„Lunaria ist wunderschön, nicht wahr?“ fragte in diesem Moment eine vertraute Stimme hinter ihr. Sie hatte sich auf einem der kargen Felsen niedergelassen, welche sich am Rand der tiefen Schlucht befanden, wo das silbern glitzernde Wasser des grössten Flusses, hindurchfloss. Ein rauschender Wasserfall, welcher sich über eine, von dunkler Feuchtigkeit glänzenden Terrasse hinabstürzte, speiste ihn. Aellia erschrak, als sie auf einmal angesprochen wurde. Sie fühlte sich auf seltsame Weise ertappt, denn tatsächlich hatten der silberne Mond und sein, sich über alles ergiessendes, zauberhaftes Licht, sie irgendwie mehr und mehr in seinen Bann geschlagen. Es war wirklich schön hier, das liess sich nicht leugnen und… auch Lunaria war wahrlich schön, auch wenn die Harpya es ungern zugab. „Ja, sie ist schon sehr schön,“ gestand sie ein und blickte in die Augen von Nannios, in denen sich das lunarische Licht, in leuchtenden Fünkchen brach. Er lächelte sein angenehmes Lächeln und liess sich dicht neben sie nieder. Seine leuchtendweissen Flügel berührten ihre nachschwarzen leicht und einen Moment lang, schauten sie beide still auf die silbrig- weisse Göttin. „Es tut mir leid, dass ich dich so lange allein liess,“ brach der Lunarier schliesslich das Schweigen. „Es gab einen Notfall, meine Heilkräfte waren gefragt. Es kann manchmal sein das die Aufregung des grossen Fruchtbarkeitsfestes für den einen oder andern etwas zu viel wird, oder er sich einfach übernimmt, oder…nun ja, während seiner wilden Flugkünste etwas unvorsichtig ist.“ „Jetzt ernsthaft? Jemand ist verunfallt, währende des Paarungsfluges?“ Aellia musste ein Kichern unterdrücken.“ „Nun ja… es passiert selten, aber es kann schon mal sein. Zum Glück ist es glimpflich abgelaufen, aber ich musste zur Stelle sein, du verstehst.“ Er schaute sie an und auf einmal musste auch er etwas grinsen. Dann meinte er scherzend. „Was Männer nicht alles auf sich nehmen, um der Dame ihres Herzens zu gefallen, oder Eindruck bei ihr zu schinden. Tja, wir sind alle irgendwie Sklaven der weiblichen Allmacht.“
Als er das Wort Sklave erwähnte, zuckte Aellia unmerklich etwas zusammen, denn wieder dachte sie an die Masculinas in ihrer Welt. Dort waren sie wirklich Sklaven, ohne eine andere Wahl zu haben. Aellia hatte das bisher nie hinterfragt, doch wiederum berührten sie Nannios Worte mehr, als es ihr lieb war. Die Lunarier besassen eine so natürliche Art, mit männlich und weiblich umzugehen. Sie gestanden beiden Geschlechtern ihre Qualitäten zu und nahmen deren Gegensätze als ganz selbstverständlich hin. Die Männer warben um die Frauen, die Frauen schenkten ihnen ihre weibliche Zuneigung, ohne sich aber über sie zu erheben. Alle hier, hatten ein gesundes Selbstbewusstsein und schienen unter keinem Zwang zu stehen. Gab es da in ihrer Welt, nicht doch mehr Zwang, zumindest für die Männer? Die Frauen konnten tun und lassen was sie wollten. Ihre Allmacht wurde nie in Frage gestellt. So hatte sich das über Jahrhunderte gezogen und die Masculinas, hatten sich in ihr Schicksal gefügt, einfach nur Erzeuger zu sein, ohne allerdings jemals wahre Liebe oder Zuneigung zu erfahren. Die Harpyas fühlten keine solche Zuneigung. Auch zu ihren Kindern bestand nur ein recht oberflächlichen Bezug. Aellias Volk war ein Volk von Nestflüchtern. Sobald das Kind, welches in einem eierartigen, weichen Kokon, im Bauch einer Frau heranwuchs geboren war, wurde es sogleich weitergereicht. Die Mutter kümmerte sich nicht viel mehr darum, als die restlichen des Harpyien Volkes. Die Kinder, waren die Kinder aller und lernten überall wieder andere Dinge. Die ersten Jahre wuchsen die harpischen Kinder sehr schnell, so dass sie bald ziemlich selbständig waren. Von den Jugendjahren an, wenn sich ihre Sexualität zu entwickeln begann, ging es wieder etwas langsamer vonstatten. Dennoch waren die Harpyas im Allgemeinen sehr bald ausgewachsen und im zeugungsfähigen Alter. Aellias Volk ging die eigene Freiheit über alles. Sie banden sich nicht, weder im Bezug auf ihre Kinder, noch im Bezug auf die Männer. Selbstlose Mütterlichkeit, oder tiefe Hingabe an einen Partner, waren ihnen fremd, denn das bedeutete sich selbst aufzugeben und all das worauf die Religion ihrer Göttin gründete. Lilithia hatte sich auch nie grenzenlos aufgeopfert, sie war stolz und stark und führte ihr Leben lieber allein, als sich von irgendwas oder irgendwem einschränken zu lassen. Einschränkungen aller Art, bedeuteten unfrei zu werden, sich selbst zu verlieren.
So war reine Selbstlosigkeit kein Wert, den es zu verteidigen lohnte. Zuneigung vielleicht, aber stets nach den eigen Spielregeln und immer freiwillig. Immer mit erhobenem Haupte und dem grenzenlosen Drang nach Freiheit, der sich nichts vorschreiben liess. Wenn die Harpyas sich ein Paradies vorstellten, dann nicht ein Paradies, das von ihnen erwartete sich zu unterwerfen und rein selbstlose Hingabe zu leben. Nein! Das Paradies, dass sie sich vorstellten, liess sie frei leben, liess sie frei entscheiden und respektierte ihre Kraft und Eigenständigkeit, ohne sie verändern oder zähmen zu wollen. Lilithia war in diesem Paradies die Herrscherin, sie wandelte unter ihnen, stärkte sie mit ihrer Gegenwart, uneingeschränkt und machtvoll…
„Was muss eigentlich ein Mann tun, um bei einer Frau deines Volkes Eindruck zu machen?“ riss Nannios Stimme, Aellia aus ihren Gedanken. Im ersten Moment war sie etwas verwirrt und durcheinander und wusste nicht recht was sagen. Ja, was musste ein Mann eigentlich tun, um bei einer Harpya Eindruck zu machen? Das war gar keine so einfache Frage, denn eigentlich schaffte es kein Masculina, wirklich Eindruck bei einer Harpya zu machen. Da emotional keine wirkliche Bindung entstand. Männer waren einfach Erzeuger. Natürlich wählte man sie nach alten archaischen Kriterien aus. Sie mussten gesund sein und sie mussten stark sein. Sie mussten fähig sein gute, gesunde Kinder zu zeugen. So war es auch im Reich des dunklen Mondes üblich, dass die Männer ihrer Fähigkeiten unter Beweis stellen mussten. Das taten sie dann auch jeweils, indem sie ihrer Geschicklichkeit z.B. durch ihre Flugkünste anpriesen. Auch Mut und Entschlossenheit, waren dabei wichtig. Wäre ein Masculina während des Paarungsfluges verunglückt, er wäre beim Volk der Harpyas zum Gespött geworden und keine Frau hätte ihn danach nochmals auserwählt. Andere Charakterstärken, wie z.B. die Liebesfähigkeit eines Masculinas, Verantwortungsbewusstsein, das alles spielte bei den Harpyas keine Rolle. Denn die Väter hatten sowieso nicht viel mit der Erziehung der Kinder zu schaffen und es war auch nicht ihre Aufgabe, eine Frau dauerhaft glücklich zu machen. Sie waren und blieben reine Erzeuger und wurden nie zu festen Partnern. Ausser vielleicht zu besonders begünstigten, wenn sie einer Frau sexuell besonders viel bieten konnten, oder sonst unterhaltsam waren. Auch das waren wichtige Kriterien bei der Zeugungsfrage. Doch wie sollte sie das Nannios bloss erklären? Er lebte sicher in einer ganz andern Welt, auch in dieser Hinsicht. Sie hatte die lunarischen Paare beobachtet und ihre tiefe Verbindung gespürt. Es waren hier ganz andere Faktoren, die neben den archaischen eine Rolle spielten. Ein Mann wurde hier bestimmt nach komplexeren Kriterien auserwählt. Vielleicht war es hier wichtig, dass er auch ein guter Vater war und seiner Partnerin auf längere Sicht etwas bieten konnte. Es war bestimmt komplizierter, als bei den Harpyas, doch eben auch liebevoller, mit mehr Nähe… Diese Gedanken verunsicherten Aellia sehr und sie schaute Nannios etwas hilflos an. Seine Augen blickten erwartungsvoll. Ihm war ihre Antwort wichtig, das spürte sie. Er interessierte sich wirklich für sie.
„Warum willst du das denn wissen?“ fragte sie, so schlagfertig wie möglich. „Nun…es interessiert mich sehr, wie ihr bei euch so lebt. Ich finde dich sehr interessant. Du strahlst etwas aus, etwas, dass ich noch nie zuvor erlebt habe. Es ist so eine Stärke, so etwas Ungreifbares und doch Faszinierendes. Ein Mann dem du deine Gunst schenkst, muss sehr glücklich sein.“ Als Aellia das hörte, atmete sie tief auf. Seine Worte trafen sie völlig unvorbereitet und wieder nagten Schuldgefühle an ihr. Wenn er gewusst hätte, wie die Männer in ihrer Welt lebten… Es war ihr, als stürze sie plötzlich in einen tiefen Abgrund. Sie versuchte sich aufzufangen, aber etwas presste sie immer weiter nach unten. Sie verlor einen Augenblick lang gänzlich ihren Halt und… kippte nach vorn. Starke, entschlossene Hände, hielten sie fest. Es waren jene von Nannios. „Was um alles in der Welt ist mit dir?“ fragte er besorgt. „Du wärst beinahe gestürzt.“ „E… es ist wohl dieses Klima hier. Es setzt mir etwas zu, “ erwiderte sie geistesgegenwärtig. Sie war nun wieder klar im Kopf, aber sie konnte einfach diese Schuldgefühle nicht abschütteln. Sie fühlte sich Nannios gegenüber auf einmal so jämmerlich und klein. Er schätzte sie offensichtlich. Er hatte Gefallen an ihr gefunden, obwohl sie so ganz anders, ja auch etwas furchteinflössend wirken musste. Sie blickte auf ihre dunkle Haut, auf die schwarzen, langen Locken, die ihr wallend über die Schultern und auch etwas über ihre nackten Brüste, fielen. Dann schaute sie ihn an, dessen Haut, Federn und Haare das genaue Gegenteil von ihr waren. Was fand er an ihr? Und was…fand sie eigentlich an ihm? Wie konnte es sein, dass er sie so durcheinander brachte, dass sie das erste Mal ihr Leben als Harpya hinterfragen liess?
Was an ihm, trieb sie so in eine Identitätskrise? Warum leuchtete dieser silberne Mond hier so hell und schlug sie je länger je mehr, ähnlich wie der dunkle Mond, in seinen Bann? Warum glaubte sie auf einmal Lilithia sei hier auch gegenwärtig, aber anders als sie sie kannte, anders als sie sie sich stets vorgestellt hatte? Sie spürte ihre Nähe wieder, vertraut und doch so fremd. Wie… dieser junge Lunarier, der hier neben ihr sass. Sie überlegte was sie ihm antworten sollte, um sich ihrer Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Dann meinte sie: „Ich fühle mich geehrt durch deine Worte Nannios. Aber ich glaube nicht, dass ich sowas Besonderes bin. Ich bin einfach anders, ganz anders und… unsere Welten sind wie der Tag und die Nacht, so verschieden. Ich würde einen Mann deines Volkes kaum glücklich machen.“ „Das glaube ich nicht, du… bist so einzigartig, so leidenschaftlich. Starke Frauen sind das grösste Geschenk, das ein Mann erhalten kann.“ „Die Eigenschaften die du beschreibst…, sie mögen teilweise auf mich zutreffen, doch glaube mir, sie haben auch ihre Schattenseiten. Schattenseiten, die du nicht kennenlernen willst!“ „Schattenseiten hat doch jeder. Ich fürchte mich nicht vor diesen Schattenseiten, denn ich sehe so viel Wunderbares in dir! Du bist so unbeugsam und so stolz, du gehst deinen eigenen Weg. Du lässt dir nichts aufzwingen. Du wärst bestimmt eine wundervolle Mutter, welche ihren Kindern Halt und einen guten Start ins Leben gäbe. Du wärst eine wundervolle Partnerin, voller Leidenschaft, die einen Mann in den siebten Himmel entschweben lassen kann, durch ihre Anziehungskraft ihre einzigartige, erotische Ausstrahlung. Du bist so wunderschön Aellia. So wunderschön…!“ er neigte sich zu ihr herüber und begann eine Strähne ihres Haares um seinen Finger zu wickeln, dann strich er mit der Aussenfläche seiner Hand dem Haar entlang nach unten, bis zu ihrem schlanken Hals. Auch dort streichelte er sanft über ihre glatte, hellpurpurne Haut. Sie liess es geschehen, denn ihr Herz klopfte auf einmal wild und in ihrem Unterleib, regte sich erneut diese gewaltige Leidenschaft. Und diesmal wollte sie sich nicht dagegen wehren. Die Worte, welche Nannios zu ihr gesprochen hatte, waren so wundervoll, so aufrichtig gewesen und nun kam es nicht mehr drauf an ob sie sich erst kurz kannten, oder so verschieden waren. Sie spürten beide eine einzigartige Verbindung, die eigentlich schon von Anbeginn zwischen ihnen bestanden hatte. Sie war bereit sich mit diesem Mann zu paaren, weil er ihr gefiel, wie noch nie zuvor ein Mann.