Das hier ist ein kurzer Auschnitt des Anfangs einer Geschichte, an der ich schon länger schreibe. Es ist noch nicht fertig, Kronland ist nur ein Arbeitstitel, die Kapitel haben noch keine Namen... aber trotzdem, lest es mal bitte durch wenn ihr Lust und Zeit habt. Ihr seid die Ersten die das hier lesen und ich würde mich über Rückmeldung und Kritik sehr freuen, um zu wissen was ich noch verbessern kann und wie ich meinen Schreibstil an sich verbessern könnte. Alles Liebe, Polla.
Kapitel 1: Jarle
Jarle versuchte so leise wie möglich zu atmen und sich dicht an die Wand zu pressen. Seine Beine schmerzten, sein Haar klebte ihm an der Stirn und seine Lage war, um es vorsichtig auszudrücken, nicht gut. Er versteckte sich in einer der unzähligen dunklen, schmutzigen Gassen von Thoke, einer zwielichtigen Stadt in Ostschar und lauschte auf die schweren Schritte der Wachen, die nach ihm suchten. Sicherlich nicht das beste Versteck, aber das Erste, dass er so schnell finden konnte. Linch würde ihm den Kopf abreisen wenn er wieder im Bau war, aber erst nachdem Jarle bei ihm dasselbe gemacht hatte. Sei kein kleines Kind, oder soll ich dir die Brust geben? Das wird einfach, Junge. Eine Leichtigkeit, oder willst du wieder auf die Straße? Aber klar doch, das wird noch ein Nachspiel haben du Halunke, dachte Jarle düster und ballte die Fäuste. Zuerst hatte auch er gedacht, dass sein erster größerer Auftrag nicht leichter sein könnte. Über die Dächer in den Wachturm, der zum Schichtwechsel leer war, die Schlösser an den Schränken aufbrechen, die Schlüssel für die unteren Viertel stehlen und wieder über das Fenster nach draußen. Eigentlich einfach, aber natürlich war es nicht einfach. Die Partie über die Dächer die laut Linch ein Spaziergang war, dauerte doppelt so lange wie erwartet. Jarle war zwar sportlich aber die Dächer in diesem Viertel waren größtenteils aus Holz, hatten Löcher und waren instabil, sodass er anstatt zu rennen einen Fuß vor den anderen setzten musste und dennoch ein bis zweimal fast in eine der dunklen Wohnungen gestürzt war. Seine Hände waren übersäht mit Splittern und hatten überall Abschürfungen. Dann war da noch die ach so leichte Aufgabe in das Fenster des Turm zu klettern. Der Spalt zwischen Dach und Turm war über sieben Schritt breit und Jarle wäre um ein Haar abgestürzt, nur mit Not konnte er sich am Fenstersims festhalten, natürlich an dem Fenster ein Stockwerk zu tief, sodass er noch ein ganzes Stück an der Außenfassade hochklettern durfte. Er musste seine Finger tief zwischen die scharfen Steine schieben und fand nur wenig Halt. Wenigstens im Turm lief alles wie geplant und er hatte die Schlüssel schnell gefunden, aber als er wieder an das Herausklettern ging musste er den Plan endgültig verwerfen. Schon mit Anlauf war der Spalt fast unüberwindbar gewesen, aber ohne Schwung vom Fensterbrett? Unmöglich. Seufzend hatte Jarle sich entschieden alles auf den Überraschungsmoment zu setzten und die Treppen runterzustürzen, in der irrwitzigen Vermutung, dass die Wachen zu langsam wären, um zu reagieren. Das funktionierte auch für eine Sekunde, er lief die Stufen runter, die Maske tief ins Gesicht gezogen, im ersten Stockwerk war auch niemand, aber am Boden standen vier Männer die sich locker unterhielten. Jetzt oder nie, hatte sich Jarle gedacht, was hätte er auch anderes tun sollen, und war einfach weitergestürmt. Tatsächlich waren die Wachen zu überrascht um zu reagieren, aber nur bis Jarle ein paar Schritte vor ihnen war. Sie waren schließlich ausgebildete Wachen, die geschworen hatten dem König treu zu sein und ihre Pflicht zu tun. Ein paar Augenblicke später war er in einer Verfolgungsjagd durch die Stadt verwickelt. Nur Jarles Jugend und seiner Ausdauer war es zu verdanken, dass er sie im Lumpenviertel abhängen konnte und sich in die erste Seitengasse stürzte die ihm dunkel genug erschien. Gerade liefen die Wachen an ihr vorbei und er hielt unwillkürlich die Luft an.
Geht weiter, geht einfach weiter, betete Jarle, aber offensichtlich war heute einer der heißgeliebten Tage an denen einfach alles schief lief. Pechvogel hatte ihn seine Mutter immer genannt, gelacht und seine Wunden versorgt.
„Wartet mal!“, rief eine der Wachen und spähte in die Gasse, seine Schritte kamen immer näher und jetzt waren auch noch zwei weitere Stiefelpaare zu hören. Jarle drückte sich noch dichter an die Wand und wünschte sich plötzlich nichts mehr als unsichtbar zu sein. Sicher, das Leben bei Linch und der restlichen Bande war nicht leicht, aber besser als allein auf der Straße zu leben und, um Welten besser als der Käfig in dem er landen würde, wenn die Wachen ihn entdeckten. Die Schritte der ersten Wache kamen näher, er schien noch recht jung zu sein und seine Schritte klangen auf dem Boden metallisch schwer. Jarle starrte ihm aus seinem Versteck raus an. Komm nicht näher, hier ist nichts, geh einfach weg! Immer wieder dachte er das und betet zu allen Göttern die ihm einfielen. Die Wache stockte, blieb stehen und sah in seine Richtung. Sein Blick wirkte verunsichert und er wollte schon einen weiteren Schritt machen, blieb aber stehen.
„Hier ist nichts“, sagte er stattdessen und wandte sich zu den anderen um, „Gehen wir.“ Einer der Wachen knurrte wütend durch die Zähne und trat gegen irgendetwas, was Jarle nicht sehen konnte.
„Verdammt. Die Ratte ist uns wohl entwischt.“
„Beruhige dich, war ohnehin nur ein Bengel, was soll der schon groß machen?“ Die erste Wache knurrte nur und wandte sich ab. Auch die anderen folgten ihm und Jarle konnte noch ihre grauen Umhänge und ihre schimmernden Rüstungen verschwinden sehen. Er blieb noch eine Weile still sitzen, bis er sich schließlich aufrichtete und um die Ecke spähte. Ein erleichterter Seufzer und ein Grinsen entwich ihm, der Tag war doch nicht so schlimm wie erwartet, jedenfalls nicht so schlimm wie er hätte sein können. Die Gassen in seiner Umgebung waren gerade leer, aber nur ein paar Straßen weiter würde es nicht mehr so leise zugehen, selbst zu dieser Zeit. Die Dämmerung brach gerade herein und die meisten Menschen machten sich gerade auf den Heimweg oder kauften noch schnell ein paar Sachen ein. Schnell, aber hoffentlich nicht allzu auffällig huschte Jarle durch die Gassen bis er auch schon die ersten Betrunkenen antraf. Kurz überlegte auch er sich, ob er noch sein Glück in einem der Wirtshäuser versuchen sollte. Manchmal waren die Wirtinnen gnädig und gaben ihm auch ein Becher Gebranntes, was ihn lockerer aber leider auch leichtsinniger machte. Linch verachtete den Alkohol, niemals hätte er Jarle etwas gegeben, denn man wurde dadurch nur träge, fett und langsam. Eigentlich war Jarle auch zu jung, um etwas ausgeschenkt zu bekommen, aber gegen genug Geld konnte man sich in Thoke alles kaufen, leider war Geld immer knapp und so musste Jarle sich auf das Betteln beschränken. Letztlich entschied er sich aber weiter zu gehen, so schnell wie möglich wollte er zurück zum Bau, also schlich er weiter durch die Gassen, die immer breiter wurden. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er zu zwei Häusern, zwischen denen ein schmaler Spalt war. Das Wort Gasse wäre noch zu nobel für den schmutzigen Gang, an dessen Ende man durch ein Gitter in das Tunnelsystem unter der Stadt gelangte, dass sich weit erschreckte und vor allem zur Abwasserentsorgung der Reichen und der Verhinderung von Hochwassern diente. Jarle ließ sich durch das Gitter gleiten, er war jetzt dem Fluss so nah, dass er das entfernte Rauschen hören konnte und tastete sich an den feuchten Wänden entlang. Ratten huschten um seine Beine und in der Luft hing ein modrig verfaulter Geruch. Die Tunnel waren ein wahres Labyrinth und Fremde hätten sich schon nach ein paar Schritten hoffnungslos verirrt, was auch hin und wieder geschah. Auch Jarle kam der Weg länger vor als üblich, sodass er schon fürchtete falsch abgebogen zu sein, bis ihm das Licht von Fackeln begegnete und die Wände trockener wurden. Bänke standen im Gang und er wurde schon von ein paar bekannten Gesichtern mit einem Nicken begrüßt. Die Männer und Frauen, die hier unten lebten waren die meiste Zeit über schweigsam und man konnte in ihren Gesichtern Schmerz und Verlust erkennen. Niemand von ihnen war hier, weil er Gefallen daran fand im Untergrund zu leben, in ständiger Angst vor Wachen, oder noch schlimmer, zu starken Regenfällen, die die meisten Tunnel überfluteten. Es waren vor allem Ausgestoßene, Diebe, alt gewordene Freudenmädchen oder Flüchtlinge, die sich für ein Leben in der Bande entschieden, nur mit dem Ziel irgendwie zu überleben ohne im Kerker zu landen.
Er ging weiter durch den Tunnel und kam in den Ersten, von einer Reihe von Räumen in dem Liegen und Decken lagen. Auch hier waren ein paar mürrische Personen, die sich leise unterhielten, oder schon schliefen. Ein paar Räume weiter war die Küche mit einem großem Tisch und abgeschlossenen Schränken, in denen das Essen aufbewahrt wurde. Direkt danach kam der letzte Raum, der einzige in dem nur eine einzelne Person lebte.
Jarle atmete tief durch, schluckte seinen Ärger hinunter und setzte ein, wie er hoffte, ausdrucksloses Gesicht auf. Linch saß auf seinem Bett, alle anderen in den Tunneln, die sie den Bau nannten, schliefen nur auf Decken oder wenn sie Glück hatten Liegen. Linch dagegen hatte ein richtiges Bett, mit Strohmatratze und Kissen, andererseits hatte er es auch verdient. Er war der Anführer der Diebesbande, die sich hier unten eingenistet hatte und sorgte dafür, dass niemand ohne Auftrag was stahl und jeder genug zu essen bekam. Nur durch ihn und sein System stieg die Kriminalität in Thoke nicht so hoch, dass der Stadtherr, oder sogar der König selbst, entschied mehr Wachen und strengere Regeln einzusetzen. Auch war man so wesentlich sicherer, die wenigsten von Linchs Bande wurden geschnappt oder hatten nur noch eine Hand, ganz im Gegensatz zu den restlichen Dieben der Stadt die allein arbeiteten. Man sah kaum einen Bettler am Wegesrand oder eine zwielichtige Person in dem Dunkel der Gassen, die noch all ihre Gliedmaßen besaß oder nicht gebranntmarkt war. Linch wurde hier unten schon fast verehrt, nichts wurde ohne ihn entschieden und er wurde voller Ehrfurcht Meisterdieb oder Tunnelkönig genannt. Jarle war dagegen nur ein Neuer, obwohl er schon drei Jahre hier lebte, aber glücklicherweise hatte Linch ihn selbst aufgelesen und ihn so unter seine Fittiche genommen. Ohne den alten Mann hätte er nicht überlebt, das wusste Jarle, aber es war jedes Mal eine bittere Erkenntnis. Abhängigkeit war etwas, wogegen er sich schon immer gesträubt hatte.
Linch hob den Kopf und musterte Jarle von oben bis unten.
„Ich nehme an, dass du es vermasselt hast?“ fragte er mit spöttischem Blick. Erst jetzt wurde Jarle sich seinem Aussehen bewusst. Seine Hände waren von der Kletterei aufgerissen, seine Haare verschwitzt und überall klebte Dreck, Ruß und anderes ekliges Zeug, von dem er nicht wissen wollte, was es war. Verdammt, dachte er sich und begutachtete sein zerrissenes Hemd, Das war mein letztes. Aber im Moment gab es dringenderes, zum Beispiel Linch.
„Ich habe nichts vermasselt, dein Plan war nicht gut. Nicht gut? Was rede ich da, er war furchtbar, nicht umsetzbar, idiotisch!“, keifte Jarle und musste sich zusammenreißen. Niemand durfte so mit dem Tunnelkönig sprechen, aber er sah es schon als Triumph und Beweis seiner Selbstbeherrschung an nicht laut zu brüllen. Linch legte die Listen weg, mit denen er sich gerade beschäftigt hatte und wirkte nur noch spöttischer.
„Hast du die Schlüssel?“
„Ja, aber dieser gemütliche Spaziergang über die Dächer…“
„Dann ist gut, hat man dich gesehen?“
„Gesehen? Ganz sicher. Aber nicht erkannt. Ich musste mir dank deines genialen Plans einfach aus dem Fenster zu klettern ein äußerst spaßiges Katz und Maus Spiel durch die Stadt liefern, um ein Haar…“
„Da hast du mal wieder Glück gehabt, die Hauptsache ist, wir haben die Schlüssel. Du bist selbst Schuld, hättest ein Seil mitnehmen sollen.“
„Ich hätte…? Hörst du mir überhaupt zu?“, jetzt brüllte Jarle, „Ich bin fast geschnappt worden, hätte eine Hand verloren oder schlimmeres und alles nur wegen ein paar dämlichen Schlüsseln und deinem ach so brillantem, taktischen Genie.“ Er biss sich auf die Lippe um sich zum Schweigen zu bringen. Er durfte nicht ausrasten, bestimmt standen schon ein paar der Bandenmitglieder in der Küche, noch unschlüssig, ob sie direkt reinstürmen sollten, um ihn zu verprügeln, oder ob sie warten sollten bis Linch sie rief. Der war mittlerweile aufgestanden und strich sich seine ordentlichen Kleider glatt.
„Was soll ich machen, Junge? Soll ich dein Händchen halten, oder dir dein Essen an dein Bettchen bringen? Ich wusste du schaffst es und du hast es geschafft. Nun gut, du hast es nur um ein Haar geschafft, aber ich will dir deine Inkompetenz nicht vorwerfen, schließlich bist du noch jung genug um zu lernen. Sieh das ganze als Test für größere Projekte an. Hier bei uns muss man für seine Sachen arbeiten, und du bildest keine Ausnahme, bist lange genug hier um das zu wissen. Dank deiner Arbeit hast du dir dein Essen und ein neues Hemd verdient und das Recht weiter hier zu sein.“ Jarle war erleichtert, dass Linch so ruhig blieb, ein Wort von ihm und er würde nie wieder gehen können. Doch Linch war noch nicht fertig und Jarle versuchte nicht die Augen zu verdrehen, den folgenden Vortrag hatte er schon unzählige Male gehört.
„Du erinnerst mich an mich selbst in deinem Alter. Als ich dich fand warst du abgemagert und hast Brot und Obst geklaut. Du hattest ohne Zweifel Potenzial, bist schließlich ein flinker Junge und ein so unschuldiges Gesicht wie deines ist in diesem Geschäft unbezahlbar. Aber genau wie ich in deinem Alter, warst du stark, intelligent und leider auch ziemlich stur und misstrauisch. Meine Männer wollten nicht, dass du zu uns stößt, sie sagten du könntest nicht die Klappe halten und innerhalb von ein paar Tagen würde es hier von Wachen wimmeln. Doch sie haben mir vertraut und du sollst mir auch vertrauen. Ich will dir nichts Böses, doch ich werde dich nicht wie ein Kind behandeln, dass du nicht bist. Du liegst mir seltsamerweise am Herzen, doch werde ich dich nicht besser behandeln oder irgendwelche Opfer bringen. Am Ende kann ich so nicht für die Bande sorgen. Du überraschst mich immer wieder und es wäre eine Lüge wenn ich abstreiten würde, dass es mich belustigt und fasziniert, wie du scheinbar unlösbare Aufgaben löst. Also hör auf hier rumzuschreien und glaub mir, wenn ich sage, dass du bald verstehen wirst warum die Schlüssel so wichtig sind.“ Linch setzte sich wieder und widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Listen. Jarle stand ratlos da. Jedes Mal verunsicherte ihn dieser Vortrag, sodass er immer Schuldgefühle bekam. Schließlich verdankte er Linch sein Leben und hatte außer ihm niemanden. Nein, das stimmte nicht. Er hatte noch seine kleine Schwester Inji, doch die wohnte am anderen Ende der Stadt, in einem Haus, und musste nicht ihr Essen stehlen. Plötzlich hatte er große Sehnsucht nach ihr, Gespräche mit ihr brachten ihn immer auf den richtigen Kurs und zeigten ihm was wirklich wichtig war. Außerdem war sie wahrscheinlich das einzige Geheimnis, dass er vor Linch hatte, oder das einzige Geheimnis, dass irgendjemand vor ihm hatte. Manchmal ging er tagsüber an ihrem Haus vorbei und band ein Stück Stoff um das Tor, sodass Inji wusste, dass er in dieser Nacht kam und das Tor offen ließ. Linch hätte sich sicher sehr für Inji interessiert, nicht nur als Druckmittel gegen Jarle, sondern auch als Verbündete in einem reichen Haus. Diese Vorstellung ließ Jarle aber frösteln, Inji mochte vieles sein, aber sicher keine Diebin, Spionin oder sonst etwas, was Linch gebrauchen konnte. Sie war einfach ein kleines, unschludiges Mädchen, das sich leider ohne ihren großen Bruder durch das Leben kämpfen musste. Morgen würde er sie besuchen, es war schon viel zu lange her, dass er sie gesehen hatte und sie würde ihn bestimmt auch vermissen. Für heute war es leider schon zu spät, außerdem hatte er ihr keine Nachricht geschickt, sodass das Tor verschlossen war und auf eine erneute Kletterpartie über ein dreimannhohes Eisentor mir Zacken so spitz wie Speere hatte er keine besondere Lust. Morgen hatte er ohnehin mehr Zeit, es wartete kein Auftrag für ihn, denn laut Linch sollte man sich immer eine Weile bedeckt halten um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Es war ohnehin ein Wunder, dass der Bau noch nicht entdeckt worden war.
„Willst du noch etwas?“, fragte Linch ungeduldig und sah wieder von seinen Listen auf.
„Nein, es ist nichts. Ich geh jetzt schlafen.“
Linch nickte abwesend und Jarle verließ den Raum, vor dem tatsächlich ein paar Schlägertypen standen, die ihn düster beäugten und die Fäuste ballten. Jarle sah die Typen genauso misstrauisch an und verkniff sich eine gehässige Bemerkung, man musste sich ja nicht mit jedem anlegen, vor allem nicht mit Kerlen die aussahen, als ob sie ihn wie einen Zweig zerbrechen konnten.
Mittlerweile müde, ging er zu einem der Schlafsäle, zog sich aus und wollte sich schon in seine Decken wickeln, als ihn jemand ansprach. Es war Reuben, einer von Linchs Verbündeten in der Stadt, der nur manchmal vorbei kam um Geschichten zu erzählen und zu berichten, welcher Händler gerade was verkaufte und wo er es lagerte. Früher war er mal ein reicher Händler gewesen, der zusammen mit seinem Bruder das seltene Metall aus dem Raham-Gebirge verkaufte. Doch eines Tages war seine Mine eingestürzt, sein Bruder bankrottgegangen und nur mit Mühe konnte er sich über Wasser halten. Er musste ein neues Gewerbe finden, hatte aber nicht genug Geld um seinem Bruder noch zu versorgen, sodass der nach einiger Zeit auf der Straße landete und einige Zeit später bei Linchs Bande, doch dafür musste nun Reuben die Bande über die aktuellen Geschehnisse informieren, sonst würde sein Bruder wieder auf der Straße landen. In den Tunneln keine unübliche Lebensgeschichte.
Reuben war eigentlich ein netter Kerl, und der einzige mit dem sich Jarle hier unten gern unterhielt, der Mann mittleren Alters strahlte eine solche Gelassenheit und Vertrauenswürdigkeit aus, dass man ihm ohne nachzudenken sein Herz ausschütten konnte. Jarle grinste ihn an und ließ sich neben ihm auf die Bank fallen.
„Wie geht’s so Kleiner?“, fragte Reuben, „Hab gehört du hattest einen interessanten Tag.“
„Gerüchte verbreiten sich schnell und interessant würde ich nicht gerade sagen.“
Reuben lachte leise, „Ich hab es auch eher gesehen, als gehört. Du warst bei dem Wachturm der unteren Viertel, ich hab dich von den Dächern zum Turm springen sehen. Alle Achtung, das war ein guter Sprung.“
Jarle verzog das Gesicht, „Nicht gut genug wie du vielleicht gesehen hast. Laut Linch sollte es nur ein kleiner Spalt sein.“
„Da hat der sich wohl geirrt. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, aber ich hätte es besser wissen sollen. Dich hält so schnell nichts auf, auch keine vier Wachen oder Linchs Lügengeschichten.“ Seine Stimmung wurde immer düsterer und nachdenklicher.
Ruckartig hob er den Kopf, und einen Augenblick später hörte es auch Jarle. Irgendwo in den Tunneln war lautes Geschrei zu hören, zwei Männer stritten sich lauthals doch sie lallten nur und es waren auch dumpfe Schläge zu hören. Als hätten wir nicht schon genug Probleme, dachte sich Jarle, jetzt müssen die sich auch noch untereinander an die Kehle gehen. Die Stimmen wurden immer lauter und jetzt liefen auch schon andere Männer dazu um die zwei auseinanderzubringen, Jarle wollte auch schon aufspringen, aber Reuben hielt ihn unsanft am Arm fest und schüttelte den Kopf.
„Keine gute Idee dort hinzugehen, oder?“ Er sah ihn eindringlich an, bis Jarle nickte.
„Nein, wirklich keine gute Idee.“ Er setzte sich wieder und lauschte nur noch, die Stimmen waren jetzt so laut, als wäre die Männer direkt im Raum, und trotzdem wachten die wenigsten auf, solche Streitereien untereinander waren normal. Was sollte man auch erwarten, wenn man ein Haufen krimineller, mittelloser und zum größten Teil trunksüchtiger Personen in einem engen Tunnelsystem zusammerpferchte. Die Männer würden die zwei Streihälse auseinander zerren, einer würde gehen und der andere noch lange Zeit rumbrüllen. Das Einschlafen würde diese Nacht nicht ganz so leicht werden.
Plötzlich war es still und Jarle setzte sich zugleich verwundert und besorgt auf. Kurz darauf, wurde noch lauter gebrüllt und einer der Schlägertypen lief in Richtung Linch, der kurz darauf mit wütendem Gesicht den Raum durchquerte. Jarle schloss die Augen, oben in der Stadt war es zwar gefährlich, aber dasselbe galt auch hier unten. Er hatte Situationen wie diese erst zweimal erlebt, aber was geschehen war erkannte man sofort, auch ohne dabei zu sein. Einmal hatten sich zwei alte Frauen gestritten, die sich sosehr schlugen, bis eine nur noch blutend am Boden lag und sich nicht mehr rührte und ein anderes Mal war es ein Mann gewesen der sich an einem der Freudenmädchen vergriffen hatte. Wie auch immer, es brauchte einiges um Linch so wütend zu machen und aus seinem Zimmer zu locken. Weder die andere alte Frau noch der Mann waren ihm danach je wieder begegnet, damals hatte Jarle geglaubt, dass man sie nur verbannt hätte, doch mittlerweile war er sich nicht mehr sicher. Es gab im Bau nur wenige Regeln. Stiehl nicht ohne Anweisung und erzähle niemandem etwas. Das war es im Prinzip schon, aber wie es sich anhörte hatte einer der Betrunkenen dagegen verstoßen. Ein paar Männer, die vorher aufgesprungen waren, kamen wieder in den Schlafsaal und unterhielten sich leise.
„Will nicht wissen was Linch jetzt mit ihm macht.“
„Was soll er schon anderes machen? Der hat dem Kerl schließlich den Schädel eingeschlagen.“
Jarle zog die Luft ein. Die Männer hatten Recht, er wollte auch nicht wissen was Linch jetzt mit dem anderen Kerl machte. Der hatte schließlich das Leben eines Bandenmitglieds gestohlen, sodass er nicht nur ein normaler Mörder war der sich hier versteckte, sondern selbst in dieser Gesellschaft verachtet wurde. Mal wieder wurde ihm bewusst wie gefährlich die Welt doch war, selbst hier war man unter Feinden.
Reuben ließ Jarles Arm los und klopfte ihm stattdessen auf die Schulter.
„Alles in Ordnung.“
„Ich weiß, aber trotzdem solltest du nicht so entsetzt sein. Du lebst hier zwischen Mörder und Dieben, was denkst du hat sie hier her getrieben? Sicherlich keine guten Manieren. Das Kämpfen gehört zum Leben, genau wie der Tod.“
„Ich bin selbst ein Dieb, und die meisten sind hier weil sie Pech hatten.“
Jarle begutachtete Reuben mit einem abschätzigen Blick. Der ehemalige Händler war zwar das, was einem Freund am nächsten kam, aber er konnte nicht glauben wie teilnahmslos er über den Tod eines Menschen reden konnte, vor allem wenn der keine zwei Tunnel von hier entfernt starb. Reuben zuckte nur mit den Achseln und bedachte ihn mit einem eigenartigen Blick.
„Du wirst in deinem Leben noch viele Tote sehen. Manche von ihnen sterben freiwillig, andere wegen eines höheren Ziels, aber du musst deine Pflicht tun, egal was es kostet.“ Jarle sah ihn nur verständnislos an, diese Seite kannte er noch nicht an Reuben und er wusste auch nicht was er davon halten sollte. Der hob nur die Hand zum Abschiedsgruß und ging unbeteiligt weg. Ein kalter Schauer lief über Jarles Rücken und er starrte noch lange in die Richtung in die Reuben verschwunden war und in der jetzt vermutlich zwei Leichen abtransportiert wurden.
Am nächsten Tag genoss er die ersten Sekunden nach dem erwachen in vollen Zügen, in denen er nicht wusste wo er war und was geschehen war, doch wie jeden Morgen wurde diese Entspannung mit einem Schlag zerstört. Er erinnerte sich an den gestrigen Mord, die Verfolgungsjagd und an das Gespräch mit Reuben. Ein Brummen entfuhr ihm und müde setzte er sich auf. Sein Rücken tat weh, genau wie seine Hände, in denen immer noch Splitter steckten. Er würde zu einer der Frauen gehen müssen, was ihn noch grantiger machte. Der einzige Lichtblick war, dass er am Abend wider Inji treffen würde, wenigstens diese Aussicht ließ ihn lächeln und gab ihm einen Grund zum aufstehen. Nachdem er sich aus der Küche ein neues Hemd, welches ihm viel zu groß war, und ein karges Frühstück geholt hatte, ging er zu Lia, die gerade neue Kleider aus den Stoffen nähte, die sie erst letzte Woche bekommen hatte. Lia war früher, in ihrem alten Leben, ein Freudenmädchen und, wie sich Jarle dachte, damit nicht ohne Erfolg gewesen. Mit ihrem blonden Haar und den fast schwarzen Augen war sie bezaubernd schön und mit Ende zwanzig auch nicht zu alt, um sich noch anzubieten, doch sie war eine der wenigen, die sich bewusst für ein Leben in den Tunneln entschieden hatte, weil sie sich nicht mehr tagtäglich wie eine Ware verkaufen wollte, dazu war sie viel stolz.
„Jarle“, begrüßte sie ihn erfreut, „Schön dich zu sehen, wie kann ich helfen?“ Jarle wurde rot. Warum konnte keine andere Frau hier sein, die wenigstens halbwegs mit der Pinzette umgehen konnte? Er musste sich ständig räuspern und stottern, mit schönen Frauen konnte er noch nie wirklich sprechen, mit Frauen generell sprach er selten, aber irgendwie verstand Lia die zusammenhangslosen Wörter und Silben und nahm lächelnd seine Hände.
„Das tut vielleicht etwas weh, entschuldige“, murmelte sie und zupfte schon mit Nadel und Pinzette die Holzsplitter aus seinen Händen, er selbst wäre dazu vermutlich zu ungeschickt. Schweigend sah er zu und zuckte nur manchmal leicht zusammen, wenn sie statt in Holz in seine Haut stach. Nach einer Weile war sie fertig und stand auf. Jarle konnte nicht anders, als die Eleganz, die in jeder ihrer Bewegungen lag zu bewundern.
„Das hätten wir, noch etwas?“, lächelte sie und strich ihm durch sein dunkles Haar. Jarle schüttelte den Kopf und damit auch leider ihre Hand ab, Lia wirkte traurig und es tat ihm weh sie zu verletzten. Er hatte erzählt bekommen, dass sich Lia nichts sehnlichster als Kinder wünschte, sie wäre auch eine gute Mutter wie er fand, aber genau das war für sie unmöglich. Die meisten Freudenhausbesitzer ließen die jungen Mädchen, die für ihn arbeiteten von einem speziellen Arzt behandeln, sodass sie niemals Kinder bekommen konnten, so war alles einfacher und man hatte keine Horde von Bastarden um die man sich kümmern musste. Jarle würde niemals Lias Schmerz verstehen können, aber es tat ihm Leid um sie, die in ihm manchmal eine Art Sohn sah, den sie niemals haben konnte. Ohne noch etwas zu sagen ließ er sie allein, wahrscheinlich hätte er ohnehin etwas Dummes gesagt, da war es besser gleich zu gehen.
Die Sonne stand hoch am Himmel, während Jarle durch die Straßen schlenderte. Gezwungenermaßen musste er dabei durch das Lumpenviertel, indem er sich letzte Nacht versteckt hatte, und in dem jetzt Händler Nadeln, grobe Stoffe oder Reparaturen anboten. Die vertrauten Gassen weckten die Erinnerungen an die letzte Nacht und er wurde mit jedem Schritt unruhiger, auch da in diesem Viertel mehr Wachen waren die dafür sorgten, dass den Frauen, die hier vorwiegend einkauften, nichts geschah. Nervös lief Jarle den schnellsten Weg aus dem Viertel, nicht ohne sich ein kleines Stück Stoff mitzunehmen, das vergessen auf dem Pflaster lag.
In den höheren Vierteln waren die Straßen wesentlich sauberer und breiter, sodass auch Pferdekarren sie passieren konnten. Hier war in der ganzen Stadt am meisten Betrieb und die Straßen konnten nicht mehr einer bestimmten Berufsklasse zugeordnet werden. Silberschmiede hatten hier ihre Stände neben Tuchhändlern und Obstverkäufern und dazwischen stand immer mal wieder ein Wirtshaus, dass schon am Mittag zum bersten gefüllt war. Die Menschen drängten sich durch die Straßen und Kinder liefen in Rudeln durch die Stadt. Einige von ihnen kannte er und kurz kam ihm der Gedanke zu ihnen zu gehen, aber resigniert schüttelte er den Kopf. Dies war nicht mehr sein Leben, die Zeiten in denen er durch die Stadt lief und Späße machte waren vorbei und die Menschen, die er aus ihr noch kannte, hatten deutlich gemacht, dass sie sein Schicksal nicht kümmerte. So lief er nicht den Jungen in seinem Alter her, sondern lief immer weiter Richtung Westen und zum Raham-Gebirge, denn je weiter man in diese Richtung ging, desto größer wurden die Häuser, die Tore und die Geschäftsstände. Hier, in den oberen Vierteln lebte nur die Reichen, das hieß die reichsten Händler, die mit weißem Metall oder Edelsteinen handelten, Edelmänner mit ihren Familien und der Stadtherr, der aus einer adeligen Familie stammte. Außerdem wohnte hier auch Inji. Natürlich nicht als Prinzessin oder verwöhntes Mädchen, sondern als Bedienstete im Haus des Stadtherrn. Mit Bedauern erinnerte Jarle sich an den Tag an dem sie getrennt wurden. Es war kurz nach dem Tod ihrer Mutter gewesen, vor vier Jahren. Sie war an dem schwarzem Fieber gestorben, einer schlimmen Seuche die in dieser Zeit umherging und fast immer tödlich ausging, diejenigen die überlebten blieben ihr Leben lang gezeichnet. Er war damals zehn Jahre alt gewesen, seine Schwester erst sechs und einen Vater hatte keiner von ihnen. Jarles Vater starb kurz nach seiner Geburt und als ein paar Jahre später der König nach Thoke kam und seine Leibgarde mitbrachte, verliebte sich Jarles Mutter in einen der Soldaten und gemeinsam bekamen sie eine Tochter, Inji. Doch der König blieb nicht ewig und kaum drei Jahre nach Injis Geburt verließ der Soldat sie und ließ seine Mutter mit ihm und seiner Schwester allein. Die Tatsache, dass er und Inji verschiedene Väter hatten, war nie von Bedeutung gewesen, sehr wohl aber für die Nachbarn. Sie nannten seine Mutter eine Hure und ein Flittchen, damals wusste er noch nicht was es bedeutete, aber verstand sehr wohl die böse Absicht dahinter. So kam es, dass er und Inji nach dem Tod ihrer Mutter allein waren. Keiner der Nachbarn wollte sich ihrer Annehmen, vor allem, da Jarles Vater laut den Gerüchten ein hexender Teufel war, Injis Vater wurde dagegen als Soldat respektiert. Niemand wollte die Geschwister zusammen aufnehmen, aber der Stadtherr der Stadt hörte von ihrer unglücklichen Lage, und nahm zumindest Inji, als Tochter eines treuen Soldaten der nicht für sein Kind sorgen konnte, auf und gab ihr großzügig eine Stelle als Küchenmädchen. Für sie war das alles noch schwerer als für Jarle, schließlich war sie damals erst sechs Jahre alt. Jarle tobte damals und wollte unbedingt bei seiner Schwester sein, aber er verstand auch, dass sie so ein besseres Leben hatte, als mit ihm allein auf der Straße. Wochen danach entdeckte Linch ihn beim Silber stehlen, dass er später verkaufen wollte und hinderte ihn daran. Ein Glück, denn hätte er es verkauft, hätte man auch entdeckt, dass es gestohlen war und er wäre im Kerker gelandet. Er verdankte Linch sehr viel, aber seine Schwester musste er unter allen Umständen beschützen, schließlich war sie alles an Familie, das er hatte.
Jarle war mittlerweile erleichtert ein neues Hemd zu tragen, denn mit dem zerrissenen von gestern, wäre er niemals in dieses noble und saubere Viertel gekommen, die Wachen hätten ihn zurückgestoßen und verscheucht. Vermutlich hätten sie ihn für einen Rumtreiber und Dieb gehalten, der er, wie er mit einem Lächeln zugeben musste, auch war.
Ganz im Westen, an die graue Steinwand geschmiegt, die hier glatt poliert war, stand das Haus des Stadtherrn. Eigentlich war es mehr Burg als Haus, mit starken Mauern, bewaffneten Toren und Schießscharten in den Wänden. Es war das älteste Gebäude in Thoke, aus der Zeit, als die Fürsten noch Könige waren und sich bekämpften. Erst durch Raham den Großen, nach dem das Gebirge benannt war, vereinten sich die fünf Reiche zu einem einzigen Königreich, Kronland, die Könige wurden zu Fürsten, und unterstanden König Raham, der sein Leben lang durch die Reiche zog um für Frieden zu sorgen, eine Tradition die beibehalten wurde, und die dem König dem Beinamen Reisekönig verlieh.
Irgendwo in dieser Festung, in der sich Verwaltung, Gericht und Militär vereinten, arbeitete Inji, vermutlich in der Küche oder sie fegte gerade die Böden. Mit leisem Lächeln im Gesicht bei dieser Vorstellung ging er an der Mauer entlang, bis er zu einem der Tore kam, an der immer dieselbe Wache saß und vor sich hin schnarchte. Der Mann war im Grunde recht freundlich und kannte auch Jarles Gesicht, allerdings dachte er, dass das Stofftuch, dass er um das Tor band nur dazu da war um seiner Schwester zu sagen, dass er an sie dachte und sie nicht allein war, niemals hätte er dem kleinen Mädchen zugetraut Nachts die Schlüssel zu stehlen, um sicherzugehen, dass das innere Tor offen war, hier daußen waren die Stäbe weit genug auseinander, dass Jarle sich mit etwas Mühe hindurchquetschen konnte, doch das würde nicht mehr lange funktionieren. Jarle war noch klein für sein Alter, doch bekam er immer häufiger Wachstumsschübe und er war auch nicht mehr so schmal und abgemagert wie früher. Durch die riskanten Aufgaben und das ständige Rennen wurde er immer breiter und muskulöser, was zunehmend ein Problem war, wenn er seine Schwester weiterhin sehen wollte.
Leise band er den Stofffetzen um einen der Gitterstäbe und verschwand so schnell wie er gekommen war, eine Unterhaltung mit einer Wache war das Letzte, was er nach der letzten Nacht wollte.
Zurück im Bau half er Lia und anderen Frauen beim Zubereiten des Abendessens. Sie hatten reichlich Kartoffeln und Speck zur Verfügung, worauf sich schon die ganze Bande lange freute. Im Moment war der Bau aber weitgehend leer, da die meisten ihre Aufgaben hatten oder sich sonst wie vergnügten. Jarle wurde zunehmend ungeduldig, er wollte unbedingt zu seiner Schwester, aber das würde noch eine ganze Weile dauern. Die meisten Männer in den Tunneln hätten nie im Leben ein Messer in die Hand genommen um Kartoffeln zu schälen, sie bezeichneten so etwas als Frauenarbeit und lachten Jarle aus wenn er das bestritt.
„Tut mir Leid Kleiner. Frauen-und Kinderarbeit“, sagten sie dann und lachten umso lauter, wodurch Jarle immer wütender wurde. Er war kein Kind mehr, nicht mehr seit dem Tod seiner Mutter, und bald wenn er fünfzehn wurde, würden die anderen ihn auch nicht mehr so behandeln. Sicher, mit fünfzehn war man nicht erwachsen, erst mit siebzehn wurde man mündig und heiratsfähig. Aber fünfzehn war besser als vierzehn.
Kochen, Waschen, all diese Dinge waren angeblich Frauenarbeit, aber was machten Männer ohne eine Frau? Weder Kochen noch Waschen? Man sollte auch als Mann bereit sein, sein eigenes Leben zu organisieren. Frauen wurden in der Gesellschaft als hilflos angesehen, doch das hilfloseste war ein Mann ohne Frau. Jarle hatte sich schon immer an diesen Dingen gestört, er war nur von seiner Mutter großgezogen worden und hatte eine ganz andere Erziehung als seine Freunde genossen.
Die Zeit schien zu kriechen, so kam es Jarle vor, und er seufzte erleichtert auf, als sich alle in der Küche zusammenfanden um zu essen, was bedeutete, dass die Dämmerung begonnen hatte. Wie jeden Abend setzten sich alle an den großen Tisch, von dem niemand zu wissen schien, wie der in die Tunnel gekommen war, und Linch stellte sich an das Kopfende und sprach ein paar Worte.
„Meine Lieben Frauen und Männer. Die letzten Tage waren stürmisch wie immer, und wir alle haben Gelächter und Freundschaft verdient, doch werden wir alle überschatten von den jüngsten Ereignissen. Ich bin sicher, dass der gestrige Streit niemandem verborgen blieb, und es ist auch nicht meine Absicht ihn zu verschleiern. Gestern Abend haben zwei unserer Brüder dem Branntwein nachgegeben, wodurch sie ihren Verstand, ihre Tugend und letztlich ihre Zukunft verloren. Der Streit endete mit einem tragischen Tod, doch ich versichere euch, dass der Mörder nie wieder einen Fuß in unseren Bau setzten wird und das ich ein solches Verhalten niemals, niemals, dulden werde. Wir sind eine Familie, eine Gemeinschaft!“ Linchs Augen funkelten gefährlich und er hob seinen Becher, woraufhin alle seinem Beispiel folgten und im Chor murmelten: „Eine Gemeinschaft!“
„Unser Leben ist nicht einfach, ich behaupte auch nicht, dass es ehrlich ist, oder wir noch alle unsere Ehre haben. Denn von Wahrheit oder Ehre füllt sich einem nicht der Magen, dazu benötigt man Brot und Fleisch. Echtes Essen, nicht diesen sinnbildlichen Blödsinn den die Priester predigen. Hält uns etwa der süße Segen der Götter, erfüllende Ehre, oder der herrliche Genuss der Wahrheit am Leben? Nein! Das tun nur richtige Dinge, Dinge im Hier und Jetzt, nicht die, die uns erst bei den Toten erwarten. Das können ruhig diese sesselfurzenden Adeligen glauben. Wenn wir nicht zusammenhalten werden wir allzu schnell unsere Ahnen treffen, und ich weiß nicht was ihr denkt, aber meine waren allesamt Idioten die ich nicht so schnell wiedersehen will. Einigkeit, Zusammenhalt und Loyalität sind die einzigen Dinge die uns daran hindern zu zerbrechen und in den dunklen Gassen von Thoke zu verhungern. Halten wir zusammen. Das Leben bietet uns mehr als den Tod und dessen Gewissheit. Lasst euch das Leben schmecken.“ Damit stieß er seinen Becher wieder in die Höhe und wieder folgte alle seinem Beispiel, dann wurde miteinander angestoßen und sich unterhalten. Jarle musste grinsen, Linch verachtete die Priester und deren leere Versprechungen, doch er selbst würde einen ausgezeichneten Priester abgeben, jedenfalls waren sein Reden immer vollen Leidenschaft und mitreißend, kein Wunder, dass ihm die Menschen nur allzu gern zuhörten.
Nach dem Essen wurde aufgeräumt, dabei musste Jarle aber glücklicherweise nicht mehr helfen und machte sich stattdessen zügig auf den Weg in die höheren Viertel. Der Mond stand bereits am ersten Viertel und das letzte Stück legte er rennend zurück. Das Tuch war von den Gitterstäben verschwunden und er zwängte sich mit Mühe hindurch, vor allem mit vollem Bauch gestaltete sich das als schwierig. Als er endlich hindurch war, schlich er geduckt über den dunklen Hof. Wachen patrouillierten auf der Mauer, mehr als Machtdemonstration anstatt als echte Sicherheit, weshalb die Männer auch müde und unaufmerksam waren. Trotzdem musste Jarle leise und unsichtbar sein, denn ein Einbruch in die Festung des Stadtherrn war sicherlich schlimmer, als der Einbruch in einen Wachturm, doch hatte er diesen Weg schon so oft genommen, dass es mittlerweile ein leichtes war Deckung zu finden. Erst ein kurzes Stück über offene Fläche, dann konnte er sich hinter eine kleine Mauer ducken. Zwei Schritte weiter konnte er sich entlang der hohen Hecke bis zum ersten Tor schleichen, wo er sich auf den Boden kauerte und halb in der Hecke verschwand. Hier traf er sich immer mit seiner Schwester, für die solche Treffen nicht weniger gefährlich waren. Jedes Mal musste sie sich in die Wachkammer schleichen und die Schlüssel für die inneren Tore stehlen, um aus dem Hauptgebäude zu kommen, von dort konnte sie sich zwar durch den Rosengarten laufen, indem sie keiner entdecken konnte, aber nach jedem Treffen hatte sie neue Kratzer auf Gesicht und Händen.
„Jarle?“, flüsterte eine leise Stimme zaghaft, „Bist du da?“ Ihr Gesicht erschien zwischen den Gitterstäben des ersten Tores und Jarle musste vor Erleichterung grinsen. Sofort kam er näher an das Tor gekrochen und setzte sich davor, Inji folgte breit lächelnd seinem Beispiel.
„Oh Jarle, ich habe dich so sehr vermiss“, stammelte sie und Tränen schimmerten in ihren Augen, die genauso grün waren, wie die seinen. Nur ihr Haar war nicht so dunkel, sondern hatte die Farbe Honig. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen und er ergriff sie sofort, genauso gerührt wie sie.
„Ich dich auch. Erzähl schon, wie geht es dir?“
„Ich dachte schon dir sei was passiert, wir haben uns so lange nicht mehr gesehen“, jetzt weite sie, aber mehr aus Glück und Erleichterung vermutete ihr Bruder.
„Du weißt doch, dass mir nichts passiert. Behandelt man dich noch gut?“
Inji nickte, „Ja, es sind alle freundlich zu mir. Mittlerweile kann ich sogar allein das Frühstück vorbereiten und den Zitronenkuchen für den Stadtherrn Iphes machen.“ Sie klang so stolz und lächelte so lieb, dass er sie am liebsten umarmt hätte, doch das Tor zwischen ihnen ließ das nicht zu.
„Das klingt toll Inji. Freut mich wenn es dir gut geht.“ Er lächelte sie breit an. Sie runzelte nun traurig die Stirn und sah auf ihre verschränkten Hände.
„Was ist mit dir? Geht es dir gut? Hast du genug zu essen? Vielleicht kannst du auch hier leben, dann wären wir wieder zusammen…“
„Du weißt, dass das nicht geht. Aber es geht mir gut, und wie du siehst werde ich nicht dünner. Bald passe ich nicht mehr durch das Außentor“, scherzte er und drückte ihre Hände, sie lächelte auch tatsächlich und wühlte in ihrer Tasche, bis sie eine kleines eingewickeltes Päckchen hervor kramte und ihm gab. Jarle wickelte das Papier auseinander und musste auflachen. Inji erwiderte sein Grinsen und ließ seine Hände los.
„Ich muss wieder rein. Es tut mir Leid.“
„Ist schon in Ordnung, und vielen Dank.“ Er hob dabei das Päckchen und wollte sich schon abwenden, aber Injis Stimme hielt ihn zurück.
„Jarle?“, fragte sie wieder zögerlich, „Wirst du an meinem Geburtstag auch da sein?“
Jarle sah sie verwirrt an: „Das dauert aber noch ganz schön lange.“
„Ich weiß, aber trotzdem. Ich weiß ja nie wann ich dich sehe und ob ich dich überhaupt noch sehe. Versprich mir einfach an dem Tag da zu sein, nur damit ich weiß, dass es dir gut geht, verstehst du?“ Sie sah ihn mit großen Augen an und er versprach es ihr. Danach verabschiedeten sie sich und schlichen beide davon. Der Weg nach draußen war so einfach wie das hineinkommen, nur durch das Tor musste er sich mit Mühe quetschen. Niemals durfte Linch etwas von Inji erfahren, sie war ein viel zu lieber Mensch um erpresst zu werden und eine viel zu schlechte Lügnerin um irgendetwas heimlich zu machen. Jarle war überglücklich wenn er bei ihr war, aber immer wenn sie sich verabschiedeten sah sie so unendlich traurig und besorgt aus, dass es ihm fast das Herz zerriss.
Leise wie ein Schatten schlich er durch die Stadt und wich allen Wachen aus, die nach zwielichtigen Gestalten suchten und im Moment konnte sich Jarle nicht vorstellen, wer noch zwielichtiger als er aussehen konnte. Allein bei Nacht in einer dunklen Gasse und an die Wand gedrückt mit einem Päckchen in der Hand. Er wickelte das Papier wieder auseinander und musste wieder lächeln. Es war so süß von Inji, dass sie sich um ihn kümmern wollte, obwohl es umgekehrt sein sollte. Er nahm sich ein Stück und schob es sich in den Mund. Inji hatte nicht gelogen der Zitronenkuchen, den sie machte, war wirklich lecker. Den Rest davon wickelte er wieder in das Papier und drückte es eng an sich, während er durch die Dunkelheit schlich.