*** Drei Monate später ***
„Alice, wenn du in fünf Sekunden nicht hier unten bist, schwöre ich bei den Göttern, dass ich dich an deinen wundervollen, perfekt roten Haaren die Treppe runter zerre‟, rief Harbek ungeduldig nach oben. Er und Keeda warteten schon seit Ewigkeiten in der marmornen Eingangshalle auf die Assassine. „Wenn wir wegen dir die Zeremonie verpassen …‟, drohte Harbek weiter, doch da sprang Alice bereits die Stufen hinab.
„Bleibt ruhig, ich bin doch hier‟, entgegnete sie schnippisch und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Sie hatte ihre roten Locken zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt und nur ein paar Strähne widersetzten sich trotzig den silbernen Spangen. Wie die anderen trug auch sie reich bestickte und festliche Kleidung. Beim Gehen musste sie jedoch das lange, dunkelgrüne Kleid raffen, um nicht über den fließenden Stoff zu stolpern.
„Wir müssen uns beeilen‟, brummte Harbek missbilligend und zog den Kragen seines hochgeschlossenen Hemdes etwas weiter. Mit festen Schritten und ohne einen Blick zurück zu seinen Freunden zu werfen verließ er die Halle des prachtvollen Gebäudes.
Nach der Schlacht vor den Stadtmauern der Protectors Enclave, die im Volksmund Schattenschlacht genannt wurde, hatte man ihnen diese prunkvolle Villa als Zeichen des Dankes überlassen. Die Besitzer waren im Kampf gestorben und nun wohnten Alice, Harbek und Keeda in den zahlreichen Räumen.
Eilig hasteten sie durch die gut besuchten Gassen der Enclave und versuchten sich einen Weg durch die Massen zu bahnen. Keeda fühlte sich zunächst an ihre Ankunftszeit in der Hauptstadt erinnert, doch heute zog sie nicht den Kopf ein, im Gegenteil. Die Menschen bildeten, sobald sie ihre Gesichter erkannten eine Gasse, um sie schnellstmöglich zum Palast vorzulassen. Ehrfürchtige Blicke folgten ihnen und Hände streckten sich sehnsüchtig in ihre Richtung aus. Seit ihrem Sieg gegen Valindra, war sie diese Blicke gewöhnt. Ihr ruhmreicher Ruf eilte ihnen voraus und jeder schien ihre Gesichter, oder zumindest die legendären Geschichten über sie zu kennen.
Harbek sah sich ungeduldig nach ihnen um, trotz seiner kurzen Beine fand er als erster den Weg zu den gewaltigen Palasttoren und wartete dort ruhelos auf Alice und Keeda. „Ich kann nicht glauben, dass wir tatsächlich einer der Letzten sind die eintreffen‟, meckerte er missbilligend und eilte, sobald sie in seiner Hörweite standen weiter. Alice schmunzelte und Keeda sah sich spöttisch nach der Menschenmenge um, die nach ihnen durch die breiten Torflüge strömten.
„Einer der Letzten, würde ich nicht gerade sagen‟, entgegnete sie grinsend aber Harbek sah sich scharf nach ihr um.
„Einer der Letzten mit Rang und Namen!‟
„Lass gut sein Keeda‟, lachte Alice auf, „Er fühlt gerade unheimlich wichtig und bedeutend, da ist jede Logik vergebens.‟ Harbek schnaubte abfällig, ließ ihre Bemerkung aber unkommentiert.
Sie hasteten weiter durch die verstopften Gänge des Palastes, bis sie vor einer scheinbar undurchdringlichen Menschenmasse anhalten musste. Die Wachen hatten den Bereich rundum den Thron mit Samtkordeln abgesperrt, sodass sich die Bürger Neverwinters an der Trennlinie zusammen drängten. Ein Bereich an der Seite der Halle war wiederum für die bedeutenden und adligen Bewohner der Stadt abgesperrt, wo die hohen Herren sich setzen und Wein trinken konnten, während sie wie alle anderen ungeduldig auf den Beginn der Zeremonie warteten.
Harbek führte sie näher an die roten Samtstricke und tippte einen der Wachmänner auffordernd an. Der Soldat sah sich verwirrt um, bis er den Blick senkte und sich eilig verbeugte. Hastig trat er zur Seite und Harbek stolzierte breit lächelnd an ihm vorbei. Keeda und Alice tauschten einen wissenden Blick, bevor auch sie hinter dem Zwergen den Sitzbereich betraten.
„Zu spät und trotzdem müssen wir warten‟, stellte Alice pikiert fest und strich sich die widerspenstigen Locken hinter das Ohr, „Ihr hättet mir ruhig ein wenig mehr Zeit lassen können.‟
„Du siehst perfekt aus‟, beruhigte Keeda sie und strich nervös den Rock ihres schwarzen Kleides glatt, „Wie immer.‟
Alice lächelte die Dunkelelfe dankbar, „Du ebenfalls.‟ Keeda erwiderte ihr Lächeln unsicher und sah sich nervös um. Harbek hatte ihnen Plätze in der ersten Reihe gesichert, was nicht zuletzt seiner Größe zu verschulden war, doch nun spürte sie alle Blicke in ihrem Nacken. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie zwang sich dazu ruhig zu atmen.
Laute Fanfaren lenkten sie schließlich dankenswerterweise von den beunruhigenden Blicken ab und wie alle anderen erhob sie sich, als eine lange Reihe von gut betuchten Herren den Saal betrat. An ihrer Spitze gingen Priester und Kleriker, die in langen, goldenen Roben und mit Weihrauch gefüllten Gefäßen den Gang auf den Thron entlang schritten. Nach ihnen folgten Vertreter der neun Adelshäuser von Neverwinter, hinter deren aufgesetztes Lächeln allzu leicht die wahren Emotionen zu erahnen waren. Als letztes folgte die Rassenvertreter und lösten mit ihrer Anwesenheit allgemeines Murmeln aus, es war das erste Mal, dass bei einer solchen Zeremonie Angehörige aller friedlichen Rassen zugegen waren.
Als erster von ihnen stolzierte ein Zwerg stolz den Gang entlang, nach ihm folgte ein Halbling, die Vertreter der verschnieden Elfenrichtungen, ein Tiefling, ein Drachengeborener und als letztes ein grimmig blickender Halb-Ork und sein Vollblut Bruder. Lauter Applaus erklang in der Säulenhalle, als sich die Versammelten in einem Halbkreis vor dem Thron aufstellten.
Ein Priester trat aus dem Kreis hervor uns stellte sich mit weit ausgebreitet Armen vor den Thron. Er begann einen melancholischen Sprechgesang an dessen Ende er die Arme gen Himmel reckte und Totenstille herrschte. Langsam ließ er die Arme sinken und sah spannungsvoll in die Runde.
„Wir sind heute unter dem Segen der Götter zusammen gekommen, um unserem gepeinigten Land einen neues Herrscher zu schenken und ihn durch ihre Prüfung zu geleiten. Der König stirbt niemals.‟
„Der König stirbt niemals‟, schallte es durch den Thronsaal, als die Umstehenden die letzten Worte des Priesters aufnahmen. Er nickte zustimmend und hob abermals die Hände gen Himmel.
„Die Götter sollen über seine Tauglichkeit entscheiden, sollen entscheiden ob er die Würde, den Mut, die Weisheit und den Glauben besitzt, um unser Land nach den endlosen Jahren der Angst und Gewalt zurück in das Licht des Friedens zu führen. Der König stirbt niemals.‟
Abermals erschallte der Sprechchor und Keeda sah sich unwillkürlich um. Jedermann hing an den Lippen des Priesters und folgte schließlich seinem Blick, während er die Hand in Richtung Eingangstor streckte. Langsam und laut knarrend öffneten sich die Torflügel und das goldenen Licht der untergehenden Solle erleuchtete die dämmrige Halle. Eine schwarze Silhouette trat aus dem Sonnenschein hervor und die wenigen Gespräche erstarben, als sie majestätisch den Saal betrat.