Während sich auf dem Moorseehof die Dinge langsam zum Guten entwickelten, verlief der Alltag in Straumfjorður ruhig und ohne Aufregung. Rúna war bis zum Beginn der kälteren Jahreszeit zu Jorunn ins Grubenhaus gezogen und hatte dort schon am ersten Tag nach ihrer Ankunft begonnen, den Unterweisungen der Völva zu lauschen und sich in der Kräuterkunde zu beweisen. Manches kannte die junge Frau aus ihrer Zeit bei Ári, andere Heilpflanzen, wie die Gundelrebe(1) oder das aus Island stammende wundreinigende Moos(2) wurden ihr von der Alten neu erklärt.
Noch wollte die Seherin nicht, dass sich ihre kaum genesene Schülerin schwerer Arbeit aussetzte, doch so ganz konnte sie die Jüngere auch nicht zur Ruhe zwingen. Also saß Rúna täglich einige Zeit am Spinnrad und füllte Spindel um Spindel für Lathgerthas Webstuhl. Beide, die Gefährtin Ragnars und die Seherin, waren vom Fleiß der jungen Frau sehr angetan. Die Schildmaid machte es sich zur neuen Gewohnheit, sich täglich am Abend zu den beiden anderen Frauen zu gesellen und sorgte so auch unauffällig dafür, dass Rúna mehr und bessere Speisen bekam als andere Sklavinnen, mit denen sie die junge Frau nicht vergleichen mochte.
Im Gegensatz zu den meisten Unfreien nahm diese nämlich mit viel Begeisterung ihre neuen Aufgaben an. Oft schon hatte Lathgertha sehen müssen, dass von ihr gestellte Pflichten nur widerwillig oder halbherzig erfüllt wurden. Manch eine Spindel hatte sie an ihre Spinnerinnen zurückgeben müssen, weil der Faden zu dick oder zu unregelmäßig für die Webarbeiten gewesen war. Runa aber verstand nicht nur ihr Handwerk, sie ging auch schnell und ausdauernd zu Werke. Hätte Jorunn ihr nicht klar angewiesen, dass sie nicht mehr als vier Spindeln am Tag füllen durfte, um die Heilung ihrer Wunden nicht zu gefährden, da war Lathgertha sich sicher, hätte sie noch mehr Webgarn von der jungen Frau erhalten. Aber auch so war sie sehr zufrieden mit deren Leistung und belohnte sie dafür mit Freundlichkeit. Dass Rúna erst seit fünf Tagen in der Siedlung lebte, hatte sie fast schon vergessen. Man konnte sich schell an die junge, freundlich-stille Frau gewöhnen.
Entsprechend überrascht war Lathgertha, als am Nachmittag dieses fünften Tages ein Junge am Tor des Hauses klopfte, das Ragnar und sie mit ihrem Sohn Björn bewohnten. Hierher kamen sonst nur die Freunde und diese traten ohne Vorankündigung ein. Bittsteller und Boten trafen den Jarl im offiziellen Versammlungshaus der Siedlung, der Schildhalle(3). Dass Ejnar nun als Fürsprecher an ihrer privaten Tür klopfte, war so ungewöhnlich, dass sie neugierig die Ohren spitzte.
Als sie hörte, wer da um ein offizielles Gespräch mit ihrem Gefährten bat, schob sie das Schiffchen ihres Webstuhls zwischen die Kettfäden und erhob sich, um den unerwarteten Gast mit einem Horn Met zu begrüßen.
Auch Ragnar verließ seinen Platz, an dem er einen Schild ausgebessert hatte. Der Jarl zog sich die Kyrtel übers Hemd und band sich den Gürtel um. Dass sein Freund ihn um eine derart förmliche Zusammenkunft bat, irritierte auch ihn. Doch Ragnar wäre nicht Ragnar gewesen, hätte er sich auch nur das Geringste von seiner Verwirrung anmerken lassen. Gemessenen Schrittes ging er zum Eingang und hieß seinen Steuermann eintreten. Dieser blinzelte ein wenig, um seine Augen an die dunklere Umgebung zu gewöhnen, dann sah er sich gründlich in dem offenen Raum um. Lathgertha meinte, Enttäuschung in seinem Blick zu erkennen, als er ganz offensichtlich nicht fand, wonach er gesucht zu haben schien.
Thorstein aber versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er gehofft hatte, schon jetzt Rúna zu sehen. Für seinen Ritt nach Straumfjorður hatte er ein Gewand gewählt, die seinem ehrenwerten Stand im Gefolge des Jarls angemessener war als seine bäuerliche Kleidung. Die Füße steckten in festen Stiefeln ohne Löcher und über dem dunklen Hemd nebst einer ebensolchen Hose trug er ein Obergewand aus weichem, hellem Leder. Ein Dolch steckte im Gürtel und an Thorsteins Seite hing wie selbstverständlich sein Schwert in einer festen metallbeschlagenen Scheide. Doch der Steuermann hatte sich nicht aus kriegerischen Gründen gerüstet, sondern um seinem Jarl damit die Ehre zu geben. Ragnar verstand die Anerkennung, die aus Thorsteins Erscheinung sprach. Was immer den Freund heute zu ihm führte, es musste dem Mann wahrlich wichtig sein.
Freundlich begrüßten sich die beiden Krieger und wurden von der Gefährtin des Jarls zu einem ersten Schluck Met gebeten. Dann nahmen die Männer an Ragnars Tisch Platz und Thorstein zog ein kleines, fest verschnürtes Bündel aus seinem Gürtel.
"Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, Ragnar", kam der Steuermann sofort auf sein Anliegen zu sprechen. "In den letzten Tagen fühlte ich mich, als sei ich bereits im Reich von Hel(4) ", gab er zu. "Und der Gedanke an Niflheim(5) und Yggdrasil wäre im Vergleich zu dieser Leere in meinem Kopf noch tröstlich gewesen." Thorstein schluckte schwer und schob das kleine Päckchen vor sich auf dem Tisch unentschlossen hin und her.
Lathgertha setzte sich still zu den beiden Männern und rückte dem Gast das Trinkhorn einladend ein wenig näher. Dieser sah auf und lächelte zögernd. "Danke Gertha, aber ich habe in den vergangenen Tagen genug für einen ganzen Mond getrunken. Nimm es mir nicht übel, aber mir wird jetzt noch schlecht bei dem Gedanken an ein Bier." Ernst geworden, starrte er dann erneut auf seine Hände. "Es ist schon ziemlich schwächlich, wie sehr sie mir fehlt", murmelte er leise. "Aber ich muss einfach wieder und wieder an Rúna denken!"
Der Jarl betrachtete seinen Freund nachdenklich. Als dieser sein zurückliegendes Saufgelage gestanden hatte, war ihm schnell klar geworden, dass sein Steuermann wegen dem Mädchen getrunken haben musste. Doch wieso war er dann so abweisend zu ihr gewesen, als sie den Moorseehof verlassen hatte? Schon wollte der Jarl nachfragen und sich Gewissheit verschaffen, doch Thorstein kam ihm zuvor. "Ich dachte, es wäre besser, sie einfach gehen zu lassen. Bei einem unbeherrschten Schläger wie mir hätte sie sonst immer in Angst gelebt. Das habe ich schon gesehen, als sie nach dem Ausbrennen ihrer Wunden wieder zu sich kam. Da wollte sie nur noch weg von mir."
Thorstein hatte seine Rede laut und kraftvoll begonnen, war aber zum Ende hin immer leiser geworden. Nun sprach er fast flüsternd und Ragnar musste sich anstrengen, den Freund zu verstehen. "Ich dachte mir, dass es ihr bei Jorunn und dir besser gehen würde. Du würdest ihr sicher nicht grundlos weh tun!" Er sah auf und Ragnar erschrak bei dem wehmütigen Blick des Kriegers. Thorstein schien Rúna wirklich nachzutrauern. "Doch dann wurde mir klar, dass wir ja schon bald in den Krieg ziehen werden und wer weiß, was danach sein wird?"
Mit den Fingerknöcheln rieb der Steuermann über die hölzerne Tischplatte, konzentriert der Bewegung seiner Hand folgend. Ansehen konnte er den Freund nicht bei dem, was er nun zu sagen hatte.
"Jedenfalls möchte ich, dass Rúna nicht als rechtlose Sklavin hier zurückbleibt, wenn wir lossegeln. Sie soll nicht endlos zu niederen Arbeiten gezwungen sein und auch nicht dazu, sich zu jedem zu legen, dem ihre Brüste oder ihr Hintern gefallen." Thorstein atmete erleichtert aus und sah auf. Er hatte es gesagt! Er hatte vor Ragnar sein Herz ausgeschüttet, etwas, wovon er nie gedacht hatte, dass das einmal nötig sein könne. Nun mochte der Freund ihn auslachen oder verspotten. Es war egal, so lange er nur seinen Wünschen nachkam.
Ragnar lachte leise auf. "Sie gefällt dir mehr, als du zugeben willst, nicht wahr?" Grinsend nahm der Jarl einen tiefen Schluck aus dem Methorn und wischte sich dann den Bart. "Was also kann ich heute für dich tun, Thorstein? Ich habe Rúna doch schon für fünf Jahre auf deinen Hof verpflichtet und sobald sie wieder genesen ist, kannst du sie gern zurückhaben. Hast du etwa geglaubt, ich stehe nicht zu diesem meinem Wort?" Die letzte Frage hatte Ragnar lauter und fordernder gestellt. Konnte es wirklich sein, dass der Freund an seiner Ehre zweifelte?
Doch Thorstein hatte etwas ganz anderes im Sinn. Er kannte Ragnar und es gab für ihn keinen Grund, dessen Versprechen zu misstrauen. "Darum geht es doch gar nicht, Ragnar!", murmelte er leise. "Es geht nicht darum, dass ich sie wiederhaben will, … dass du sie zurückschicken sollst." Dem Steuermann fehlten die Worte für das Kommende. Er wusste, wenn Ragnar seinem Wunsch nachkam, mochte es gut sein, dass er Rúna trotzdem für immer verlor. Doch er wollte sie auch nicht auf die Weise besitzen, wie ein Herr seine Sklavin besaß. Das hatte sie nicht verdient, nicht nach allem, was er ihr angetan hatte.
Also fasste er sich ein Herz und wickelte entschlossen das kleine Bündel vor sich auf. Unter der äußeren ledernen Hülle verbarg sich eine weitere Schicht Leinen und nachdem auch dieses aufgefaltet auf der Tischplatte lag, sahen Ragnar und Lathgertha ihn vor sich - Thorsteins wertvollsten Schatz, seinen Sonnenstein(6). Der Steuermann hatte den Kristall vor vielen Jahren von einem anderen Seefahrer geschenkt bekommen den er mitsamt dessen Mannschaft bei einem Sturm vor Irland gerettet hatte.
Anders als mit allen Sonnenbrettern konnte Thorstein mit diesem Stein auch den Stand der Sonne ermitteln und die Fahrtrichtung bestimmen, wenn der Himmel bedeckt oder gar wolkenverhangen war. Der Sonnenstein war ein wesentlicher Bestandteil seiner Ausrüstung, wenn sie in See stachen und schon oft hatte Ragnar ihm im Scherz gesagt, dass er viel dafür geben würde, auch einen solchen Schatz zu besitzen.
Wenn der Jarl allerdings ehrlich war - und so genau kannte sich Ragnar dann doch - wusste er, dass zu einem guten Steuermann weit mehr gehörte als der Besitz eines Sonnensteins, mochte der Kristall auch noch so wertvoll sein. Das, was Thorstein viel wertvoller als Lenker der Ragnarsúð machte, war dessen großartige Beobachtungsgabe der Strömungen, der Winde, der Zugrouten der Vögel. Ja, Thorstein kannte sogar die Wege der Wale, erahnte Untiefen, noch bevor auch nur eine Welle in Sicht kam und hatte ein Erinnerungsvermögen an vergangene Fahrten, das seinesgleichen suchte.
Nun aber saß der von Ragnar hoch geschätzte Freund vor seinem Jarl und fuhr gedankenverloren den scharfen Rand des Sonnensteins nach. "Du hast mir oft gesagt, Ragnar, dass du diesen Stein gern besitzen möchtest", begann er seine Gedanken zu offenbaren. "Bis gestern habe ich nie ernsthaft darüber nachgedacht, ihn wegzugeben." Thorstein sah seinem Freund nun offen in die Augen. "Doch der Mann, von dem ich ihn habe, hat ihn mir für den Erhalt seines Lebens gegeben. Und ich glaube, so viel ist er wert." Der Steuermann schwieg einen Moment lang, um seinen folgenden Worten mehr Gewicht zu geben. Dann räusperte er sich und straffte die Schultern. "Ich möchte dir diesen Stein gern anbieten - im Tausch gegen ein Leben." Noch einmal zögerte er kurz. "Rúnas Leben."
Ragnar schwieg lange zu diesem unglaublichen Angebot und keiner am Tisch wagte es, die Gedanken des Jarl auch nur mit einem lauten Atmen zu unterbrechen. Für Thorstein stand einfach zu viel auf dem Spiel, als dass er seine Ungeduld hätte zeigen dürfen und Lathgertha war einfach nur sprachlos. Sie hatte Thorsteins Verhalten auf dem Moorseehof grundlegend falsch gedeutet. Das, was sie gesehen hatte, war keine Abneigung gewesen, sondern einfach nur die Unfähigkeit eines liebenden Mannes, Abschied zu nehmen. Die Schildmaid verbarg ihre Rührung hinter einer unbeteiligten Miene und hoffte gleichzeitig, dass Ragnar eine gute Entscheidung treffen würde. Wenn er Thorstein seine Wunschgefährtin verweigerte …
Doch der Jarl ließ sich nicht zu einem Entschluss drängen. "Du willst mir Rúna also abkaufen", forderte er Thorstein heraus, "weil du vielleicht glaubst, dass sie bei mir doch nicht so gut aufgehoben ist, wie du es mich glauben machen wolltest?" Mit zusammengekniffenen Augen musterte Ragnar scheinbar kritisch sein Gegenüber.
Der Freund aber ließ sich nicht von ihm provozieren. Nichts konnte die Ernsthaftigkeit des Steuermannes durchbrechen, selbst der schlechte Scherz des Jarls nicht. Bedachtsam schob er den Sonnenstein ein wenig näher zu Ragnar. "Ich will Rúna nicht von dir abkaufen", stellte er richtig. "Ich will sie freikaufen!"
Thorstein dachte einen Augenblick lang nach. "Doch ich kann es auch so sagen", er erhob sich feierlich, " Ragnar Loðbrók! Ich bitte dich als meinen Jarl und meinen Freund: Schenke der Sklavin Rúna die Freiheit, mach sie zu einer Freien Frau. Als Dank dafür biete ich dir, den Sonnenstein als Geschenk von mir anzunehmen."
Fußnoten:
(1) Gundelrebe, auch Gundermann: in Europa weit verbreitete Heilpflanze aus der Volsmedizin, Die Inhaltsstoffe sind Gerbstoffe, Vitamin C, Kalium, einige organische Säuren sowie Saponin, ätherisches Öl und der bislang unerforschte Bitterstoff Glechomin. Die Volksmedizin nutzte das Kraut bei Katarrhen, Blasenleiden, Magenverstimmungen, Appetitlosigkeit, Galle-, Leber- und Nierenbeschwerden sowie zum Spülen bei Mund- und Rachenentzündungen. Kräuterpfarrer Kneipp verordnete Gundelrebentee bei Brust- und Magenverschleimung. Eine längere Einnahme sollte allerdings vermieden werden. (Quelle: http://www.botanikus.de/Heilpflanzen/Gundelrebe/gundelrebe.html)
(2) Cetraria islandica: als therapeutisch wirksame Bestandteile enthält Isländisch Moos Bitterstoffe, Flechtensäuren, Iod, Schleimstoffe (Lichenin) und die Vitamine A, B1 und B12.
Es wirkt reizlindernd und stärkend auf die Schleimhäute im Mund und Rachen, auch bei Entzündungen der Magen- und Darmschleimhaut wird es verwendet. Weiter wirkt es gegen Brechreiz, appetitsteigernd, belebend und kräftigend (tonisierend). Den Flechtensäuren wird leicht antibakterielle Wirkung nachgesagt. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Cetraria_islandica)
(3) Hier hatte ich Heorod im Sinn, die Halle König Hroðgars, deren Errichtung im Beowulf-Epos die Auseinandersetzung mit dem Monster Grendel auslöst. Das war einfach zu schön, um es ungenutzt zu lassen. Man kann sich auch kaum vorstellen, dass irgendeine Siedlung ohne große "Partylocation" auskam, oder?
(4) Hel: die Totengöttin, die im gleichnamigen Reich nach Ansicht der Nordmänner über die Toten herrschte. Dem gegenüber stand Walhalla, dass ausschließlich den Einherjern (toten, ruhmreichen Kriegern) vorbehalten war, die sich dort in der Kriegskunst übten und auf die letzte Schlacht - Ragnarök - vorbereiteten.
(5) Reich der Dunkelheit: Niflheim (von altnordisch: Niflheimr, Ort des Nebels, Nebelheim). Welt des Eises, des Nebels und der ewigen Kälte. An einem Ort befand sich die Weltenesche Yggdrasil. Über einen der reißenden Bäche dieser unwirklichen Welt führte eine mit Gold gepflasterte Brücke. Über diese kam man in das Totenreich Hel. (Quelle: http://wikinger.de.tl/Mythologie.htm)
(6) Zu den Sonnensteinen gibt es ein bisschen mehr zu sagen. Deshalb habe ich für euch einen kleinen Ausflug in die Wikingernavigation bei FB erstellt. Schaut doch dort mal vorbei, wenn ihr mehr über die historischen Hintergründe erfahren möchtet.