„Du bist sicher, dass du dir den Typ nicht ausgedacht hast?“, fragte Kurt, ein Schulfreund. Kurt war von Anfang an sehr nett zu mir gewesen, aber ich war sicher, dass es reines Mitleid war. Zumindest hatte ich das vor meiner Begegnung mit Schicksal immer geglaubt, bevor mir meine wahre Schönheit bewusst geworden war.
„Nein. Er war da und er hat gesagt, dass die Antwort in den Bäumen liegt.“ Ich blickte Kurt erwartungsvoll an. „Was könnte das nur heißen?“
„Na ja, Bäume haben eine lange und reiche Kulturgeschichte. Die alten Germanen haben sie wie Götter verehrt. Bäume geben Leben, sie produzieren die Luft zum Atmen und sie spenden Wärme, wenn man sie verbrennt. Man kann unzählige Dinge aus Holz bauen, von Häusern bis hin zu Stiften. Ohne Bäume gäbe es keine menschliche Kultur. Auch in Märchen und Legenden haben sie ihren Platz, Aschenputtel bekam ihr Festgewand von einem Baum. Angeblich kam sowohl Buddha als auch Newton die Erleuchtung unter einem Baum. Und Elfen gelten als sehr naturverbunden und bäumeliebend. Aber es gibt sie ja nicht, so wenig wie Aschenputtel.“
Ich schenkte ihm einen finsteren Blick.
„Na ja, was ich damit sagen will, Bäume können vieles bedeuten. Mit dieser Aussage ist gar nichts anzufangen.“
So schnell wollte ich nicht aufgeben. „Und wenn es wörtlich gemeint ist? Wenn wir einfach mal einen Baum aufschneiden und reingucken?“
Kurt lachte. „Und du meinst, da liegt dann ein Zettel, der uns verrät, wo wir wirklich suchen müssen?“
„Ach, was weiß ich, ich hab doch auch keine Ahnung!“, rief ich genervt.
„Und wenn das einfach irgendein Verrückter war?“, fragte Kurt sehr vorsichtig.
Ich schüttelte entschlossen den Kopf. „Dafür war er zu sexy.“
Kurt verdrehte seufzend die Augen. „Dass er sexy war, heißt also, dass er vertrauenswürdig ist, oder wie?“
Ich dachte kurz nach. „Ja, ich finde schon.“
Kurt hob ergeben die Hände. „Also gut, wenn du meinst.“
Nach der Schule machten wir uns auf den Weg in den Wald. Irgendwie hatte ich die leise Hoffnung, dass Schicksal immer noch dort auf mich wartete. Aber wie sonst waren diesmal nur die Zecken da, die uns begeistert empfingen.
Ich schlich gemeinsam mit Kurt an einen besonders schönen großen Baum, betrachtete ihn eingehend und strich über die Rinde. „Die Antwort liegt in den Bäumen“, murmelte ich. Was nur bedeutete das? Würde der Baum mir die Antwort einflüstern, wenn ich nur richtig hinhörte? Ich legte den Kopf an den Stamm und lauschte leise, während ich in meinem Geist den Baum beschwor. „Oh, weiser Baum!“, dachte ich. „Weißt du, wo die Stinkstiefel leben? Kannst du mir helfen, meine Mission zu erfüllen?“
Er antwortete nicht.
Vielleicht brauchte es andere Methoden: Mord an dem Baum. Oder noch etwas anderes? Musste ich den Baum verbrennen und seine Eingeweide lesen? Und welchen Baum meinte Schicksal eigentlich? Ich seufzte und sah mich nach Kurt um. Er musterte mich skeptisch und sah nicht sehr überzeugt aus.
„Das ist völlig aussichtslos“, meinte er.
„Was ist, wenn wir mal einen Baum aufschneiden und gucken, ob wir weiterkommen?“, überlegte ich.
„Bringt wahrscheinlich gar nichts. Aber wenn du willst.“ Er schnitt ein Stück Rinde heraus und zupfte ein Blatt ab. Fasziniert beobachtete ich, wie Harz aus dem Baum tropfte. Ich streckte meine Hand hinein und leckte sie ab. Vielleicht musste man den Baum essen.
Kurt beobachtete mich nur stirnrunzelnd. „Können wir dann gehen oder willst du noch ein bisschen den Baum anbeten?“
Ich blickte ihn nur böse an.
„Weißt du“, fuhr Kurt fort, „vielleicht liegt das Geheimnis darin, dass du dich drunter setzen musst, bis dir ein Apfel auf den Kopf fällt und dir die Erleuchtung bringt.“
„Haha“, machte ich unfreundlich. „Wir können dann gehen.“
Und so gingen wir unverrichteter Dinge wieder heim. Ich zerbrach mir die ganze Woche den Kopf, was Schicksal gemeint haben könnte. „Die Antwort liegt in den Bäumen.“ Das konnte doch nicht so schwer sein. Ich durchforstete Internet und Bibliotheken, doch immer, wenn ich glaubte, die Antwort auf das Rätsel gefunden zu haben, tauchten nur neue Fragen auf. Es war zum Verrücktwerden.
Vier Monate vergingen und ich war immer noch nicht weiter. Auch Schicksal sah ich nicht mehr. Ich war fast schon geneigt, Kurt zuzustimmen, dass alles nur ein Traum gewesen war. Und so beschloss ich, nur noch einmal an den Ort zurückzugehen, an dem mir Schicksal begegnet war. Ich würde mich von meinem Traum verabschieden, zu meinem langweiligen Leben zurückkehren und später Kurt oder einen anderen von den Verehrern, die mir mittlerweile scharenweise hinterherliefen, heiraten.
Inzwischen war es Herbst geworden, die Blätter hatten sich bereits in wundervolle Rot- und Brauntöne verfärbt und begannen abzufallen. Die Zecken zogen sich in die Winterruhe zurück oder wanderten in den Süden aus. Bald würde die Natur sterben und mit ihr auch meine Hoffnung auf eine Zukunft mit Schicksal. Ich fühlte mich, als müsste ich selbst sterben.
„Oh Baum“, flüsterte ich. „Wenn du mir doch nur sagen würdest, wo das Reich der Stinkstiefel ist.“ Wie immer antwortete er nicht. Ich seufzte traurig, setzte mich und legte den Kopf an den Stamm. Während ich so dasaß und vor mich hin blickte, sah ich plötzlich eine Schrift aus herabgefallenen Blättern. Von neuer Hoffnung ergriffen stand ich aufgeregt auf, um sie ganz zu lesen.
Die Schrift lautete: „Zweihundert Meter geradeaus, drei Kilometer nach Westen, 20 Kilometer nach Süden, dann 400 Meter nach rechts, 37 Meter nach links. Das Tor liegt unter der dritten Hecke.“
Ich rannte zu dem Baum und umarmte ihn stürmisch. „Oh danke, danke, lieber Baum! Du hast mein Leben gerettet und das der Elfen!“
Dann zog ich mein Handy heraus und machte rasch ein Bild von der Blätterschrift. „Oh Baum, ich liebe dich!“, hauchte ich.