Nebel kroch in dünnen Faden über den Boden und die bestiefelten Füße der Wanderin. Ladira hatte jegliches Zeitgefühl an diesem Ort, der seinem Namen alle Ehre machte, verloren. Zwischen den düsteren Kronen der Bäume, deren Äste im Nebel aussahen wie die Arme von Gespenstern, funkelte der tröstende Anblick eines sternenklaren Himmels. Der See der Nacht, unter diesem Namen hatte sie den Ort auf ihrer Landkarte gefunden, kam in ihren Blick, als der dichte Wald sich lichtete und sie auf ein Gewässer traf, das in kühlem blauen Licht zu erglühen schien. Umringt von Bäumen, die der Nebel einhüllte wie eine weiche Decke, lag der See friedlich da. Kein Laut war zu hören und auch der Wind war still und spielte nicht mit den Blättern.
Ladira blieb am Ufer stehen und sah sich suchend um. Hugin war vor drei Tagen zu ihr gekommen, als sie unweit dieses Ortes auf Wanderschaft war und in einer Herberge untergekommen war. Der Rabe hatte ihr eine Nachricht ihres alten Meisters überbracht und sie hatte sich sofort auf den Weg gemacht, um den Einäugigen zu treffen.
Sie holte den Brief aus ihrer Tasche und strich ihn glatt. Im Licht, das vom Grund des Sees auszugehen schien, konnte sie ein wenig was erkennen.
"Ladira?", eine vertraute, tiefe Stimme ließ sie aufhorchen, "Du hast den Weg also hierher gefunden."
Die Hüterin des Waldes spürte, wie sich ihr Körper augenblicklich versteifte. Sie wirbelte auf dem Stand herum und starrte in die Richtung, in der sie den Sprecher vermutete. "Was suchst du hier?", fragte sie, bemüht ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
"Darf ich nicht die Mutter meiner Kinder aufsuchen? Wo wir schon beim Thema sind: Wie geht es meinen Mädchen? Haben sie ihre Kräfte vollständig entfaltet?", der Sprecher der Stimme verharrte verborgen vom Schatten der Bäume und dem Nebel, der zusätzlich seine Gestalt verschwimmen ließ. Ladira konnte sich sein süffisantes Lächeln jedoch zur Genüge ausmalen. Oft genug hatte sie es gesehen und oft genug hatte ebendieses Lächeln ihre Knie weich werden und ihr Herz schneller schlagen lassen.
Doch das war lange her. Nun löste es nur mehr Wut in ihr aus und sie ballte die Hände zu Fäusten, zerknüllte den Brief zwischen ihren Fingern.
"MEINEN Töchtern geht es gut. Sie sind froh, dass sie nicht bei dir leben müssen!", fauchte sie, "Beantworte meine Frage: Was willst du hier?"
"Ich habe dir doch schon geantwortet. Ich wollte nur die Mutter meiner Kinder, die zufällig auch noch meine Frau ist, sehen", er lachte heiser auf und Ladiras Blick verdunkelte sich: "Ich möchte die richtige Antwort hören und nicht diese Ausrede. Ich weiß mittlerweile längst, dass ich dir nie etwas bedeutet habe. Du bist ein guter Schauspieler, wahrlich hervorragend und dein Charisma trug dazu bei, dass ich dumm genug war, dir zu verfallen, aber ich bin nicht ewig blind geblieben. Ich habe gesehen, wie du die Nähe zu anderen suchtest."
"Ruhig, ruhig, meine Liebe", der Dunkle hob beschwichtigend die Hände und trat weiter in ihr Sichtfeld. Ein langer schwarzer Mantel hüllte ihn bis zu den Knien ein. Darunter trug er einen ebenfalls schwarzen Rollkragenpullover, schwarze Hosen und Stiefel, die tiefe Abdrücke im weicheren Erdreich hinterließen. Sein Haar war vergleichsweise hell in seinem grauen Farbton. Ebenso hervorstechend war seine helle Haut und die gebleckten Zähne, die aus dem zum Grinsen verzogenen Mund hervorblickten. Seine Augen waren einst das, was Ladira am meisten gefiel. Heterochromie: Eines von gelber Farbe, das andere im gleichen rötlichen Ton, wie die Augen ihrer Tochter Celles. Saphira hatte Ladiras Augenfarbe, ein dunkles Blau, geerbt und auch ihr Haar war schwarzblau geworden. Woher Celles ihr feuerrotes Haar hatte, wusste keiner der beiden so richtig.
Ladiras Nackenhaare sträubten sich bei dem Anblick. Obwohl dieser Mann der dunkle König war, obwohl er vermutlich verantwortlich für den Tod der weißen Königin war und obwohl er es war, weswegen das Land Elensar aus dem Gleichgewicht gerissen worden war und sie unzählige Kinder über die Insel im Herzen des Landes auf die eridische Seite schleuste, wo es sicherer war, fühlte sie, wie ihr Herz einen Takt aussetzte. Er war noch immer unglaublich anziehend mit seiner hochgewachsenen Gestalt, dem Lächeln, das halb spöttisch, halb schelmisch wirkte. Doch die Distanz und Kälte in seinen Augen, holte sie zurück in die Wirklichkeit.
"Vielleicht habe ich nur nachsehen wollen, was der Einäugige so treibt", entgegnete er leiser, "Und dir ein kleines Geschenk machen wollen." Er streckte die Hand aus und warf einen Gegenstand, der im Licht kurz aufblitzte und sich vor ihren Füßen in die Erde bohrte.
Sie blickte hinab. Es war ein kleiner Dolch mit einem fein gearbeiteten Griff, der von einem dunklen Band umschlungen war, dessen Ende das Gras streifte. Seine Schneide schimmerte silbern, doch Ladira keuchte erschrocken, denn frisches Blut klebte daran.
"Was hast du?", sie hob den Kopf rasch und funkelte ihren einstigen Mann an. Entsetzen stand in ihrem Gesicht, als er beiseite trat und der Blick frei wurde auf das, was hinter ihm war. Er bewegte sich so, dass das Licht des Sees eine Gestalt offenbarte, die zu den Wurzeln der Bäume niedergesunken war.
Der Dunkle kam auf sie zu. Er schien die Ruhe selbst zu sein. Auf ihrer Höhe, streckte er die Hand aus und strich ihr fast schon zärtlich über die Wange. "Ich hoffe, dir gefällt mein Präsent, meine Liebe", flüsterte er und ließ die Hand sinken, um an ihr vorbeizugehen, "An deiner Stelle würde ich mir nicht allzu viel Hoffnung machen, doch ich würde mich beeilen. Lange wird er nicht mehr am Leben sein."
Ladira stand erstarrt da. Ihr Blick ungerührt auf die Bäume gerichtet. Sie sah nicht, wie der Wald hinter ihr den Dunklen verschluckte.
Stocksteif verharrte sie und ein Gefühl der Lähmung hatte sie überkommen. Es kostete sie alle Kraft, um sich aus dieser Starre loszureißen. Hastig rannte sie zu den Bäumen und fiel dort stolpernd neben der Gestalt auf die Knie.
Dort zusammengesunken lag ihr Meister. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner Brust in den Stoff seines Gewandes und tränkte seinen alten Reiseumhang. Sein geliebter Hut lag neben ihm am moosigen Grund und sein verbliebenes Auge war halb geschlossen. Er wirkte auf einmal so viel älter, als er ohnehin schon war, mit seinem weißen Haar und dem längeren Bart.
"Odin...", hauchte Ladira und streckte die Hand aus, zögerte jedoch, ihn zu berühren. Ein Gefühl schierer Hilflosigkeit hatte sie überkommen und ihr Blick verschwamm unter den heißen Tränen, die in ihre Augen schossen, "Was hat er getan?"
"La... Ladira, mein Kind", Odins Stimme war brüchig und schwach. Seine Brust hob und senkte sich noch, doch unter rasselndem Atem. Kurz funkelte sein Auge auf, als er sie ansah und seine Mundwinkel zuckten, ein Anzeichen eines Lächelns, "Ladira, du Erbin des grauen Throns und Mutter solch wunderbarer Kinder."
"Nicht reden. Bitte, Meister... Schont Euch! Ihr werdet schon wieder."
"Nein, mein Kind. Ich höre die Geister mich rufen. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, also hör mir zu ... Dein Mann, der Dunkle, du tatest gut daran, ihn zu verlassen. Schütz deine Mädchen vor ihm. Schütze sie. Sie sind noch nicht stark genug, um sich gegen ihn behaupten zu können. Schütze auch die kleine Prinzessin. Eines Tages ... Eines Tages wird sie uns alle retten", sein Auge glimmte wieder auf und er hustete Blut, "Deine Blutlinie ist stark, Ladira, verstehst du? Alles liegt im Blut! Jede Antwort!"
"Meister ... Bitte, bitte hört auf zu reden", sie suchte seine Brust nach der Wunde ab, "Bitte! Ich kann Euch helfen! Nur schont Euch!"
"Ich werde über euch wachen. Das verspreche ich dir", sein Aug schloss sich langsam, "Ich werde immer ... auf ... euch aufpassen ... von der anderen Seite ..."
"MEISTER! Gebt nicht auf! Bitte!!", heiße Tränen liefen wie Bäche über ihre Wangen und sie schrie entsetzt auf, als die Brust unter ihren Händen erstarb und sich nicht mehr rührte, "Odin! Es ist noch nicht soweit! Ihr könnt uns doch nicht allein lassen!"
Ihre Finger zitterten heftig und sie bebte am ganzen Körper. Das Blut sickerte nur noch schwach aus der Wunde. Das Herz, das es angetrieben hatte, hatte seinen Dienst beendet und sich zur Ruhe gelegt.
Ladira schluckte und betrachtete ungläubig den toten Leib. Der Mann, der sie und Pyrofera aufgenommen und erzogen hatte, der ihr so viel beigebracht hatte. Sie wollte nicht ... Sie konnte nicht. Sie konnte nicht akzeptieren, was gerade passiert war.
Ein Schrei durchbrach gellend die unheimliche Stille, die sich mit dem Ersterben Odins letzter Worte auf den Ort gelegt hatte.
Die Hüterin des Waldes schrie, als würde ihr eigenes Leben davon abhängen und brach zusammen. Einfach so. Unkontrolliertes Schluchzen schüttelte ihren Körper und sie konnte den Schmerz, der sie erfüllt hatte, nicht beschreiben.
"Er war dein Meister?", drang sanft eine Stimme an ihre spitzeren Ohren, denn wie alle aus der Blutlinie des grauen Thrones, besaß sie keine vollständig runden Ohren.
Sie sah nicht auf. Ihre Sicht war ohnehin nicht die Beste. Ihre Augen brannten und Tränen liefen unaufhörlich über ihr nasses Gesicht.
Jemand näherte sich ihr, kniete sich nieder. Sie konnte es nicht genau erkennen, doch eine Hand umfasste ihr Kinn und hob es bestimmt an. Ein Paar tiefvioletter Augen blickte ihr entgegen.
"Ich kann dir helfen", flüsterte die Stimme und sie spürte einen Stich, ehe alles um sie schwarz wurde, "Ich kann dir helfen, all deinen Schmerz zu vergessen."