Gedankenverloren saß sie auf ihrem Sofa und starrte auf das Buch in ihren Händen. Nachdem sie sich wieder auf den Weg nach oben begeben hatte, war Mr. Moonsbay wieder auf seinem Sessel gesessen, doch hatte er kein Buch gelesen, sondern sie angestarrt, als wüsste er über ihre Tat bescheid. Der Blick, welchen er ihr zugeworfen hatte, war voller Misstrauen gewesen, doch gleichzeitig lag auch ein Hauch von Verständnis darin. Was hatte sie getan? Sie hatte noch nie etwas gestohlen, warum genau jetzt? Hätte sie sich das Buch nicht einfach kaufen können wie jedes andere, das sie in Mr. Moonsbays Laden fand? Doch sie hatte das Gefühl, als hätte er es ihr nicht gegeben, als steckte mehr in diesen Seiten, als beschriebenes Papier.
Mit zitternden Händen öffnete sie das unheilvolle Buch und fing an zu lesen.
Sie las und mit jedem weiteren Wort, welches ihre Augen überflogen, wurde sie mehr und mehr in den Bann des Buches gezogen.
Auf jeder Seite stand ein anderes Gedicht, doch waren es nicht die Gedichte die sie so faszinierten, sondern das Buch. Es hatte etwas an sich, das sie staunen ließ, die Gedichte schienen nur eine Ablenkung von etwas anderem, etwas wichtigerem zu sein. Sie vergas alles um sich herum und versank ganz in der Welt des Buches, als sie eine flüsternde Stimme wieder in die Gegenwart zurück holte. Nur mit mühe konnte sie ihre Augen von dem Buch abwenden und es dauerte eine Weile bis sie merkte, dass es ihre geflüsterten Worte waren, die sie gehört hatte. Unbewusst hatte sie die gelesenen Zeilen laut vor sich hergesagt. Gähnend warf sie einen Blick auf die Uhr... und erschrak. Es war bereits ein Uhr nachts! War sie so in das Buch vertieft gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie dunkel es geworden war? Ronny musste sich zusammenreißen, um nicht sofort wieder in den Seiten zu versinken, immerhin konnte sie ihre Augen kaum noch offen halten.
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Ein Wispern ließ sie aufschrecken. Verwirrt blickte sie sich um und ließ ihren Kopf wieder auf die Sofalehne sinken. Offenbar war sie hier eingeschlafen und da es schon so hell war, schloss sie daraus, dass sie den halben Tag verschlafen hatte.
Verzweifelt schlug Ronny sich die Hände vors Gesicht: Sie hatte alle Vorlesungen verpasst!
Langsam erhob sie sich, um sich ein verspätetes Frühstück zu gönnen, als sie wieder ein Wispern vernahm. Es war wie tausend Stimmen, vereint zu einer.
Ronny erkannte die geflüsterten, fast gehauchten Worte, als hätten sie sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Es waren die Worte aus dem Buch der Magie! Ein hämisches Lachen entkam Ronnys Kehle. Erschrocken presste sie sich ihre Hand vor den Mund. Was geschah hier? Ängstlich hob sie das kleine Buch vom Boden auf und öffnete es. Das Wispern war verklungen, doch spürte sie eine Energie, welche von dem Buch auszugehen schien. Mit vor Schock geweiterten Augen, blätterte sie Seite um Seite durch das geheimnisvolle Objekt, doch konnte sie nichts erkennen, nichts außer blanke, weiße Seiten. Doch in der Mitte des Buches stand etwas mit schwungvoller Handschrift geschrieben: Der Fluch ist wahr geworden und du, Ronja, wirst deinen Weg finden. Entscheide weise.
Wieder und wieder las sie die Zeilen und mit jedem weiteren Mal, schlug ihr Herz etwas schneller. Warum stand ihr Name in diesem Buch und was war mit den restlichen Gedichten darin geschehen?
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, doch so würde sie nie zu einer Lösung kommen, also sprang sie auf, nahm ihren Mantel und ging hinaus, um wieder klar denken zu können. Der eisige Wind trieb ihr Tränen in die Augen, doch das brachte sie nur dazu, noch schneller zu gehen. Ihre rotbraunen, glatten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und doch hatten es einige Strähnen geschafft, sich daraus zu lösen. Ohne wirklich ein Ziel zu haben ging sie immer weiter, und wie von selbst trugen sie ihre Füße zu dem Wald am Rande des Dorfes, in dem sie wohnte. Wie in Trance lief sie über das Gestrüpp und die herumliegenden Äste, bis sie an einem Fluss ankam. Die Bäume waren schon kahl und auch der kleine Fluss war nur noch eine gefrorene Straße, welche sich durch den dichten Wald schlängelte, aber dennoch konnte sich Ronny im Moment keinen passenderen Ort denken. Trotz der Kälte ließ sie sich auf die Erde sinken und betrachtete die Welt um sich. Langsam beruhigte sie sich wieder und glaubte fast nicht mehr an das, was sich zuvor in ihrer kleinen Wohnung ereignet hatte. Sie liebte die Natur und verbrachte so viel Zeit wie nur möglich dort, deswegen wunderte es sie, dass sie nicht öfters in den Wald ging.
Fröhlich schloss sie ihre Augen und stellte sich vor, wie es wohl wäre zu fliegen und vollkommen Frei zu sein. Zu spüren, wie der Wind sie umspielte.
Langsam öffnete sie ihre Augen wieder und stieß einen spitzen Schrei aus. Ronny schwebte ungefähr einen Meter über dem gefrorenen Waldboden, doch bevor sie sich mehr Gedanken darüber machen konnte, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie war noch nicht am Boden angekommen, als sie das Bewusstsein verlor.