Sie und Nannios landeten nun im Lager, vor dem grössten Zelt. Dieses schien das Zelt des Königs zu sein, der mit den anderen hierhergekommen war.
Der König kam nun heraus. Er trug eine Rüstung in denselben Farben wie seine Männer, allerdings war seine noch etwas reicher verziert, mit goldenen Ornamenten und dem Mond und der Sonne auf der Brust. Bei ihm waren vier Harpyas. Als Irisa Aellia erblickte, schwebte sie voller Freude auf selbige zu und umarmte sie spontan. „Wir haben uns grosse Sorgen um dich gemacht!“ sprach sie. „Wie ist es dir ergangen? Ich hoffe sie haben dir nichts angetan!“ „Nein, nichts Nennenswertes“, sprach Aellia. Ausserdem hatte ich Hilfe.“ „Hilfe, von wem denn?“ Vom Sohn des solianischen Königs, sein Name ist Trojanas. Er hat mich frei gelassen.“ „Der Königssohn?“ fragte Nannios nun ebenfalls ungläubig „du konntest ihn auf deine Seite ziehen?“ „Ja, das konnte ich. Er hat mich aus den Fängen seines eigenen Vaters befreit.“ Varthemos meinte: „Komm doch herein in mein Zelt, dort kannst du uns alles in Ruhe erzählen.“ Die junge Harpya nickte dankbar und folgte zusammen mit Nannios Varthemos und ihren Schwestern ins Zelt. Dieses war nur sehr schlicht eingerichtet. Der Boden war jedoch ausgelegt, mit weichen Teppichen und Kissen. Der König bat sie auf den Kissen Platz zu nehmen und forderte einen jungen Lunarier auf, ihnen etwas zu essen und zu trinken zu bringen.
Dann forderte er Aellia auf, ihre ganze Geschichte zu erzählen. Die junge Harpya berichtete alles, was sich zugetragen hatte. Nannios und die andren lauschten gebannt. Als Irisa das mit dem wahnsinnigen König hörte, welcher die Harpyas so hasste, wirkte sie sehr erschüttert. Sie sprach: „Ich hätte nie gedacht, dass unsere matriarchalische Gesellschaft so schreckliche Blüten hervorbringen kann. Ich glaube wirklich, es ist an der Zeit, dass sich einiges bei uns ändert. Die Männer sollten es bei uns besser haben. Denn eigentlich ist diese geringe Achtung vor ihnen der Ursprung dieses Krieges, in dem wir uns jetzt befinden.“ „Zum Teil“, erwidertet Aellia. „So etwas hängt immer von verschiedenen Faktoren ab. Die Solianer waren seit jeher ein sehr patriarchisches Volk und sie hatten nie wirklichen Respekt vor den Frauen, oder auch der Göttin. Das es aber so schlimme Ausmasse annahm, dafür ist der König selbst verantwortlich. Er liess sich von seinem Hass zerfressen. Trojanas weiss das und er weiss, dass sein Volk die Göttin viel zu wenig geachtet hat und deshalb auch ihr Gott von der Göttin unterworfen wurde.“ „Ja, dieses Ereignis hat uns auch ziemlich verängstigt“, sprach Nannios. Wir haben so etwas noch nie erlebt. Es war… auch sehr symbolisch für den Kampf, der vor uns liegt.“ „Und dieser Kampf sollte, wenn irgend möglich, verhindert werden“, sprach die Harpya. „Ich habe das mit Trojanas durchgesprochen. Er wird versuchen seinen Vater zur Freilassung der lunarischen Frauen zu bewegen.“
Sie erzählte dem König und den anderen den ganzen Plan, den sie und der solianische Königssohn ausgearbeitet hatten. Alle hörten aufmerksam zu. „Dann sollen wir also um Verhandlungen bitten?“ fragte Varthemos. „Ja, das würde uns Zeit verschaffen und vielleicht… lässt sich Solianas doch noch zur Freilassung der Frauen überreden.“ „Und du meinst also, dass unser Volk, sich dann mit den Solianern paaren würde?“ fragte Irisa mit einer Mischung aus Interesse und Misstrauen. „Ja. Es wäre eigentlich das Beste, weil wir ja zu wenig Männer und sie zu wenig Frauen haben und unsere Völker sich auch sonst in gewisser Weise ähnlich sind.“ Sie nickte entschuldigend in die Richtung des Königs „Was natürlich nicht heisst, dass wir nicht auch lunarisches Blut in unseren Reihen sehr schätzen würden.“ Varthemos nickte verständnisvoll. Er wusste was Aellia meinte. Irisa jedoch sprach: „Ich finde eher dass die Solianer und wir sehr verschieden sind. Bei ihnen sind Frauen wenig geachtet und bei uns die Männer. Das führte zwangsläufig zu Konflikten.“ „Es muss nicht sein. Für die Solianer wie für uns, geht es ums Überleben und wir sind grundsätzlich etwas anders strukturiert als das Volk der Lunarier."Erklärend fügte sie hinzu: „Ich meine damit, dass das Volk des Silbermondes andere Beziehungsstrukturen hat, sich auch fest bindet, was bei den Harpyas und Solianern eher weniger der Fall ist. Ich jetzt nicht mitgerechnet.“ Sie lächelte in Nannios Richtung und er nahm ihre Hand in seine. „Aber grundsätzlich ist es doch so, dass diese, wenn auch indirekte Ähnlichkeit viele Vorteile mit sich bringen kann und wir uns ergänzen könnten. Das Schicksal der Lunarierinnen hängt doch schlussendlich davon ab, dass wir andere Lösungen finden. Trojanas sah den Nutzen dahinter und bestimmt werden auch den meisten andern Beteiligten, den Nutzen dahinter sehen und die Lunarier erhalten ihrer Frauen zurück.“ Der König nickte und auch Nannios und die Harpyas. „Nun gut“, meinte Varthemos „dann werden wir den solianischen Herrscher also um Verhandlungen bitten. Mögen die Götter uns gnädig sein!“
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Trojanas machte sich, als der Morgen graute, sogleich auf den Weg zu seinem Vater. Etwas mulmig war ihm schon bei der Sache, doch er glaubte immer noch, dass Solianas mit sich reden liess. Es war das Vertrauen eines Sohnes in seinen Vater, welches ihn antrieb und die eigene sicherer Gewissheit, dass diese Lösung die beste für alle war.
Er fand seinen Vater im Thronsaal. Er verhandelte mit einigen solianischen Anführern. Unter ihnen war ein Mann, welcher etwas älter als Trojanas war. Es war sein Halbbruder Taumanas. Er hatte ein spitzes Gesicht und einen verkniffenen, schmalen Mund. Seine Augen waren dunkelbraun und wölbten sich etwas aus seinem Gesicht heraus, was sein eher unsympathisches Aussehen noch verstärkte, da er dadurch einen seltsam stechenden Blick erhielt. Sein halblanges Haar war rot, sein Gefieder jedoch, wie jenes seines Vaters schwarzrot. Er glich Solianas eigentlich deshalb etwas mehr, als Trojanas.
Als dieser nun in den Raum hinein schwebte, heftete sich der Blick des älteren Bruders auf ihn. Auch sein Vater drehte sich nach ihm um. Sein Ausdruck war kalt, er hatte ihm noch nicht verziehen, dass er ihm die Harpya einfach so weggenommen und ihn auch noch auf so unverschämte Weise in Frage gestellt hatte. „Wo ist sie?“ fragte er mit finsterer Miene. Taumanas schien es zu gefallen, dass sein ungeliebter Bruder nun in der Gunst seines Vaters gesunken war. Nun war endlich er mal an der Reihe. So lächelte er Trojanas sarkastisch und voller Genugtuung an. Dieser erwiderte den Blick ungerührt.
„Ich habe sie frei gelassen“, sprach er dann und sein Puls begann auf einmal zu rasen, auch wenn seine Stimme fest und sicher klang.
Die Augen des Königs verengten sich und unbändiger Zorn spiegelte sich in seinem Gesicht. „Freigelassen!“ stiess er hervor. „Wie nur konntest du es wagen! Wir hatten eine Abmachung!“ „Es war nicht so direkt eine Abmachung Vater, ich gab dir nie mein Wort darauf. Ich konnte sie dir nicht mehr überlassen und ich glaube, dass es bessere Lösungen gibt.“ „Taumanas zückte sein Schwert. „Das ist Hochverrat, darauf steht der Tod!“ Trojanas blieb gelassen und meinte: „Ich habe mich nicht des Verrates schuldig gemacht, nur weil mir das Wohlergehen unseres Volkes am Herzen liegt. Die Göttin zürnt uns und wir haben grosse Schuld auf uns geladen, als wir die Lunarierinnen einfach entführten. Wir hätten von Anfang an verhandeln sollen, anstatt einem fremden Volk einfach seine Frauen zu stehlen. Die Lunarier sind ganz anders als wir, sie gehen feste Bindungen ein und bei ihnen sind alle gleichwertig. Sie sind uns in vielem voraus und sie hätten uns sicher geholfen. Den Harpyas haben sie ihre Hilfe bereits zugesagt. Dort herrscht Männermangel, so wie bei uns Frauenmangel herrscht.“ „Die mächtigen Harpyas haben also ebenfalls ein schwerwiegendes Problem“, stellte Solianas schadenfreudig fest. „Das geschieht ihnen recht. Sie sind selbst Schuld daran!“ „Wir… haben genau dasselbe Problem“, sprach Trojanas „und auch wir haben uns das selbst zuzuschreiben wegen unserer frauenverachtenden Haltung. Das geht einfach nicht mehr weiter so!“ Seine Worte lösten Bestürzung bei den anwesenden Solianer aus. Niemand hätte es jemals gewagt, so mit dem grossen König zu reden. Doch Trojanas sprach weiter, getrieben von einem ungestümen Idealismus. „Bitte Vater, überlege dir das gut! Wir werden bald einen Krieg hier haben, wenn die Lunarier ihre Frauen zurückholen wollen. Ich habe Aellia zu ihnen geschickt, damit sie noch warten mit dem Angriff. Wir sollten mit ihnen verhandeln und die Frauen… freilassen.“ „Die Frauen freilassen?“ Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren Trojanas!“ rief sein Vater. „Unser Überleben hängt davon ab, dass wir uns mit ihnen paaren.“ „Nein, wir dürfen ihnen das nicht antun. Die Harpyas wären bereit uns zu helfen. Aellia wird die nötigen Schritte in Angriff nehmen.“ „Die Harpyas!!“ Die Stimme des Königs überschlug sich beinahe vor ungläubigem Zorn. Seine Augen funkelten dabei so irrsinnig auf, dass die anderen Anwesenden einen Schritt vor ihm zurückwichen. Der König scheuchte alle aus der Tür, nur Taumanas blieb hier. Als sie allein waren wandte sich Solianas wieder seinem Jüngeren zu: „Wie kannst du sowas nur in Erwägung ziehen Trojanas, du bist vollkommen verrückt! Niemals werden wir uns mit diesen Huren paaren und wenn dann nur um sie zu demütigen, sicher nicht um mit ihnen Kinder zu zeugen!“ „Aber es ist schlussendlich der beste Weg Vater. Du darfst doch nicht das Schicksal unseres Volkes besiegeln, indem du dieses Angebot ablehnst, nur weil du von persönlichem Hass getrieben bist und so zu den Harpyas stehst!“ „Wir brauchen diese Miststücke nicht, wir haben die Lunarierinnen!“ „Das ist ja der Punkt. Das wird einen Krieg auslösen.“ „Na und wenn schon?! Wir sind uns Kriege gewohnt und du warst bisher einem kleinen Gefecht nie abgeneigt. Wir werden diese Lunarier wie Insekten unter unseren Füssen zerquetschen. Sie haben keine Chance gegen uns und unser Fortbestand ist gesichert.“ „Ich glaube du unterschätzt dieses Volk gewaltig Vater. Es ist von einer andern Kraft getrieben als wir und sie werden gewaltige Kräfte entwickeln. Die Kraft die sie antreibt ist Liebe und Hingabe.“ „Liebe und Hingabe?“ lachte der König auf. „Was sollen diese Kräfte schon anrichten.“ „Mehr als du denkst Vater, viel mehr als du denkst.“ Trojanas wurde auf einmal nachdenklich und dachte an Aellia und die wunderbaren Stunden die sie zusammen verbracht hatten. Der solianische König blickte seinen Sohn an, dann lachte er spöttisch auf. „Sieh an sieh an, es macht ganz den Eindruck, als hättest du einen Narren an dieser harpischen Hure gefressen. Das erklärt natürlich alles! Du bist kein Solianer mehr Trojanas, du bist nur noch eine Witzfigur.“ Die Worte seines Vaters trafen den jungen Mann zutiefst. „Ich dachte, dass du mich liebst Vater, ich jedenfalls habe dich immer geliebt, warum erniedrigst du mich auf solche Weise?“ „Weil es den Tatsachen entspricht. Du hast dich von dieser Harpya einwickeln lassen, wie ein liebesblinder Narr, der alles um sich herum vergisst, nur um der Dame seines Herzens zu gefallen. Ich schäme mich so sehr für dich. Und dich wollte ich zu meinem Nachfolger machen.“ Trojanas der unter den Worten seines Vaters etwas in sich zusammengesunken war, straffte nun seine Schultern wieder und sah dem König direkt in die Augen. „Du willst also die Lunarierinnen nicht frei lassen und auch den Krieg nicht verhindern, Vater?“ „Nein das will ich nicht“, gab der Gefragte gleichgültig zurück. „Nun… wenn das so ist… “ Trojanas fasste an sein Schwert „Dann werde ich dich zum Zweikampf herausfordern müssen. Ich hätte das gern vermieden, aber nun geht es nicht anders. Ich muss so handeln.“ Solianas zuckte bei diesen Worten kurz zusammen, doch dann meinte er eiskalt. „Du bist eines Zweikampfes mit mir nicht würdig, den dein Geist ist verwirrt. „Wache!“ einige Soldaten mit roten Rüstungen betraten den Raum. „Nehm ihn fest und werft ihn in den tiefsten Kerker der Stadt! Taumanas wird in Zukunft der Anführer der Armee und meine rechte Hand sein.“ Taumanas schaute seinen Vater ungläubig an. „Du willst mich tatsächlich erwählen? Oh Vater, das ist der wundervollste Tag meines Lebens!“ „Das kannst du nicht einfach tun!“ schrie Trojanas. „Jeder hat das Recht einen Zweikampf mit seinem König zu fordern. So kamst auch du einst an die Macht.“ „Diese Regelung gilt nur für normale Leute, keine Hochverräter und geistig Umnachtete.“ „Ich bin nicht geistig umnachtet!“ stiess Trojanas hervor. „Doch du bist es, Vater!“ Ich diesem Augenblick traf ihn ein harter Schlag auf den Kopf und er wurde bewusstlos.