Schon nach den ersten zwei Sätzen schluchzte Silvia auf und sie brauchte wohl geschlagene zehn Minuten um den Brief zur Gänze zu lesen. Nie hätte sie geglaubt, dass Gerhard zu solchen Gedanken fähig war. Sie wusste, dass er sie immer noch gern hatte, aber er schien sie ja vergöttert zu haben. Wie erwähnt, sie hatte ihm einmal vorgeworfen, unromantisch zu sein, denn er hatte ihr nicht ein einziges Mal von sich aus gesagt, wieviel sie ihm bedeutete. Er hatte höchstens mal gesagt: "Das musst du doch spüren, dass ich dich lieb hab." Dabei hatte sie ihm offenbar wirklich alles bedeutet. Und er war so anständig, und nahm ihr die Trennung nicht übel. Jedes Mal, wenn sie auf den Brief schaute, füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen. Trotzdem konnte sie es nicht lassen. Sie hatte sich immer einen Liebesbrief gewünscht, wenn er zum Beispiel mal auf Montage war. Nichts! Und nun, nach seinem Tod...
Dieser Brief hatte etwas Schönes an sich, doch er traf sie auch mitten ins Herz. Hinzu kam, dass sich sein Ableben mit der Entstehung neuen Lebens kreuzte. Wie schade, dass er es nicht erleben hatte dürfen, Vater zu werden. Silvia rief ihre Mutter an. "Mama, Gerhard war schwer krank! Er hat mir einen Brief hinterlassen, aber den musst du selbst lesen, denn ich hab einfach die Kraft nicht mehr, ihn dir vorzulesen. Er hat mir unheimlich lieb geschrieben, aber ich breche bei jedem Satz in Tränen aus. Und er möchte, dass nur wir zwei bei der Verabschiedung anwesend sind."
Silvia würde seinem Wunsch in jeder Hinsicht nachkommen. Sie würde seine Bestattung genauso organisieren und sie würde auch für eine Pflegeperson sorgen, damit ihre Mutter bei der Verabschiedung dabei sein konnte. Ihre Mutter hatte Gerhard immer gemocht. Sie fand zwar anfangs, er sei für Silvia etwas zu einfach gestrickt, merkte aber bald, dass er ein anständiger und durchaus intelligenter Kerl war. Sie musste es irgendwie schaffen, der Verabschiedung beizuwohnen.
Silvia mochte gar nicht, daran denken. Es ging ihr genauso, wie jedem Anderen auch. Wenn doch das alles nur schon vorbei wäre! Ein imaginärer Satz, den wohl jeder Hinterbliebene im Geiste vor der Beisetzung schon einmal "ausgesprochen" hat. Aber es half alles nicht. Da musste sie durch. Silvia organisierte alles so, wie Gerhard es sich gewünscht hatte. Auch wenn der Bestatter ein wenig naserümpfend eine schönere Urne empfohlen hätte, sie sagte ihm wahrheitsgemäß, dass es Gerhards Wunsch gewesen war, die billigste Variante zu wählen und sie würde genau seinem Wunsch gemäß agieren.
Die Verabschiedung war, wie zu erwarten eine sehr "schmerzhafte" Erfahrung. Ihre Mutter war ihr in dieser Situation eine große Stütze. Silvia war dem Zusammenbruch nahe. Doch auch dieser Tag ging vorbei, ebenso wie die Testamentseröffnung.
Es stellte sich heraus, dass sie die Eigentumswohnung tatsächlich mit dem Erlös aus dem Verkauf von Gerhards Fahrzeugen fertig zahlen konnte. Und nicht nur das. Selbst die Erbschaftssteuer und die Notarkosten waren nahezu vollständig abgedeckt. So konnte Silvia beruhigt in die Zukunft sehen, was ihr in Anbetracht der Schwangerschaft natürlich gelegen kam. Sie zog wieder in die ehemals gemeinsame Wohnung und konnte nun auch ihre Habseligkeiten aus dem Haus ihrer Eltern zu sich holen. Das Foto von den beiden auf dem Motorrad stellte sie nicht mehr ins Wohnzimmer. Es blieb nun auf dem Platz stehen, wo Gerhard es zuletzt hingestellt hatte: Auf dem rechten Nachttisch im Schlafzimmer. Hinter das Bild hatte sie die letzten Zeilen ihres verstorbenen Partners in den Rahmen gegeben. Die ersten fünf, sechs Wochen allein in der Wohnung waren gewöhnungsbedürftig, doch langsam formte sich Silvias Bauch ein wenig runder und sie sah zuversichtlich der Geburt ihres Kindes entgegen. Das Leben ging weiter...