Das ungewohnt selbstsichere Auftreten einer männlichen Harpya, befremdete Aellia etwas. Irgendwas ärgerte sie an diesem Nannios. So erwiderte sie etwas spitz: „Bevor ich euch meinen Namen verrate, würde ich gerne wissen, mit wem ich es zu tun habe.“ Der Drakonier antwortete diesmal: „Nannios ist der Sohn der Hohepriesterin des Volkes der Lunarier. Sie haben sich so benannt, nach der Mondgöttin Lunaria, die sie verehren. Ich habe dich aufgefangen, als du hinab auf diesen Planeten gestürzt bist und habe dich hierhergebracht, damit man dich gesund pflegt. Deine Flügel waren verletzt, aber auch dein Rücken. Die Heiler haben dich wieder zusammengeflickt. Du kannst froh sein, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Nannios hat sich deiner angenommen, er hat selbst erstaunliche Heilkräfte. Ich denke deshalb, dass du ihm deinen Namen ruhig verraten darfst.“
Erneut stieg Ärger in der Harpya auf, doch sie respektierte das Volk der Drakonier- oder Drachen. Es war ein uraltes Volk, mindestens so alt wie die Harpyas und hatte sich ihrem Volke gegenüber immer freundlich gezeigt. Ausserdem war sie etwas beschämt, da Nannios sich scheinbar sehr um sie gekümmert hatte. So sprach sie an den jungen Mann gewandt: „Mein Name ist Aellia. Ich gehöre zu einem andern Stamm, der dem euren sehr ähnlich ist. Unsere Göttin ist die grosse Lilithia.“ „Lilithia ist die dunkle Mondgöttin“, erklärte der Drakonier an Nannios gewandt. „Wenn das so ist, dann kennen wir sie auch. Sie steht einmal im Monat an unserem Himmel.“ „Nur einmal im Monat?“ fragte Aellia, welche diese Vorstellung schrecklich fand. „Ja, sie ist ein Aspekt unserer geliebten Lunaria.“ „Nur ein Aspekt!?“ rief Aellia wütend aus. „Lilithia ist die einzig wahre Göttin, und sie ist in unserer Welt stets gegenwärtig und stärkt uns!“ „In eurer Welt herrscht immer der dunkle Mond? Ist das nicht sehr trostlos?“ fragte Nannios, nichts ahnend, welchen Zorn er dadurch auf sich laden würde. „Trostlos!?“ rief Aellia aus. Ihr Blut geriet in Wallung. „Von wegen trostlos! Es ist eine wunderbare Welt, eine Welt der Lilithia. Besonders gesegnet.“ Nannios wollte etwas erwidern, aber der Drakonier warf ihm einen Blick zu, der ihn zum Schweigen anhielt. Er nickte ihm zu und der dreiste Masculina entfernte sich.
Die junge Harpya rang um Fassung. „Was für einen Beleidigung der grossen Göttin!“ rief sie aus. „Nur ein Aspekt dieser Lunaria, eine trostlose Welt in der wir leben sollen, was erlaubt er sich!?“ Der Drache legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Aellia zuckte wütend zurück. Sie mochte es nicht wenn sie angefasst wurde, ausser wenn sie es selbst erlaubte. Immerhin war und blieb dieser Drache auch männlich und Männer jeglichen Volkes, hatten sie nicht einfach ohne ihre Erlaubnis zu berühren. Dem Drakonier wurde das jetzt erst richtig bewusst und er zog schnell die Hand zurück. „Entschuldige, ich wollte dich nur beruhigen! Du darfst dich nicht so aufregen, die Lunarier leben ein ganz anderes Leben als dein Volk und ihre Gottheit ist etwas anders. Doch sie hat viel mit Lilithia zu tun.“ „Das glaube ich kaum, niemand ist Lilithia gleich!“ „Dasselbe denken die Lunarier auch von ihrer Göttin. Und all die andern Völker auf der weiten Welt haben wieder andere Gottheiten.“ Bevor die Harpya erneut widersprechen konnte, meinte der Drakonier: „Ich werde dich am besten mal etwas nach draussen begleiten. Gerade steht Lunarias Symbol- der silberne Mond in seiner vollen Pracht am Himmel, vielleicht erkennst du dann, warum ich sage sie und Lilithia sind sich ähnlich.“
Die Harpya bewegte ihre Flügel, ein unangenehmer Schmerz durchzuckte sie dabei. Dennoch die Flügel trugen sie und das war sehr beruhigend. „Du hattest wirklich grosses Glück, deine Federn waren nur sehr gering beschädigt. Dennoch…ein paar mussten wir ersetzen, damit deine Flugfähigkeit nicht beeinträchtig wird. „Ihr habt mir einige Federn ersetzt!?“ rief Aellia erschrocken aus und flog zu einen mächtigen, im Raum stehenden Spiegel, welcher mit Rankenmustern und oben mit einem steinernen Stierkopf, geschmückt war. Sie drehte sich halb um und schaute auf ihre Flügel. Dort wo sie zusammenliefen, entdeckte sie ein paar weisse Federn. „Bei der grossen Lilithia! Ihr habt weisse Federn genommen? Das passt doch gar nicht zu meinem Gefieder!“ „Es gab leider keine geeigneten Federn in Rot oder Schwarz. Die meisten hier haben hellere Gefieder: In Weiss, Silbern Grün oder Blau. Wir dachten, weisse passen nicht schlecht zu Schwarz und Rot.“ „Banausen!“ wollte Aellia ausrufen, doch sie hielt sich zurück. Wichtig war doch eigentlich, dass sie noch immer fliegen konnte. Vielleicht liessen sich die weissen Federn ja durch rote oder schwarze ersetzen, wenn sie nach Hause zurückkehrte. „Nun ja,…“ meinte sie. „Es war sicher die beste Lösung.“ Der Drakonier grinste etwas in sich hinein, doch sie bemerkte es nicht. „Dann also schauen wir uns mal etwas um hier!“ sprach die Harpya herrisch. „Ich muss ja schliesslich wissen, in was für einer Welt ich gelandet bin!“ „Wie ihr wünscht“, sprach der Drache mit galanter Stimme. Einen Moment lang wusste Aellia nicht, ob er sich über sie lustig machte. „Übrigens, wie ist eigentlich dein… euer Name?“ fragte sie „Mein Name ist Mangios. Ich gehöre zu den Roten Drachen. Es gibt aber auch noch die Blauen Drachen, die Grünen und die Goldenen. Unsere Stämme leben weit voneinander entfernt. Ich war gerade auf dem Heimweg von einem Besuch bei meinen blauen Brüdern und Schwestern, als ich das grosse Meer überquerte und dich auffing.“ „Ich möchte mich dafür nochmals herzlich bei dir bedanken“, sprach Aellia. „Ohne dich, wäre ich bestimmt auf diesem fremden Planeten hier zerschellt. „Du wärst vermutlich eher im grossen Meer gelandet, was wohl nicht minder tödlich gewesen wäre.“ „Was ist eigentlich das Grosse Meer?“ fragte Aellia, während sie dem Drachen nach draussen folgte. „Es ist der mächtigste Ozean, den es hier auf dem Planeten gibt. Er entstand vor ewig langer Zeit, als sich eure Welt durch gewaltige Umwälzungen von diesem Planeten hier absplittete und in den endlosen Raum hinauf katapultiert wurde. Ein klaffendes Loch entstand dadurch in dem die Ur- Ozeane zu grossen Teil zusammenflossen. Seither schwebt das Land des dunklen Mondes weit entfernt von hier, ganz am äussersten Rand der planetarischen Atmosphäre und unmittelbar unter ihm befindet sich eben das Grosse Meer. Es grenzt an ein Wunder, dass euer Reich nicht ganz in der Unendlichkeit verschwand, sondern immer noch an derselben Stelle schwebt. Wir haben keine Erklärung dafür, aber es ist so und ihr habt euch einst dort angesiedelt und euch den einzigartigen klimatischen und sehr kargen Bedingungen angepasst. Bestimmt wirst du dich an das Klima hier erst gewöhnen müssen. Es hat hier viel mehr Sauerstoff in der Luft und auch keine so starken, vulkanischen Aktivitäten wie bei euch. Es kann sein, dass dir zeitweise etwas schwindlig wird und du Herzrasen kriegst, aber bisher war es noch nicht besorgniserregend. Du hast dich schon ein wenig an diese Welt gewöhnt.“ Mangios hatte Recht. Es war Aellia wirklich schon etwas schwindlig geworden und auch ihr Herz klopfte manchmal plötzlich etwas schneller, aber sie hatte dem keine grosse Beachtung beigemessen.
Sie machte sich jetzt auch viel mehr Gedanken darüber, was der Drache ihr gerade über ihr Reich erzählt hatte. Es sollte nur eine Absplittung von dieser Welt hier sein? Diese Erkenntnis traf sie ziemlich. Sie hatte immer gedacht, dass die Harpyas was Besonderes seien, das die grosse Göttin allein ihnen, diese Welt geschenkt hatte. Doch nun…war alles anders. „Ich glaube schon, dass euch Lilithia diese Welt geschenkt hat“, sprach der Drache, als habe er ihre Gedanken gelesen. „Euer Glaube war stark und ihr brauchtet wirklich göttlichen Beistand, um euch an die Extrembedingungen dort oben zu gewöhnen und ein würdiges Leben zu führen. Ausserdem sagte ich bereits, es grenze an ein Wunder, dass ihr dort überhaupt sein könnt. Ohne abzustürzen, oder in die Stratosphäre hinauf gezogen zu werden. Eine göttliche Macht die das zusammenhält? Es wäre gut möglich.“