Der Schatten in deinen Augen verriet mir schon lange, dass du keine Lust mehr hast. Worauf? Ich wusste es genau. Du hattest keine Lust mehr auf das Leben. Du hattest keine Lust auf DEIN Leben. Doch wer hat das zu dieser Zeit schon gehabt? Ich wusste nicht, wie man dich hätte aufmuntern können. Du bist einfach versunken in dem Unglück anderer. Es ging dir so sehr zu Herzen. Du littest mit den Hinterbliebenen. Du littest mit den Kranken. Du littest mit den Unzufriedenen. Du littest, weil andere litten. Denn du hast geholfen. Und dabei hast du nie an dich gedacht. Du warst blind vor Ehrgeiz. Du hast jedem geholfen. Jedem… nur mir konntest du nicht helfen. Mir hast du nicht geholfen. Für mich hattest du keine Zeit mehr, weil das Leid der anderen dich zu sehr angestrengt hatte. Ich weiß, du musstest dich für andere aufopfern. Doch was ist mit dir? Was ist mit mir? Bin ich dir völlig egal? Das glaube ich nämlich nicht. Du hast nur Angst, etwas falsch zu machen. Unser Leben war nämlich nicht unglücklich. Zumindest nicht in diesem Sinne. Wir mussten nicht hungern. Wir hatten ein Dach über dem Kopf. Wir hatten zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter. Unsere Kinder konnten nicht zur Schule gehen, aber wir haben sie alles Wichtige gelehrt. Unser Leben war in Ordnung, so wie es war. Und du hattest Angst, du könntest es kaputt machen. Bei den anderen war das nicht so. Sie hatten schon alles verloren. Du warst nur da, um ihnen einen Lebensinhalt zu geben. Du hast ihnen gezeigt, dass es sich zu leben lohnt. Du hast mit den Kindern vom Nachbarhaus gespielt, die gebrechliche alte Frau von Gegenüber in ihrem Rollstuhl die Straße rauf und runter gefahren, wobei sie mächtig Spaß hatte. Ich hab währenddessen im Garten gearbeitet, für unsere Kinder gekocht, mit ihnen gespielt, abgewaschen, das Haus geputzt, die Einfahrt gefegt… ich machte es gerne, weil ich sah wie glücklich du warst. Doch jetzt sehe ich nur noch den Schatten in deinen Augen, der mir sagt, dass du keine Lust mehr hast. Du hast keine Lust mehr, ständig mit den Nachbarskindern zu spielen, jeden Mittag mit der gebrechlichen alten Frau von Gegenüber immer denselben Weg spazieren zu gehen. Du hast keine Lust mehr, anderen zu helfen, obwohl du selbst genauso Hilfe nötig hättest. Doch Hilfe annehmen wolltest du nie. Es war eine Schwäche von dir. Jedes Mal, als ich dir geraten habe, dich mal auszuruhen, dich nur für fünf Minuten auf den Sessel zu setzen und die Füße hochzulegen, wolltest du nicht hören. Du hast mir einfach nicht zugehört. Nur wieder an deine nächste Aufgabe gedacht. Es stand fest: ich wusste nicht, ob es das gibt, aber du hast eindeutig das Helfer-Syndrom! Du konntest dafür nichts, ich weiß. Und du wolltest nicht mehr. Der Schatten in deinen Augen verriet es mir. Früher leuchteten sie. Deine Augen funkelten im Sonnenschein wie ein Stern am dunklen Himmelszelt. Dein Lachen war wie der erste Regen nach einer ewigen Dürre. Dein Atem war kühl wie ein leichter Frühlingshauch. Deine Haare waren braun wie leckere Vollmilchschokolade. Deine Haut hatte einige Narben, aber sie standen dir wahnsinnig gut. Denn sie erinnerten mich an unsere Wanderung in den Bergen. Du wärst fast die steile Klippe hinuntergestürzt und ich hab dich an den Füßen hoch gezogen. Deine zarte Wange streifte das harte Gestein. Als du mir in die Augen sahst, wusste ich, warum ich dich liebe. Mit jedem Blick auf deine Narbe fällt es mir wieder ein. Doch das Leuchten deiner Augen ist verschwunden. Es erfüllt nicht mehr dein Leben, anderen zu helfen. Es nimmt dir nur die Kraft und hinterlässt den Schatten in deinen Augen, der dich schließlich dazu brachte, nicht mehr glücklich zu sein.
„Ich habe einen Wunsch. Erfüllst du ihn mir?“ Du fragtest mich das ganz still, in einer ruhigen Minute. Die Kinder spielten gerade im Garten. „Gehst du mit mir in die Berge?“ Ich war nicht überrascht von dieser Frage, obwohl es das erste war, was du seit langem zu mir gesagt hattest. Ich nickte, umarmte dich, ging zu den Kindern und überbrachte ihnen die gute Nachricht, dass wir alle vier verreisen würden. Sie waren überglücklich, doch der Schatten in deinen Augen wurde größer und größer. Je mehr wir uns von unserem Haus entfernten, desto mehr verlorst du deine Lust am Leben. Ich sah das und du spürtest, dass ich es sah. Als wir unten am Berg ankamen, machten wir uns auf den Weg nach oben. Es war derselbe Berg wie vor 15 Jahren. Dieselben steilen Klippen, dasselbe harte Gestein. Wir waren schon ein ganzes Stückchen gelaufen. „Geht doch schon mal vor.“, hattest du mit zittriger Stimme gesagt. Es war dieselbe Stelle wie damals, als du stürztest und ich dich auffing. Ich umarmte dich ganz fest, denn ich war sicher, ich würde dich nie wieder sehen. Denn der Schatten in deinen Augen nahm dir die Kraft zu leben.
Ich liebe dich, Maria.