. Ein paar blaue Flecke blitzten unter dem weißen Stoff hervor, der gerade so bis zu ihren Knien reichte. Selbst ihre weißen, kleinen Lackschuhe hatten ein paar Bluttropfen abbekommen. Hilfesuchend starrten mich ihre blauen Augen an, als versuchte sie mit ihnen meine komplette Aufmerksamkeit zu bekommen. Bemitleidend zog ich die Augenbrauen hoch und machte einen unsicheren Schritt auf sie zu. War ihr Entführer noch ihm Haus? Oder waren wir alleine? Was würde er tun, wenn er mich sehen würde? Mein Herz begann viel zu schnell in der Brust zu pochen, als ich realisierte, dass ich genauso in Gefahr war. Eine Weile rang ich mit mir selbst, ob ich bleiben und ihr helfen oder so egoistisch, wie ich nun mal war, einfach fliehen sollte.
Erst das Piepen, welches mir verriet noch sechs Minuten zu haben, brachte mich zur Vernunft. Aufopferungsvoll, wie ich es fand, entschloss ich mich dazu helfen zu wollen. Von den Unmengen an Adrenalin in meinem Körper angetrieben, stürzte ich mich auf sie und befreite sie aus dieser Enge. Letztendlich nahm ich ihr das Tuch ab und hielt mir den Finger vor den Mund, um ihr zu signalisieren, keinen Ton von sich zu geben. Nickend sprang sie auf und taumelte in die Mitte des Raumes, wo sie mit angsterfüllten Augen auf mich wartete. Im Licht, das der Kronleuchter über uns spendete, funkelten ihre Augen ganz eigenartig, als würde sie etwas von mir erwarten. Kurz verlor ich mich in diesen strahlenden Augen und überlegte krampfhaft, woher ich ihr Gesicht kannte. Doch als sie mir ein bestätigendes Lächeln zu warf, machte es klick und ich erinnerte mich an das Gemälde, am Eingang des Hauses. Wäre in mir vor Angst nicht alles stocksteif gewesen, so wäre mir mit Sicherheit die Kinnlade runter geklappt. Wie konnte das möglich sein? Sie konnte niemals das Mädchen vom Gemälde sein, nicht in diesem Leben!
„Du hast Recht, es ist unmöglich, aber wahr“, trällerte sie mir entgegen und schritt langsam zur Tür, während sie mich zu sich winkte. Woher kannte sie meine Gedanken? Ihre Schritte auf den knarrenden Dielen weckten mich auf und veranlassten mich dazu, endlich in den Stand zu gehen. Doch noch in der Bewegung machte etwas Funkelndes, hinter einen der Sessel, mich aufmerksam.
„Gold“, flüsterte ich so leise, dass sie es unmöglich hätte hören können.
„Meins!“, brüllte sie fast wütend, doch ihre Worte schienen mich plötzlich nicht mehr zu interessieren. Stattdessen redete ich mir ein, ein Recht auf das Gold zu haben. Immerhin hatte ich mich als Einzige getraut hier rein zu gehen, außerdem hatte ich ihr geholfen. Ein Griff genügte und ich spürte den glatten Goldbarren in meiner linken Hand. Er war schwerer und kälter als ich es gedacht hatte, trotzdem würde er mich nicht am Flüchten hindern. Das redete ich mir zumindest ein, als ich mich auf den Weg zu ihr machte und nach ihrer Hand greifen wollte. Doch fast empört zog sie sie zurück und blickte mich mit hochgezogener Braue und zusammengekniffenen Augen an.
„Es ist immer das Gleiche.“ Das Piepen unterbrach ihre leise und hohe Stimme. Fünf Minuten noch.
„Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben, bis ich dich traf. Doch du bist genau so.“
„Ich versteh nicht.“ Lautes Klatschen drang mir in die Ohren, kombiniert mit dumpfen, schweren Schritten. Ein alter, schlanker und groß gewachsener Mann, mit grauem Dreitagebart, kam die Treppen schleichend hinaufgelaufen und trat direkt in das kleine Zimmer. Mit der Kombination eines Dreitagebarts und einer Glatze, konnte ich mich noch nie anfreunden, doch bei ihm, sah es ganz besonders albern aus.
„So glaubwürdig, du hast dich mal wieder selbst übertroffen. Kleines.“ Meine Kehle schnürte sich weiter zu, als ich ihn erkannte. Es war der Mann vom Gemälde, der Mann aus den ganzen Erzählungen. Er und seine Tochter. Ihn könnte ich nicht verwechseln. Er hatte eine, für sein Gesicht zu große, Hakennase und seine schmalen, langen Finger, sahen aus, wie kleine gebrechliche Zweige.
„Das... das ist unmöglich“, stammelte ich und versuchte so unauffällig wie möglich, mich von den Beiden zu entfernen. Doch leider konnte ich nur in die falsche Richtung gehen, denn er stand trotz seines dünnen Körpers, wie ein breiter Schrank vor dem Eingang und bot keine Möglichkeit, zu fliehen. Ich brauchte etwas woran ich mich festklammern konnte. Irgendetwas das meine Nervosität und meine Angst verbarg. Daher kam mir der Barren in meinen Händen ganz gelegen, den ich so fest umklammerte bis meine Fingerknöchel sich in ein bleiches Gelb verwandelten.
„Sei nicht naiv Schätzchen, sehen wir in irgendeiner Weise unmöglich aus?“, lachte er mit seiner dunklen Stimme und stolzierte mit erhobenen Kinn auf mich zu. Er schien fast zwei Köpfe größer, als ich zu sein und genau jetzt verfluchte ich mich für meine kleine Größe. Vier Minuten, rief ich mir in Erinnerung, als meine Uhr die schrillen Töne von sich gab, die bei den Beiden nur ein Stirnrunzeln hervorriefen. Seine kalten Fingerspitzen legte er auf mein Kinn und schob es in die Höhe, sodass ich gezwungen war, in seine glasigen, kalten, blauen Augen zu starren.
„Lass mich los“, keuchte ich und versuchte meine Stimme, wenigstens mit einem Hauch von Selbstbewusstsein, zu erfüllen, doch stattdessen klang sie viel zu leise, eingeschüchtert und einfach nicht nach mir.
„Na, na, na. Du glaubst doch wohl nicht, dass wir dich gehen lassen oder?“
„Was wollt ihr?“
„Das funkelnde Ding in deiner Hand“, lachte er und entriss es mir, ohne auf meine Erlaubnis zu warten. Natürlich hätte ich nicht darum gekämpft es behalten zu können, aber jetzt stand ich ganz hilflos vor ihm und hatte nicht einmal etwas, was ich gegen meine Freiheit, hätte eintauschen könnte. Unachtsam warf er es in die Ecke, aus der ich es genommen hatte und widmete dann seine Aufmerksamkeit, wieder ganz mir. Er stand nun so nah, dass ich seinen unangenehmen, verfaulten Mundgeruch bemerkte und mich zusammenreißen musste, nicht die Nase zu rümpfen.
„Und was machen wir jetzt mir dir?“
„Lass mich gehen, du hast was du willst.“
„Nein, das erscheint mir als zu einfach. Du sollst unsere Schmerzen fühlen, wissen wie es ist verachtet und des Mordes bezichtigt zu werden. Wie es ist, sein Kind zu verlieren und du sollst die Qualen spüren, die Jeder von uns bei seinem Tod erfahren musste.“ Seine Worte, die voller Verderben waren, schallten durch das Zimmer und mit ihnen verschwand er einfach. Erneut machte sich Erleichterung in mir breit, doch sie bleib nicht lange.
Alles Niedliche und Harmlose des kleinen Mädchens, war plötzlich verschwunden. Stattdessen klebten die Haare nun an ihrem nassen Körper und Augen waren komplett schwarz geworden. So schwarz, wie das Gefieder der Raben, die immer noch das Grundstück umkreisten. Mit diesen hasserfüllten Augen, erinnerte sie mich wenig an einen Menschen, eher an die Gestalt eines Dämons.
Ich zögerte nicht länger und stürmte die morsche Treppe hinunter. Jetzt war ich sehr dankbar dafür, das Gold oben gelassen zu haben. So schnell meine Beine mich auch tragen wollten, stürmte ich die Flure entlang und stoppte erst wieder vor dem Ausgang des Hauses. Ein weiteres Mal drang mir die melodische Musik meiner Uhr in die Ohren, die mir verriet, dass ich noch drei Minuten aushalten sollte. Am liebsten hätte ich sie genommen und weit in den See hinein geschleudert, doch irgendwie war ich trotzdem an sie gebunden. Innerlich verfluchte ich mich, auf diesen Schwachsinn überhaupt eingegangen zu sein und fragte mich, woher dieser Ehrgeiz kam, der mich daran hinderte das Haus zu verlassen.
Fliehen hätte ich können, ich hätte einfach die Türschwelle übertreten müssen und wäre in Sicherheit gewesen. Aber zum einen, konnte ich mir immer noch nicht vorstellen, dass diese Leute wirklich existierten. Denn dann müssten sie Geister sein und diese Vorstellung ging mir immer noch gehörig gegen den Strich. Und zum anderen, wollte ich nicht knapp vor meinem Sieg die Flucht ergreifen. Gebannt starrte ich auf meine Armbanduhr und verfolgte die Sekunden, bis es nur noch zwei Minuten sein würden. Vielleicht wäre ich auch einfach gegangen, wenn sich in mir nicht so eine eigenartige Blockade befunden hätte. Irgendetwas tief in mir, hinderte mich daran, auch nur einen Fuß vor den Anderen zu setzen. Eine Weile blieb ich einfach so stehen und kümmerte mich nicht darum, doch nachdem die zweite Minute bereits angebrochen war, wollte ich testen, ob ich im Notfall hier weg käme. Aber bis auf meine Finger, die auf dem Display meiner Uhr herum wischten, konnte ich nichts mehr bewegen. Unangenehme Enge überkam mich, die mir das Gefühl gab, nicht mehr atmen zu können. Meine Kehle schnürte sich ungewöhnlich eng zu und mein Herz begann so schnell zu pochen, als würde es mir jede Sekunde aus dem Brustkorb springen wollen.
Panisch starrte ich auf die Wände links und rechts von mir. Es schien als würden sie immer näher kommen und mich in wenigen Sekunden zerquetschen. Die Luft um mich herum wurde immer stickiger und ich bekam das Gefühl, als würde sie nie weiter, als zu meinem Rachen gelangen. Wie ein Brett, das mir untersagte, sprechen zu dürfen. Ich legte mir viele verschiedene Worte zurecht, die ich brüllen wollte, doch keins von ihnen verließ jemals meinen Mund. Vergebens versuchte ich gegen die Blockade in mir anzukommen, dabei schaffte ich noch nicht einmal ein Keuchen von mir zu geben. Meine Blicke hatte ich schon lange von der Uhr abgewendet und sie nun auf das Mädchen gerichtet, welches direkt vor mir stand. Unecht waren ihre Mundwinkel viel zu weit nach oben gezogen, als versuchte sie ein Lächeln zustande zu bekommen, mit dem sie mich gleichzeitig verschlingen könnte.
„Du fragst dich sicher, warum wir dich bestrafen, richtig?“ Ich wollte nicken, doch nicht einmal das erlaubte sie mir. Ihre Stimme hörte ich nur noch ganz dumpf, denn sie wurde von dem lauten Pochen meines Herzen übertönt.
„Für deine Begierde. Deine Gier nach Geld, Anerkennung und Aufmerksamkeit. Für deine konkrete Einstellung, dass es Geister nicht geben kann und weil du dich über die Mythen hier gnadenlos lustig gemacht hast.“ Ihre heisere Stimme verstummte und mit ihr wurden wir in klägliches Schweigen gehüllt. Auch wenn ihre Worte nicht gerade beruhigend gewesen waren, so war ich doch um einiges ruhiger gewesen. Denn wenn sie sprach, dann bildete ich mir ein, sie würde mir nichts antun. Während sie schwieg, malte sie sich wohl möglich aus, was sie mit mir grausames machen könnte.
„Ich hoffe deine Freunde haben das auch auf Video“, schnaufte sie verächtlich und stieß mich mit ihrer eiskalten Hand nach vorn. Kurz hatte ich damit gerechnet, direkt zu Boden zu fallen, doch meine Beine bewegten sich, als würde sie Jemand steuern. Ich schliff förmlich über den Holzboden, nach Draußen und auf den matschigen Boden. Es war nur ein knapper Abstand vom Haus, bis das dunkle, tiefe Wasser anfangen würde. Ihr eigenartiges Lächeln hatte sie immer noch nicht verloren, während sie klatschend hinter mir her stolzierte. Knapp vor dem Ufer ließ sie mich stehen und drehte meinen Kopf zu sich nach hinten um. Ein leises Knacken war zu hören und mit ihm verteilte sich Schmerz in meinem Nacken. Doch so sehr ich auch versuchte gegen die Macht, die mich zu diesen Bewegungen zwang, anzukommen, es war sinnlos.
„Was soll ich nur mit deinen Freunden machen?“
„Lass sie in Frieden“, keuchte ich angsterfüllt und schnappte noch im selben Moment nach Luft. Meine Anspannung lockerte sich kein wenig, auch wenn ich endlich wieder Luft holen konnte. Schwer atmend nahm ich mehrere tiefe Luftzüge und versuchte mein hämmerndes Herz, irgendwie beruhigen zu können.
„Das muss ich mir noch überlegen. Tick, Tack, die Zeit wird knapp“, lachte sie plötzlich in so einer tiefen Stimme, die niemals hätte ihr gehören können. Sie klang beinahe, wie die des Mannes, doch auch nach genauerem begutachten der Umgebung, konnte ich ihn nicht sehen. Meinen Kopf durfte ich wieder bewegen und so starrte ich zu den Jungs rüber, die sich fast zu amüsieren schienen. Lachend grölten sie am anderen Ende des Sees und schwenkten ihre Kameras durch die Luft. Ich ahnte bereits, was sie mit mir machen würde und fragte mich, wie die Beiden darauf reagieren würden. Hätten sie den Anstand wenigstens die Kameras zu senken?
„Tick, Tack“, hauchte sie mir in den Nacken und verschwand mit einem kühlen Luftzug. Die Uhr piepte. Noch eine Minute. Meine Beine trugen mich bis zu der Stelle, an der der See am tiefsten war. Zögernd biss ich mir auf die Lippe, als ich einen letzten Blick zu den Jungs warf, ehe mich ein leichter Luftzug direkt ins Wasser stieß. Langsam tauchte ich in das eiskalte Wasser ein und hielt die Luft an. Meine nackten Arme streiften die rutschigen Äste, die überall aus dem Wasser herausragten. Ich hörte noch das Krächzen der Raben über mir, die genau beobachtet hatten, wie ich mich ins Verderben gestürzt hatte. Eine Menge von Algen begann sich um meine Beine und Arme zu schlingen. Ich wollte schreien, doch meinen Mund verließen nur Luftblasen, die meine Wangen zum Kribbeln brachten und dann an die Oberfläche stiegen. Schnell hörte ich auf zu schreien, denn dann verbrauchte ich viel zu viel Luft.
Plötzlich begann sich Alles in mir zusammenzuziehen. Bilder tanzten vor meinen Augen, die das kleine Mädchen und ihren Vater zeigten. Sie ließen mich spüren unter welchen Qualen sie gelitten hatten. Alle ihre Qualen legten sie zusammen und gaben sie mir. Ich wollte mich winden, schreien und vor Verzweiflung einfach anfangen zu weinen, doch ich konnte nicht. Es war als wäre ich in einer bewegungsunfähigen Hülle gefangen. Mein regungsloser Körper sank immer weiter in die Tiefe, während die Algen mich immer weiter umwickelten. Erst jetzt öffnete ich die Augen. Sie begannen in dem kalten Wasser zu brennen, doch das war meine kleinste Sorge. Verzweifelt versuchte ich etwas zu erkennen, an dem ich mich festklammern könnte und was mich wieder an die Oberfläche bringen würde. Doch außer grünen Unterwasserpflanzen gab es nichts. Es war noch keine Minute unter Wasser vergangen, da spürte ich wie mich das Verlangen nach Luft schnappen zu können, mehr und mehr überkam.
Plötzlich spürte ich etwas hartes unter meinem Rücken. Ich war auf den Grund des Sees angelangt und fühlte nun den Sand an meinen Fingerspitzen. Mehr und mehr rang ich mit mir selbst, den Mund nicht zu öffnen, um nach Luft schnappen zu können, denn hier unten gab es keine. Immer wieder verweigerte ich mir selbst, mich diesem Verlangen hinzugeben, doch irgendwann war die Grenze überschritten und mein Mund öffnete sich ganz von alleine, während mein Herz gnadenlos zu schnell in meiner Brust pochte. Das erste Wasser drang in meinen Rachen und ließ Hals und Lunge wie Feuer brennen. Sie ließen mich spüren, wie jeder einzelne Wassertropfen in meiner Lunge ankam, mich zum Husten und schließlich zum ersticken bringen wollte. Langsam spürte ich wie ich schläfriger wurde und das um mich herum immer unklarer. Leichter Schwindel überkam mich, doch der konnte nichts mehr ausrichten, immerhin lag ich regungslos auf dem Boden. Gegen die Dunkelheit, die mich einholen wollte, versuchte ich anzukämpfen und blickte gebannt um mich. Ich schluckte noch mehr Wasser, als ich Skelette und halb verweste Leichen um mich herum entdeckte. Die Menschen hatte es also wirklich gegeben, sie und ihre ganz eigenen Geschichten. Ein letztes Mal noch, pochte mein Herz viel zu stark in meiner Brust und ein letztes Mal noch, spürte ich die Vibration meiner Uhr ums Handgelenk. Die Zeit war abgelaufen und mit ihr, mein Leben.