»Was zum …?«, dröhnte eine tiefe Stimme durch ihr schläfriges Hirn und riss sie aus den Untiefen ihrer Gedanken. Sie musste kurz eingenickt sein. Noch bevor sich ihre Augen scharfgestellt hatten, sah sie einen riesigen dunklen Schatten auf sich zu kommen und so kreischte sie vor Schreck auf, bis sie ihren Vater im schwarzen Morgenmantel erkannte. Sie versuchte wach zu werden und bekam so mit, wie er sie scannte. Wortlos registrierte er jede noch so kleine Schramme, jede Schwellung, die blauen Flecken und die Wunde der Klinge.
»Was ist passiert?« Behutsam umfasste er schließlich ihr Gesicht und sah sie ernst an. Jella klappte den Mund auf und zu bekam kein Wort heraus. Hilflos starrte sie ihn an und krächzte schließlich: »Keine Ahnung!«
»Keine Ahnung hilft nicht weiter!«, tadelte er sie sanft. »Dir hat jemand beinahe die Kehle durchgeschnitten und mehr kannst du dazu nicht – «
Jella quiekte und bekam keinen Satz zusammen, sah ihren Vater nur mit riesigen Augen an und durch ihn hindurch.
»Es tut mir leid, es tut mir leid.« Aus seiner verstörten Tochter würde er so schnell nichts herausbekommen, erkannte Nicholas schließlich. Er ließ sich neben ihr nieder und nahm ihre Hand, vorsichtig, prüfend. Ihr Puls raste, jede Faser zitterte.
»Jella!«, flüsterte er und versuchte, ihren Blick einzufangen, doch der irrte im Zimmer umher. Vor Sorge wurde ihm schlecht.
»Krissi!«, rief er sie etwas lauter und sah, wie er zu ihr durchdrang. Verwirrt blinzelte sie ihn an.
»Krissi?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nenn mich nicht so.«
»In Ordnung. Aber rede mit mir. Deswegen bist du doch hier, oder?«
Seine Tochter nickte langsam. »Ich …«
Irgendetwas schien ihr Sprachzentrum zu blockieren, doch dann, als habe sie ein Band vorgespult, brach es abgehackt aus ihr heraus. Kaum eine halbe Minute später wusste Nicholas, dass sie eine Party besucht hatte und jemand ihr erst ein Getränk übers Kleid geschüttet und sie dann im Bad abgepasst hatte.
»Er hatte ein Messer, und dann …«
»Schon gut, das sehe ich. Das kannst du mir nachher noch genauer erzählen.« Er kam näher und inspizierte den Schnitt. »Blutet längst nicht mehr.«
»Das ist nun mal bei mir so!«, murmelte Jella. Nicholas seufzte so tief, dass ihm der Brustkorb wehtat. Wenn das bloß das einzige Symptom ihrer Begabung wäre, wäre er ein glücklicher, entspannter Mann. Er atmete tief durch. Unruhig fuhr er sich durch seine schwarzen Haare, die immer noch von keinem einzigen grauen Haar gestört wurden. Das Licht um ihn herum schien trüber zu werden, so, als wollten ihn seine Instinkte warnen. Unheil rollte auf sie zu und seine Nacht war eindeutig vorbei.
Seine Tochter sah ihn arglos an. Sie schien keine Erinnerung mehr an das zu haben, was ihr damals, vor über zwei Jahrzehnten, geschehen war und er dankte allen Mächten, dass dieser Schutzmechanismus über all die Jahre nicht zerstört worden war.
»Jella – wie bist du entkommen?«
»Ich habe mich losgerissen.«
Ein aufgeregtes Flackern in ihren Augen verriet ihm, dass es so einfach nicht gewesen war. »Hast du nicht.« Er hatte eine ungute Ahnung, was kommen würde und fragte sich, wie lange ihre Erinnerungen sie noch verschonen würden. Bei einer solch ähnlichen Situation konnte er sich kaum vorstellen, dass ihr Hirn nicht plötzlich den Vorhang aufzog und ihr Trauma in grellen Farben illustrierte.
Jella seufzte und zupfte eine Tannennadel aus ihrem Haar. »Nein, habe ich nicht.«
»Krissi …«, flüsterte ihr Ziehvater beschwörend und gab sich Mühe, ruhig zu bleiben.
»Nenn mich nicht so!«, zischte Jella und blinzelte hektisch, als verscheuche sie Bilder, die unversehens auftauchten. »Ich, ähm … Eine Kerze ist umgekippt und hat den Mann in Brand gesteckt. Das war ein dummer Zufall, ein Versehen.«
Nicholas schnappte nach Luft. Das Blut in seinem Kopf rauschte und er glaubte Stimmen zu hören, die ihn höhnisch fragten, ob er wirklich geglaubt hatte, für immer Ruhe vor dem zu haben, was sie nun einmal war.
»Jella!«, flüsterte er leise und sein scharfer Tonfall schien seine Tochter zu alarmieren. Sie sah ihn erschreckt an, als wüsste sie genau um seine ungute Ahnung, dass es nicht bloß eine läppische umgekippte Kerze gewesen war, die nach ihrer Beschreibung einen Mann in Brand gesteckt hatte. »Das ist nicht gut!«, murmelte er und blickte in blaugrüne Augen, in denen er aufsteigende Panik erkennen konnte. »Ruhig, Engelchen, atme durch«, flüsterte er, »ich bin nicht böse, alles ist gut.« Früher war er regelmäßig ausgerastet, hatte die Karte des strengen, bösen Riesen gespielt, wenn sie in unregelmäßigen Abständen eine ekelige Spinne hier, ein paar Mücken dort und einmal einen unliebsamen Pullover verbrannt hatte. Als kleines Kind hatte sie sich zutiefst davon beeindrucken lassen und er hatte jedes einzelne Mal ein furchtbar schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie heulend und schniefend beteuert hatte, dass sie so etwas nie, nie, niemals wieder tun wollte.
»Ich tue es nie wieder!«, durchdrang ihre tränenerstickte Stimme seine düsteren Gedanken. Sie gab damit indirekt zu, dass es nicht nur eine Kerze gewesen war, die den Mann entflammt hatte und Nicholas umarmte seine erwachsene Tochter so fest, bis sie schließlich leise quietschte.
»Hat er etwas gesagt?« Vor Aufregung war ihm ein wenig übel.
»Nein … Ja, er …« Seine Tochter starrte an ihm vorbei. »Ein anderer hat mich … Er hat mich Kreatur genannt.« Sie hickste und Nicholas fühlte sich, als hätte ihm ein Pferd in die Eingeweide getreten.
»Ein anderer Mann? Zwei Männer waren dort und – «, krächzte er fassungslos. »Sie haben dich wieder gefunden!«, flüsterte er entsetzt. Er hatte so sehr gehofft, dass dieser Tag niemals kommen würde, oder dass er zumindest ein bisschen mehr Zeit haben würde, doch er war träge, bequem und unvorsichtig geworden. Sie waren seit Jahren nicht mehr umgezogen – vielleicht hatte er sich auch einfach nur deswegen davor gesträubt, weil er Jella dann schon viel früher viel mehr von all dem hätte erzählen müssen, was er sorgsam unter Verschluss gehalten hatte. »Du solltest einige Dinge erfahren, schätze ich!«, brummte er ergeben.
»Sollte ich nicht!«, unterbrach Jella ihn und sah ihren Ziehvater reglos an. »Ich will nicht.« Ihr Bauchgefühl hatte längst eine Verbindung zu damals hergestellt, doch ihr Verstand wehrte sich bisher erfolgreich. Etwas Dunkles, Böses lauerte in den Tiefen ihrer Erinnerung und sie wollte einfach nicht daran rütteln, schreckte davor zurück wie vor glühend heißen Kohlen.
Und trotzdem schien sie dem Glühen zu nahe gekommen zu sein. Empfindungen stiegen in ihr auf, irritierend, beängstigend, schmerzhaft und rührten eine ganze Palette aus Angst und Entsetzen zusammen. Sie konnte nicht unterscheiden, ob ihr die Angst aus den vergangenen Stunden in die Knochen sackte oder ob es alte Empfindungen waren, doch das leise Rascheln, das sie manchmal auch wie ein verführerisches Flüstern empfand, schwirrte ihr durch den Kopf.
»Es ist seit Tagen da!«, wisperte sie und kniff die Augen fest zusammen, »Dieses Rascheln im Kopf, es ist …« Sie spürte kräftige Hände an ihrem Gesicht. Ihr Vater schüttelte sie leicht und Jella sah in seine bunten Augen.
»Du wirst nicht durchdrehen, verstanden?«
Jella atmete tief durch, verscheuchte konzentriert das Wuseln und nickte schließlich. Ihr Vater ließ sie los – und Jella sah, dass ihm die Hände zitterten. Er war aufgewühlt und das verriet ihr, dass mehr hinter seiner Aufregung steckte, als die bloße Tatsache, dass sie überfallen worden war.
»Was meinst du mit ‚Es ist seit Tagen da‘?«
»Das … Flüstern im Kopf. Mir wird unsäglich warm, und dann …«
»… steckst du Dinge in Brand«, vervollständigte er ihren Satz. Anspannung klang so deutlich mit, dass Jella kaum ein Wort herausbekam. Sie nickte kurz.
»Aber … warum jetzt? Du hattest es jahrelang unter Kontrolle! Das darf nicht geschehen, Jella, das weißt du! Du ziehst Aufmerksamkeit auf dich, von ganz normalen Leuten und erst Recht von diesen verdammten Zecken!«
»Ich habe mir das nicht ausgesucht!«, fauchte Jella und sprang auf.
Nicholas starrte sie fassungslos an. Sie hatte immer noch ihr schwarzes Kleid an, es war zerknittert, der Rock eingerissen, ihre Beine von ihrem Ausflug in den Wald dreckig und der Ausschnitt mit rostbraunem trockenen Blut befleckt. Ihr zerlumptes Erscheinungsbild war recht eindrucksvoll und so sog er nur scharf die Luft ein, schüttelte den Kopf und schwor sich erneut, so wie schon Jahre zuvor, dass er dafür sorgen würde, dass dem kleinen Mädchen niemals wieder etwas passieren würde. Womit er vollkommen versagt hatte.
»Krissi, mein Küken, reg dich nicht so auf, komm schon, setz dich wieder!«
»Nenn mich nicht so!«, ereiferte sich Jella. »Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist! Seit diesem blöden Unfall – « Sie brach abrupt ab und sah ihren Vater erschrocken an.
»Was für ein Unfall?«, hakte er auch augenblicklich nach. Seine Stimme war leise, doch die Anspannung, die mit jedem Atemzug zunahm, war fast greifbar.
»Ein Fahrradunfall. Ist schon ein paar Tage her. Es ist auf dem Nachhauseweg passiert. Gar nicht so dramatisch, ein paar Schrammen auf dem Rücken, das war’s.«
Nicholas schluckte hart. »Schrammen auf dem Rücken?«, echote er leise und wusste nicht, was er sagen sollte. Schrammen auf dem Rücken waren nicht gut. Am Bein, am Arm, auf dem Bauch, im Gesicht, vollkommen unerheblich, dort war sie nicht als Kind gezeichnet worden. Doch wenn durch den Unfall die Banne beschädigt worden waren, die – und er schämte sich, es auch nur in Gedanken zugeben zu müssen – ihr Glück gewesen waren, dann erklärte das, warum sie sich seit dem Unfall so seltsam fühlte.
»Sonst noch etwas Ungewöhnliches?«, hakte er müde ein und wusste einfach nicht, was er tun sollte. Schon wieder schienen sich Ereignisse zu überstürzen, und er hatte das seltsame Gefühl, dass er seiner Tochter entweder jetzt alles erzählte, oder niemals wieder die Chance dazu bekommen würde.
Die Ahnung manifestierte sich immer stärker und schließlich seufzte er ergeben. Wenn es an der Zeit war, von dieser Welt zu gehen, wäre er der letzte, der sich weigern würde. Im Laufe der Jahrhunderte war genug Sauerstoff durch seine Lungen geflossen, um ihn nun anderen überlassen zu können. Doch abtreten würde er erst, wenn sein Kind, das kleine Mädchen, das er anfangs so widerwillig aufgenommen hatte, in Sicherheit wäre.
Würde es etwas bringen, wenn er ihr erzählte, dass Linda sich damals in der Küche selbst in die Luft gesprengt hatte, mit Hilfe der Gasleitungen und ihrer Feuergabe? Ihre Leiche wurde nie gefunden, doch Nicholas wusste, dass sie eine zähe, alte Langlebige war und sich mit einiger Sicherheit irgendwie in irgendeinem Winkel der Erde regeneriert hatte – allerdings waren ihre Gründe, zu einer solch drastischen Maßnahme zu greifen, ihm rätselhaft geblieben.
Wäre Jella geholfen, wenn er davon berichtete, wie die Druckwelle ihn und das kleine Mädchen damals von den Füßen gerissen hatte und just in dem Augenblick Adicten auf der Bildfläche aufgetaucht waren? Sie mussten die Situation grundlegend falsch eingeschätzt haben, denn als er wach geworden war, über und über mit einem teuflischen Material behängt, das seine Gaben lähmen sollte, war das Kind fort gewesen. Die Wut, die ihn damals überrollt hatte, hatte ihn sich aufrappeln lassen.
Schrille Schreie, die kaum mehr etwas Menschliches an sich hatten, hatten ihn ins Kinderzimmer gelotst. Ein brennender Mensch brach wenige Meter vor ihm auf die Knie, schrie und kreischte, bis auch das verebbte und Nicholas erinnerte sich, dass er damals Angst verspürt hatte wie selten zuvor. Er war an der Person vorbeigerannt, immer weiter in den dichten Rauch hinein. Vor lauter Qualm, der aus einem Zimmer quoll, hatte er das Kind erst kaum ausmachen können. Das Mädchen hatte er auf dem Boden gefunden, von Schnitten übersät, die ein unheimliches Muster zu ergeben schienen. Es war kaum mehr ansprechbar gewesen.
Die Einrichtung hatte gebrannt, zwei weitere Gestalten, zusammengekrümmt und mit langsam zusammenschmelzender Haut, hatten reglos links und rechts neben ihr gelegen und Nicholas bekam Herzklopfen, als er daran dachte. Das Mädchen war ohne Zweifel ein Feuerträumer und setzte seine Gabe vollkommen unkontrolliert ein.
Er konnte sich das überstürzte Handeln des Zeichners nur so erklären, dass man geglaubt hatte, das Feuer in der Küche, das allmählich auf weitere Räume übergriff, sei möglicherweise vom Kind ausgelöst worden, was wusste er schon, wie viel die Adicten zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst hatten?
Für einen sicheren Transport hätten seiner Meinung nach auch Ketten aus diesem seltsamen Material, das Begabungen blockte, ausgereicht, doch er konnte und wollte schließlich nicht in die Köpfe der Adicten hineinschauen. Vielleicht hatte man das Kind deshalb schnellstmöglich mit Zeichen bannen wollen?
Nicholas seufzte tief und sah seine erwachsene Tochter abgespannt an. Die Banne hatten gehalten, jahrelang, das war sein Glück gewesen und ihres ganz sicher auch. Und nun hatte ein läppischer Unfall es ihrer Gabe wieder ermöglicht, Lücken in ihrer Deckung zu finden und auszubrechen?
»Deine Feuergabe wird stärker!«, murmelte er so leise, dass sie ihn unmöglich hatte verstehen können, doch sie erstarrte und sah ihn wild an. »Nein!«, zischte sie, »dann muss ich eben etwas finden, was sie wieder friedlich schlummern lässt! Ich will diese blauen Flammen nicht auf mir haben, ich – «
»Blaue … Oh, Jella.« Nicholas stützte den Kopf in die Hände. »Gar nicht gut!«, brummte er in seine Handinnenflächen und sah wieder hoch. »Herzchen, du wirst hier verschwinden. Aus Hamburg. Komplett.«
»Aber – «
»Möchtest du darauf warten, bis ein Kollege deiner nächtlichen Bekanntschaft hier auftaucht, dafür sorgt, dass du dich nicht wehren kannst und den Job zu Ende führt?«
Seine Ziehtochter verharrte in ihrem Auf- und Abgehen und starrte ihn mit Tränen in den Augen an. »Was?«
Nicholas fluchte lautlos und hob entschuldigend die Hände. »Tut mir leid, ich sollte so was nicht sagen.« Seine eigene Nervosität ließ ihn ruppig werden und es tat ihm wirklich leid, als er die untertassengroßen Augen bemerkte, die ihn unruhig fixierten. »Du kriegst jetzt einen Kaffee, und während du den trinkst, hörst du mir zu, klar?«