Aellia schaute hinüber auf ihre Heimatstadt. Ein Gefühl der Liebe und Zugehörigkeit erfüllte sie. Die Obsidian Stadt war ein Wunderwerk, von der Hand ihres Volkes erbaut, einem Volk von selbstbewussten, eigenständigen Frauen, die sich nichts vorschreiben liessen, weder von irgendeinem männlichen Gott noch sonst einer männlichen Autorität.
2. Kapitel
Es wurde nun langsam Zeit nach Hause zurück zu kehren. Nach einem letzten Gruss an die grosse Göttin erhob sich Aellia mit rauschenden Schwingen in die Lüfte und flog schnell wie der Wind, auf die Obsidian Stadt zu. Sie wich den verschiedenen Planetenfragmenten die überall schwebten geschickt aus, drehte eine Runde über die Gärten, die schon etwas Grün trugen und flog noch einmal um die mächtige Stadt herum, die aus gewaltigen Obsidian Quadern gefertigt war. Drei riesige Terrassen, verziert mit Vogelköpfen, umspannten die oberste Hälfte der Pyramide, wo die Quartiere der Priesterinnen und des Königinnenadel sich befand. Die untere Hälfte war bestückt mit kleineren, vereinzelten Balkonen. Dort lebte die Krieger- und Jägerkaste. Die Bürgerlichen wohnten am Fuss der Pyramide in kleineren Häusern. Es herrschte bei Nacht reger Betrieb hier, denn die Harpyas schliefen vorwiegend am Tag und nachts gingen sie ihrem Tagewerk nach, da sie dann von der dunklen Mondgöttin gestärkt wurden.
Als Aellia schliesslich auf der zweitobersten, gewaltigen Terrasse landete und die hohen Gemächer der Priesterschaft durchquerte, kam ihr eine andere Priesterin entgegen. Sie trug das Armband der Novizinnen. Es war silbern und mit durchsichtigen, weisslichen Steinen besetzt. Aellia trug dasselbe Armband. Wenn die Priesterinnen ihr Noviziat hinter sich hatten, bekamen sie ein Armband mit roten Steinen. Erst wenn sie jedoch eine wichtige Position im Orden erhielten, oder sonst besondere Verdienste zu verzeichnen hatten, bekamen sie eines mit schwarzem Regenbogenobsidian. „ Kelana will dich sehen“, sprach die Priesterin, welche Aellia entgegenkam. Kelana war die Hohepriesterin, sie schien grosse Stücke auf Aellia zu halten, denn sie übertrug ihr stets wichtige Aufgaben. „Es scheint dringlich zu sein, denn die Königin ist auch anwesend.“ „Was die Königin? Dann muss es in der Tat wichtig sein, “ meinte Aellia erstaunt. „Wo warst du denn?“ fragte die andere Novizin, die sich Okeana nannte. „Sie waren etwas verärgert, weil du nicht aufzufinden warst.“ „Ich habe die Göttin auf einem der Nebenscherben begrüsst, ich war…irgendwie so ruhelos. Ich hätte natürlich nichts solches erwartet.“ „Erklär das Kelana und der Königin! Beeil dich!“ Die Angesprochene nickte, flog wieder hinaus auf die Terrasse und machte sich auf den Weg zu den allerobersten Gemächern der Stadt. Dort befand sich auch das Audienzzimmer.
Sie schwebte durch mehrere, düster anmutenden Gänge und Räume, bis sie vor einem grossen dunklen Ebenholz- Tor ankam, welche von zwei Harpyas, in schwarzglänzenden Rüstungen und mit Schwertern in der Hand, flankiert wurde. „Ich bin Aellia- Novizin von Lilithia“, sprach sie mit selbstbewusster Stimme. „Man liess mich rufen.“ „Die beiden Harpyas, von welchen die eine schwarze, die andere rote, kurzgeschnittene Haare besass, nickten mit ernster, wissender Miene und öffneten für sie das Tor. Aellia schwebte in einen riesigen Raum mit einem mondsichelförmigen Thron, der an der Decke mit einem schlicht verzierten Bogengewölbe, befestigt war. Die Wände des Raumes waren ebenfalls aus dunklem Gestein, grosse Säulen stützten den Raum. Sie waren verziert mit den üblichen Vogelköpfen- Symbol für den Himmel und die Luft, und mit Schlangen- Symbol der Unterwelt und Vergänglichkeit. Da Lilithia Himmel und Unterwelt verbunden hatte, waren dies ihre Kennzeichen. Die Unterwelt besass für die Harpyas nichts Bedrohliches, sie war einfach das Reich der Toten. Sie waren die Dienerinnen der uralten Göttin und damit auf ewig gesegnet.
Auf dem Thron sass lässig, eine schöne, hochgewachsene Harpya mit ganz schwarzem Gefieder, schwarzen Flügeln und langen Haaren, welche aussahen wie bläuliches Pech. Ihre Züge waren streng, aber nicht unsympathisch. Ein paar Narben zogen sich über ihren nackten Vorderkörper, Zeugen der vielen Schlachten, die sie schon geschlagen hatte. Ihre Haut war etwas dunkelroter, als die von Aellia. Es war Podargia, die weltliche Herrscherin der Harpyas. Neben ihr in der Luft schwebend, befand sich eine andere Harpya. Ebenfalls sehr schön, aber ein Stück älter als die Königin. Ihr Gefieder und ihre Flügel waren einzigartig, ebenfalls schwarz, aber mit weissen Federn dazwischen. Man sagte, dass diese Federn von ihrer hohen Weisheit zeugten. Ihr schwarzes, schulterlanges, nur leicht gelocktes Haar war bereits durchzogen mit grauen Strähnen. Die beiden Frauen sahen der jungen Novizin etwas missmutig entgegen. Diese schwebte vor den Thron und neigte als Zeichen ihres Respekts leicht den Kopf. Mehr war bei den Harpyas nicht üblich, sie zeigten nie Unterwürfigkeit und es wurde auch nicht von ihnen erwartet. „Verzeiht mir meine Verspätung, “ sprach sie „Ich wollte die Göttin heute auf einem der Nebenplaneten willkommen heissen. Es war eine seltsame Unruhe in mir und ich musste einfach allein sein. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr mich ruft, dann wäre ich natürlich hier geblieben.“ „Wir heissen es immer willkommen, wenn man die Göttin auf diese Weise ehrt“, sprach Kelana in versöhnlichem Tonfall. „Du konntest ja nicht wissen, dass wir dich rufen lassen.“ „Nein Mutter, das konnte ich wahrlich nicht.“ Man nannte die Hohepriesterin unter den Harpyas Mutter, weil sie die Göttin im Irdischen verkörperte und diese ihrer aller Mutter war. Dieser Titel beinhaltete etwas Vertrautes, etwas das die Hohepriesterin nicht zu fern von ihren Priesterinnen entrückte. Kelana war auch nicht überheblich, sie war wirklich wie eine Mutter, wenn auch eine strenge. Die Harpyas jedoch waren sich Strenge gewohnt und Disziplin galt bei ihnen als heilig. Podargia die Königin nickte kurz und sprach dann ohne Umschweife: „Wir haben eine wichtige Aufgabe für dich. Kelana meinte, du seist dafür geeignet. Es handelt sich um eine Angelegenheit, die vorläufig nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte, denn wir wollen unnötige Unruhen oder gar Furcht vermeiden.“...