Gerade als er das sagte, blieb Aellia regungslos in der Luft stehen und schaute sich erstaunt um. Sie befanden sich draussen auf einer Art Plattform, welche in eine senkrechte Felswand eingelassen war. Die Plattform war überdacht mit einem runden Geflecht aus Ästen. Sie schaute links und rechts den Steilwänden entlang. Überall gab es solche Plattformen. Sie sahen aus wie Nester, die an den Fels geklebt waren. Wenn man nach oben schaute, erblickte man auf der höchsten Bergspitze ein domartiges Gebäude, aus weisslich schimmerndem Kristall und einem Dach aus bunten Ziegeln in königsblau, smaragdgrün und Gold. Tief unter sich, sah Aellia einen Fluss, der sich durch eine zerklüftete Schlucht schlängelte. Er war Teil eines Schluchtensystems mit wunderschönen, eindrücklichen Wasserfällen, deren Gischt im silbernen Licht eines hellen, kreisrunden Mondes glitzerte.
Dieser Mond schlug Aellia sofort in ihren Bann. Er sah wirklich genauso aus wie der Mond aus ihrer Welt, nur dass er aus flüssigem Silber zu sein schien. „Ich stelle vor, die grosse Lunaria!“ sprach der Drakonier „Wie du siehst, sieht sie Lilithia sehr ähnlich, nur das eurer Mond immer schwarz ist. Auch dieser Mond hier wird einmal im Monat schwarz. Man sagt, dass dann der kriegerische Teil der Göttin sichtbar wird. Früher als die Lunarier in die Schlacht zogen, achteten sie so gut es ging darauf, dass dies zur Zeit des dunklen Mondes geschah, dann war die Aussicht auf Erfolg grösser. Die Zeit des silbernen, des vollen Mondes, wie du ihn jetzt siehst, wurde als heilige Zeit des Friedens und der Zusammengehörigkeit angesehen. Zu dieser Zeit, haben die lunarischen Frauen auch meist ihre fruchtbare Zeit. Also einmal im Monat.“ „Einmal im Monat?!“ rief Aellia aus „aber dann können sie viel zu oft schwanger werden, das ist doch unpraktisch. Da müssen sie ja stets keusch leben, wenn sie keine Kinder wollen.“ „Es gibt schon Mittel und Wege, eine ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden, ausserdem können sie ihre fruchtbaren Tage anhand der Mondzyklen ziemlich genau berechnen. Das ist der Vorteil, wenn die Göttin sich verändert. Manchmal sieht man auch nur einen Teil von ihr am Himmel. Sie nimmt zu und dann wieder ab.“ „Aber dann ist ihre Kraft nicht mit jener von Lilithia zu vergleichen, weil unsere Göttin immer in ihrer ganzen Kraft gegenwärtig ist.“ „ Dass Lunaria nicht immer voll sichtbar ist, heisst nicht, dass sie nicht stets gegenwärtig ist“, gab der Drache etwas geheimnisvoll zur Antwort. „Doch! Was denn sonst? Ich möchte keine solche Göttin! Lunaria ist Lilithia überhaupt nicht ähnlich.“ „Doch sie sind sich ähnlich, sogar sehr ähnlich, “ meinte der Drache „Aber vielleicht wirst du das eines Tages erkennen, jetzt da du hier bist. Diese Welt ist ganz anders als die eure. Du siehst, dass die Lunarier auf andere Weise leben. Sie leben in einem sehr fruchtbaren Land, wo es Wasser und Vegetation in Hülle und Fülle gibt. Vielleicht findest du Gefallen daran. Nannios wird dich sicher gerne näher über die hier gebräuchlichen Sitten unterrichten.“ „Nannios!“ meinte Aellia verächtlich. „Er ist doch nur ein Masculina, warum übernimmt das nicht eine Frau?“ „Auch das ist an diesem Ort anders. Es gibt hier keine solchen Masculinas, wie bei euch. Es herrscht Gleichberechtigung. Nur mit dem Unterschied, dass die Priesterschaft noch immer von Frauen angeführt wird, hingegen das Königtum, von einem Mann.“ „Ein Mann ist hier König?!“ Aellia konnte es kaum glauben. „Aber Männer taugen nicht zu so einer Position!“ „Nun, König Varthemos scheint mir sehr fähig zu sein. Er ist ein guter, weiser Herrscher.
Die Hohepriesterin Artemia, die Mutter von Nannios, arbeitet eng mit ihm zusammen und Varthemos hört sehr auf ihren Rat.“ „Übrigens wird heute Nacht gerade das Fruchtbarkeitsfest gefeiert. Da treffen sich weibliche und männliche Lunarier zur Paarung. Auch der König paart sich jeweils mit einer der Priesterinnen. Diese rituelle Vereinigung ist Symbol für die Vereinigung der Mondgöttin und des Sonnengottes Heliosus. Sein Symbol wirst du sehen, wenn die Lange Nacht vorbei ist. Bei euch gibt es keine Sonne, darum wirst du dich erst an sie gewöhnen müssen. Sie ist ziemlich hell und wird deinen Augen anfangs schmerzen, da sie sich stetiges Zwielicht und teilweise absolute Dunkelheit gewöhnt sind.“ „Es gibt hier einen männlichen Gott!“ rief Aellia. „Wir verehren keine männlichen Götter! Die männlichen Götter wollten Lilithia einst unterwerfen. Wir lassen uns niemals unterwerfen! Lilithia hat sich stets nur mit jenen gepaart, die sie selbst ausgesucht hat. Anders…als diese Lunaria.“ „Ich glaube, solche Diskussionen musst du mit einem der Lunarier führen. Wir Drachen, haben eine etwas andere Religion.“ „Was denn für eine?“ „Ich möchte dich damit nicht langweilen. Ausserdem muss ich langsam aufbrechen, ich sollte wieder nach Hause.“ „Aber wie komme ich denn nach Hause?“ „Es wird noch eine Weile dauern, bis dich ein Drachenschiff mitnehmen kann. Vermutlich beim nächsten Vollmond. „So lange muss ich hier warten?!“ „Es geht leider nicht anders. Vielleicht wird das für dich noch ganz interessant. Immerhin lernst du mal ein anderes Volk besser kennen, das ebenfalls eine sehr interessante Kultur hat. Schau dich doch einfach etwas um, wohne dem Fruchtbarkeitsfest bei und tausche dich etwas mit Nannios aus!“ Die Priesterin wollte protestieren, doch dann kam ihr auf einmal ein Gedanke. War sie nicht sogar beauftragt worden, andere Völker zu suchen und mehr über sie herauszufinden? Dies hier war die ideale Voraussetzung dazu. Sie würde alles über dieses Volk in Erfahrung bringen. Sich einfach so unauffällig wie möglich verhalten, um genug Informationen zu sammeln. Dann, wenn sie nach Hause zurückkehrte, würde sie ihren Gefährtinnen alles über die Lunarier berichten. Dann konnten die Harpyas endlich neue Masculinas beschaffen. Sie lächelte etwas verschlagen in sich hinein, als sie sich vorstellte das Nannios auch ins Land des dunklen Mondes gebracht wurde. Vielleicht war er ja gar kein so übler Zeitvertreib? Etwas faszinierte sie an diesem Lunarier und vielleicht würde sie ihm die Ehre erweisen, der Vater ihrer ersten Tochter zu werden…
Gerade als sie das dachte, kam der Sohn der Hohepriesterin angeflogen. Er schwebte einen Moment vor ihnen in der Luft, und sein weisses Gefieder glänzte im Licht des Silbermondes magisch auf. Auch in seinen silbernen Haaren verfing sich der sanfte Mondschein und erzeugte einen überirdischen Schimmer. Seine Flügel rauschten und er liess sich ganz dicht vor ihr auf der Plattform nieder. Sein Lächeln war strahlend und anziehend und seine Augen, welche sie nun direkt anblickten, besassen ebenfalls einen leichten wolfsähnlichen Schimmer.
„In deinen Augen fliesst das Licht der grossen Lunaria“, sprach er auf einmal. Er schien keinerlei Groll gegen sie zu hegen, obwohl sie vorhin eher unhöflich zu ihm gewesen war. Als er das so sagte, begann ihr Herz auf einmal seltsam zu klopfen. Sie wusste nicht warum, es war eigenartig. Etwas das sie bisher noch nie empfunden hatte. Dieser Masculina besass etwas, das sie in seinen Bann schlug. Er war so anders und doch… sie fegte diese verwirrenden Gedanken weg und erwiderte: „Meine Augen sind immer so silbern im Dunkeln. Je dunkler er ist, desto heller leuchten sie. Die grössten Leuchtkraft bekommen sie, wenn die grosse Lilithia sie bescheint.“ „Ja, sie ist die dunkle Mondgöttin, ich weiss und die Herrscherin eurer Welt. Habt ihr eigentlich auch so ein Fruchtbarkeitsfest, wie wir es haben?“ „ Ja, sowas ähnliches. Er heisst bei uns das Fest der Empfängnis der dunklen Mondgöttin. Allerdings feiern wir das nur alle drei Monate, dann sind jeweils unsere fruchtbaren Tage.“ „Nur… alle drei Monate?!“ entfuhr es Nannios. Bevor Aellia jedoch etwas erwidern konnte, unterbrach sie der Drakonier. „Ich muss mich jetzt leider auf den Weg machen. Zur gegebener Zeit, wird ein Drachenschiff dich nach Hause fliegen Aellia. Ich wünsche dir einen segensreichen Aufenthalt, im Land des Silber- Mondes! Auf baldiges Wiedersehen!“ Er hob seine Hand zu einem letzten Gruss und erhob sich dann in die Lüfte. Sie winkten ihm noch ein letztes Mal, dann schoss Mangios wie ein Pfeil davon und entzog sich ihren Blicken.