Er bekam einen furchtbaren Schreck, als einer seiner Butler ihm die Decke wegzog. Warum um alles in der Welt musste er heute schon so früh aufstehen?
Verschlafen rieb er sich die Augen. Teo ließ ihn am Wochenende sonst immer ausschlafen und heute war auch noch sein 18. Geburtstag! Langsam setzte er sich in seinem Bett auf, Dimes, einer der Butler, suchte bereits seine Sachen heraus. Sie ließen ihm nicht einmal Zeit richtig wach zu werden.
Er gähnte noch einmal ausgiebig und wusch sich dann sein Gesicht. Er war überrascht, dass er nicht schon früher wach geworden war.
Sein Zimmer war voller Leute: Dimes, Guji, Freva und Lilly, seine Zimmermädchen und dann noch ein Mädchen, dass er nicht kannte. Er fluchte leise, als er seine Hände in das Wasser tauchte. Das Wasser war eiskalt! Ärgerlich deutete er auf die Schale und das fremde Mädchen kam sofort angerannt. Sie tippte mit einem Finger hinein und erstarrte vor Schreck. Ihr schossen Tränen in die Augen und sie fing fürchterlich an zu zittern. Vielleicht war sie eines der Mädchen aus dem Armenviertel.
Teo machte regelmäßig seine Runden, und hin und wieder sammelte er dabei eine arme Seele auf, dessen Eltern nicht mehr für Sie sorgen konnten.
Akito seufzte, durch diesen Fehler war er nun zumindest hellwach, es würde keinen Sinn machen, sie zu bestrafen. Die kleine traute sich ja nicht einmal ihm in die Augen zu sehen, hatte er wirklich einen so grausamen Ruf?
Gut, in jedem anderen Teil der königlichen Familie wäre sie dafür mindestens entlassen worden. Als er anfing zu sprechen, kniete sie sich augenblicklich vor ihm nieder. Er merkte, wie er rot wurde, solche Sachen war er nicht gewöhnt. „Das wird hoffentlich nicht noch einmal vorkommen.“
Damit war die Sache für ihn erledigt, was für eine Strafe sie allerdings von Teo bekommen würde, lag nicht in seiner Hand. Er war immer darauf bedacht, dass alles perfekt nach Plan lief. Dimes und Guji halfen ihm sich anzukleiden und reichten ihm dann einen Brief. Mit einem Mal lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Der Brief trug das Siegel seines Vaters.
In der Regel bedeutete das nichts Gutes. In seinem letzten Brief hatte er ihm angekündigt, dass er erwarte, dass Akito in einem bevorstehenden Krieg an vorderster Front mitkämpfen würde. Dank seines Bruders, Noromis, war dies zum Glück aber mit friedlichen Verhandlungen verhindert worden. Akito atmete einmal tief durch und öffnete mit einem Ruck den Brief:
„Akito Hephes Sarivef,
dein Bruder, der Kronprinz von Flakrise hat sich dazu entschlossen, sich mit der Prinzessin Rimona Gastella Jovula zu verloben. Da ihre Eltern sich zunächst uneinig zeigten, habe ich ein Treffen der Familien veranlasst, um dieses durchaus freudige Ereignis zu feiern. Ich erwarte, dass du dich von deiner besten Seite präsentierst und mir nicht noch mehr Schande bereitest. Morgen in aller früh, wird dich eine meiner Kutschen abholen und herbringen. Selbstverständlich erwarte ich, dass du dein offizielles Gewand trägst.
Der große und gnädige König von Flakrise“
Gnädig, von wegen, dieser König dachte an niemanden als an sich selbst. Er hätte ihm wenigstens zum Geburtstag gratulieren können, aber was erwartet man schon von einem Mann, der sieben Kinder und vier Frauen hatte. Außerdem hatte er ihn noch kein einziges Mal als seinen Sohn bezeichnet.
Akito wusste, dass sein Vater ihn verabscheute und ihm Schuld am Tod seiner Mutter gab.
Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt, an einem hohen Fieber gestorben, daher kannte er sie nur aus Teos Erzählungen. Aber diese konnte er sich immer wieder anhören.
Sie soll die Schönste und reinste Seele gehabt haben, die dieses Königreich jemals gesehen hatte. Sein Vater soll sie angeblich so sehr geliebt haben, wie keine andere, was er sich aber nur schwer vorstellen konnte. Dieser Mann liebte nichts mehr als sein Gold und seine Macht. Und selbst wenn, waren von ihr jetzt nur noch Staub, Knochen und ein einzelnes Portrait übrig. Und natürlich er, der Muttermörder, wie man ihn in seiner Familie immer nannte. Manchmal betrachtete er das Portrait seiner Mutter und fragte sich, ob es wirklich seine Schuld gewesen war. Ob sie noch hier wäre, wenn er nicht gewesen wäre?
Und wenn er sich dann im Spiegel betrachtete, vielen ihm immer wieder Kleinigkeiten auf, die er mit ihr gemein hatte. So war sein eines Auge etwas heller, als das andere und auch sein Gesicht war so schmal, wie das ihre.
Leider hatten seine Haare das verhasste schwarz seines Vaters übernommen und nicht das strahlende goldblond seiner Mutter. Einige Zeit betrachtete er sich im Spiegel und überlegte, deshalb hatte Teo ihn wecken lassen? Um ihm einen dämlichen Brief, seines dämlichen Vaters zu geben?
Genervt stapfte er aus seinem Zimmer, mit etwas Glück würde er Teo in seinem Arbeitszimmer antreffen. Unterwegs zerknüllte er den Brief und warf ihn aus einem der offenstehenden Fenster.
„Das ist aber kein angemessenes Verhalten für einen Prinzen, finden Sie nicht?“
Erschrocken drehte Akito sich herum. In einem der Gänge stand Teo und grinste ihn fröhlich an.
„Alles Gute zum Geburtstag, eure Hoheit.“
Akito murmelte nur ein unverständliches „Danke“. Wieder bemerkte er, wie er rot wurde und drehte sich schnell zu Fenster und sah hinaus. Er wusste, dass es nicht unbedingt die Worte waren, die ihn störten, aber Teo sprach mit einem Unterton in der Stimme, die seinen Worten eine ungewohnte Sanftheit verliehen.
An diese Sanftheit konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Akito kannte Teo schon sein ganzes Leben lang, er hatte ihn praktisch großgezogen und war fast schon wie ein Vater für ihn.
Nach dem Tod seiner Mutter hatte er den gesamten Haushalt geregelt und alle anfallenden Geschäfte erledigt. Nur ihm war es zu verdanken, dass er jetzt über ein angemessenes Vermögen verfügte und nicht auf der Straße betteln musste.
Am Anfang hatte er Teo immer neugierig gefragt, warum er so weit ging um ihm zu helfen, aber er hatte nie eine klare Antwort bekommen. Teo hatte nur gelächelt und dann vom Thema abgelenkt.
Mit Sicherheit hatte es etwas mit seiner Mutter zu tun, Akito wusste, dass Teo ihm nicht alles erzählt hatte, dass er über sie wusste. Aber Akito hatte schon lange aufgegeben nachzufragen.
Mit einem Schlag viel ihm der Brief wieder ein. Trotzig verschränkte er die Arme und sah wieder zu Teo. Dieser legte neugierig den Kopf schräg.
„Hast du mich allen Ernstes so früh am Morgen wecken lassen, nur weil ich einen Brief von meinem Vater bekommen habe?“
Teo schüttelte den Kopf und lächelte leicht. „Ich habe von der Verlobung eures Bruders gehört und dachte, es sein nur angemessen, dass ihr eure Tanzfertigkeiten ein wenig auffrischt.“
Akito seufzte müde. „Du weißt genau, dass ich keinerlei Interesse daran habe, mit irgendeinem Mädchen zu tanzen. Und selbst wenn, wird auf diesem Fest sicherlich kein Mädchen zu finden sein, die sich dazu herablassen würde, mit mir zu tanzen.“
Teo sah ihn verständnisvoll an. „Ich bin mir dessen bewusst. Aber sie sollten auf alles gefasst sein. Ihr Vater wird nichts unversucht lassen, sie zu blamieren. Da könnte es gut sein, dass er sie dadurch versucht bloßzustellen.“
Ärgerlich knirschte Akito mit den Zähnen, da hatte Teo nicht ganz unrecht. Anstatt noch länger zu diskutieren, würde er einfach ein-, zwei Tänze tanzen und sich danach entschuldigen. Dann könnte sich niemand über ihn lustig machen. Er seufzte und rieb sich gestresst die Stirn. Teo sah ihn beunruhigt an, aber Akito winkte ab. Sein Blick wurde traurig, er wusste ganz genau, dass ihn niemand aus seiner Familie als den 2. Sohn akzeptierte. Nur sein großer Bruder war anders.
Er hatte ihn immer unterstützt und auch vor den Schikanen der anderen beschützt. Zumindest, so gut er konnte. Akito war sich sicher, dass er einen deutlich besseren König abgeben würde als ihr Vater. Er kümmerte sich um seine Untertanen und sah sie nicht nur als ein Mittel zum Zweck. Noromis war ein wunderbarer Mensch und ein noch besserer Bruder. Teo klatschte auf einmal in die Hände und riss ihn damit aus seinen Gedanken.
„Nun, wollen wir dann?“
Akito seufzte, ihm blieb keine andere Wahl. Morgen würde er genauestens beobachtet werden und er durfte sich einfach keine Fehltritte leisten. Bald würde sein Bruder eine Familie haben, er würde ihn nicht mehr beschützen können. Langsam machten sie sich auf den Weg in den Speisesaal. Dort erwartete ihn schon ein riesiges Frühstück. Der ganze Tisch war voller Speisen. Akito staunte nicht schlecht.
„Das ist doch viel zu viel für mich!“
Teo lächelte zufrieden. „Nun, es ist immerhin ihr 18. Geburtstag, ein ganz Besonderer Tag, wenn sie mich fragen.“
Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Was machen wir mit den Resten?“
Er sah Teo verzweifelt an. Dieser Lächelte immer noch. „Nun, wir könnten das Essen in den ärmeren Viertel austeilen, wenn es ihnen recht ist.“
Erleichtert atmete er aus. Es tat ihm in der Seele weh, so viel gutes Essen zu verschwenden, vor allem, da er noch nie einen großen Appetit gehabt hatte. Diesen Mal hatte sich Damus wirklich selbst übertroffen. „Ja, das klingt nach einer guten Idee. Aber lasst die Leute nicht wissen, dass es von mir ist. Nachher lehnen sie es deswegen noch ab.“
Teo nickte einmal zufrieden und grinste weiter. Warum wohl? Hatte er ihn angelogen, als er ihm gesagt hatte, dass er beim Volk als Teufel bekannt war? Nun gut, der Spitzname passte alleine wegen seinem Namen, aber er befürchtete, dass dies das Einzige sein könnte, dass ihn vor einer Revolte schützte. Wenn ihn die Angst seines Volkes schützte, dann musste er das auch nutzen. Zwar hasste er seinen Vater dafür, dass er ihm diesen Namen gegeben hatte, aber wohl oder übel musste er gestehen, dass es ihm entgegenkam.
Genüsslich begann er zu Essen, die Früchte und auch das frisch gebackene Brot waren exquisit. Selbst die Eier schmeckten besser als sonst, vielleicht bildete er sich dies auch nur ein. Seine Laune hellte sich auf und für einen Moment vergaß er all die düsteren Gedanken. Auch seine Angestellten schienen dies zu bemerken. Hin und wieder konnte er ein leichtes Lächeln erkennen und generell schienen alle etwas entspannter zu sein. Bestimmt hatten sie bereits von dem Vorfall heute Morgen gehört.
Akito war immer wieder erstaunt, wie schnell sich Nachrichten unter dem Personal verbreiteten. Nachdem er fertig war, streckte er sich genüsslich und danach machten er und Teo sich auf den Weg in das Musikzimmer.
Dort wartete Mike bereits auf sie. Eigentlich war Mike ursprünglich als einer der Gärtner eingestellt worden und Teo hatte nur durch Zufall herausgefunden, dass er ein hervorragender Pianist war. Daher durfte er von da an jede seiner Tanzstunden am Piano begleiten. Er war nun bereits seit 4 Jahren hier beschäftigt. Einmal hatte Akito sich getraut ihn anzusprechen, allerdings hatte Mike sich so furchtbar erschrocken, dass er von einer Leiter gefallen war und sich ein Bein gebrochen hatte. Danach hatte Akito seine Neugier hinuntergeschluckt und sich von allem Personal ferngehalten.
Mike verbeugte sich einmal knapp vor Akito und machte sich dann auf Teos wink hin bereit. Verwundert sah sich Akito um.
„Wo ist meine Tanzpartnerin?“
„Da ich ihnen nicht erlauben kann, Hand an eine unserer Angestellten zu legen, habe ich mich dazu bereit erklärt.“
Ungläubig starrte er ihn an, das war ein Witz, oder? Teo war mindestens einen Kopf größer als er und auch ein gutes Stück breiter, dazu war er einfach alt. Unsicher sah er sich im Raum um.
„Gibt es wirklich keine andere Lösung? Sonst habe ich doch auch immer mit einem Mädchen getanzt.“ Teo sah ihm fest in die Augen und schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein, die einzigen weiblichen Personen in diesem Anwesen, gehören zum Personal.“
Verwirrt schaute Akito ihn an. „Aber wer war das dann?“
Teo grinste fast schon schelmisch. „Nun, da ich mir sicher war, dass ein 14- jähriger niemals mit mir tanzen würde, habe ich Julio dazu überredet, sich als ein Mädchen zu kleiden.“
Schockiert starrte er Teo an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“
Teo sah ihn nur schuldbewusst an. Verzweifelt knirschte Akito mit den Zähnen, dann hatte es wirklich keinen Sinn, gegen Teo anzureden. Hoffentlich würde das niemand sehen.
„Wehe einer von euch sagt davon auch nur ein Wort zu irgendjemanden!“
Mike zuckte erschrocken zusammen, zwang sich dann aber zu einem Lächeln und nickte stumm. Teo wirkte zufrieden und erläuterte ihm kurz und knapp, in welcher Reihenfolge, sie welchen Tanz üben würden.
Am Anfang konnte er sich überhaupt nicht konzentrieren, er kam sich vor, wie ein totaler Vollidiot. Nachdem er allerdings immer wieder von Teo zur Konzentration genötigt wurde, viel es ihm leichter. Zum Glück erinnerten sich seine Füße besser an die Tanzschritte als sein Kopf. Dadurch blieb ihm der Nachmittag vom Üben erspart, zumindest dachte er das. Als er sich jedoch in den Garten zurückziehen wollte, hielt Teo ihn auf.
„Akito! Wo gehen Sie hin?“ Verwirrt sah er ihn an. „Ich wollte mich in den Pavillon setzen wieso? Ich dachte wir wären fertig?“
Teo schüttelte energisch den Kopf. „Nein, wie gesagt, Sie sollten auf alles gefasst sein. Als nächstes sollten Sie ihre Kampffähigkeiten auffrischen.“
Genervt seufzte er. Er hasste Kämpfe, ob nun mit Bogen oder Schwert, sie gingen nie gut aus. Wiederwillig folgte er Teo zur Waffenkammer.
Pamil, der Hauptmann der Wachen und auch sein Schwertkampflehrer, wartete bereits auf sie. „Na ihr habt euch aber Zeit gelassen, eure Hoheit.“
Dazu verneigte er sich spöttisch. Akito mochte diesen Mann, er hielt sich nicht daran auf, dass er königliches Blut hatte und behandelte ihn so, wie jeden anderen Rekruten auch. Pamil war früher ein Bandit gewesen, zumindest hatte Teo ihm das so erzählt. Als er und seine Bande aus dem Königreich von einem seiner kleinen Brüder fliehen mussten, begannen sie eines seiner Dörfer zu plündern. Teo ritt sofort mit einigen Männern los, um dem ein Ende zu bereiten. Er schaffte es schließlich, sie eines Besseren zu belehren und dazu zu überreden, für ihn zu arbeiten.
Wie genau, blieb ihm allerdings bis heute ein Rätsel, weder Pamil noch Teo gaben ihm darauf eine Antwort. Seitdem machten er und seine Männer einen guten Teil seiner Wachen aus und Akito war immer wieder erstaunt, wie loyal sie ihm gegenüber waren. Sie sorgten schon seit er klein war, für seine Sicherheit. Energiegeladen schmiss der alte Mann ihm ein Schwert zu.
„Vorsicht! Was wenn ich mich verletze?!“
„Wenn das passiert, war es verschwendete Zeit dich zu unterrichten.“
Dabei grinste er ihn schräg an und zwinkerte ihm kaum merklich zu. Pamil war auch nicht mehr der Jüngste und er war von oben bis unten voller Narben. Bisher hatte er Akito immer abgewimmelt, wenn er ihn nach seiner Vergangenheit gefragt hatte. Aber jetzt würde er nach einer neuen Ausrede suchen müssen, nun war er endlich Volljährig.
Zuerst gingen sie noch einmal alle Grundformen des Kampfes durch, danach kämpften sie noch drei Runden. Allerdings konnte er nicht ein einziges Mal gewinnen und gegen Ende schaffte er es nicht einmal mehr das Schwert anzuheben.
Akito merkte, wie ihn jetzt schon alles schmerzte und gleich würde er noch Bogenschießen müssen. Er bezweifelte, dass er noch die Kraft dazu hatte, den Bogen auch nur annähernd zu spannen.
„Da haben wir das Training aber ordentlich schleifen lassen, was?“
Pamil sah ihn streng an. „Wenn du jetzt angegriffen werden würdest, könntest du dich keine halbe Stunde lang verteidigen! Von jetzt an komme ich jeden zweiten Tag her und Prügel dich notfalls aus deinem Flausche- Bettchen!“
Beschämt schaute Akito zu Boden, wo er recht hat, hat er recht. Er hatte sein Training wirklich komplett schleifen lassen, obwohl Teo ihn immer wieder ermahnt hatte.
Wie befürchtet war das Bogenschießen die reinste Katastrophe. Pamil schrie ihm die ganze Zeit die Ohren voll, sodass ihm selbst danach noch eine halbe Stunde die Ohren klingelten. Teo stand die ganze Zeit daneben und sah sich das Spektakel schadenfroh an.
Wie oft hatte er ihn dazu ermahnt zu trainieren? Er hatte aufgehört zu zählen.
Zu seiner Erleichterung dauerte es nicht mehr lange und ihm wurde sein Mittagessen aufgetischt. Pamil gab für heute auf und machte sich auf den Weg um die Wehrgänge zu kontrollieren.
Damus hatte ihm einen wunderbar leckeren Braten gezaubert, aber auch diesen Mal wurde ihm wieder schmerzlich bewusst, dass es viel zu viel für ihn alleine war. Wieder würden die Reste zum Armenviertel gebracht werden.
Gegen Abend hatte er seine Pflicht dann endlich erfüllt und durfte sich zurückziehen. Viel Zeit blieb ihm allerdings nicht mehr. Das Mittagessen hatte sich verspätet und nun blieben ihm nicht einmal mehr 2 Stunden bis zum Abendessen. Aber deshalb genoss er jede Minute umso mehr, die er im Rosengarten seiner Mutter verbringen konnte.
Mittlerweile kümmerten sich zahlreiche Gärtner um das Grundstück, aber früher, so hatte Teo ihm erzählt, hatte seine Mutter sich ganz alleine und mit großer Leidenschaft um die Rosen gekümmert. Jetzt saß er hier so oft er konnte und bildete sich ein, sie wäre noch immer da. Hier in diesem Garten, genauso frisch nach Rosen duftend und mit einem so strahlenden Lächeln, dass es selbst das Herz seines Vaters hatte erweichen können. Die Vorstellung beruhigte ihn immer wieder, wäre sie nur noch hier, dann hätte sein Vater ihn bestimmt akzeptiert und sein Leben wäre anders verlaufen. Die frische Luft war angenehm und linderte sogar seine Schmerzen ein wenig.
Hoffentlich würde er morgen nicht wie ein geprügelter Hund laufen, dass würde sicherlich keinen guten Eindruck erwecken. So saß er noch einige Zeit da und konnte sich nicht an den Rosen sattsehen. Eine Magd riss ihn schließlich aus seinen Gedanken.
„Verzeiht die Störung Herr, aber euer Mahl steht bereit.“
Er nickte und entließ sie damit. Eigentlich hatte er noch gar keinen Hunger und wenn er an den voll gedeckten Tisch dachte, der ihn erwartete, wurde ihm ganz flau im Magen. Er fand sein Leben an sich eigentlich wunderbar, er hatte so viel Essen, wie er brauchte, ein bequemes Bett und lauter Angestellte, die ihm alle anfallende Arbeit abnahmen. Aber manchmal wünschte er sich, er wäre nicht hier, nicht immer umgeben von Leuten. Nicht einmal im Rosengarten war er alleine. Er wusste zwar, dass die Gärtner darauf bedacht waren, aus seinem Blickfeld zu bleiben und dass seine Leibwächter sich immer im Hintergrund hielten. Aber er wusste, dass sie da waren. Und das alleine reichte, um ihm seine Freiheit zu nehmen.
Manchmal ging es sogar so weit, dass er die einfachen Leute beneidete. Sie mussten hart arbeiten, um sich ihre Existenz zu sichern. Mit einfachen Sorgen schlugen sie sich von Tag zu Tag herum. Aber sie konnten gehen, wohin auch immer sie wollten. Ihr eigenes Leben bestimmen.
Er allerdings konnte ohne Wache nicht einmal sein Haus verlassen, aus Angst seine Familie würde versuchen ihn umzubringen. Schleifend machte er sich auf den Weg zurück zum Speisesaal. Teo wartete schon ungeduldig auf ihn. Als er ihn endlich bemerkte, machte er sich natürlich sofort wieder Sorgen. Er wusste immer sofort, wenn etwas nicht mit ihm stimmte. Aber selbst Teo wusste nicht alles über ihn, er hatte ihm nie davon erzählt, dass er sich manchmal nichts mehr wünschte als ein einfaches Leben zu führen.
Ohne jegliche Energie und Appetit machte er sich daran, etwas von der Suppe zu essen, sie war köstlich, aber er konnte sich dennoch nicht dazu überreden, mehr als ein paar Löffel zu essen. Entmutigt und müde seufzte er. Rund herum spürte er besorgte Blicke und einige Angestellte tuschelten sogar. Dabei war es nichts Neues, dass er gegen Abend ein wenig nachdenklich wurde.
Diesen Abend fühlte er sich besonders melancholisch, was vielleicht auch daran lag, dass sein Geburtstag war. Oft schon hatte er miterlebt, wie seine Brüder und Schwestern an ihren Geburtstagen reichlich beschenkt wurden und alle zusammen riesige, pompöse Feste feierten.
Und jedes Jahr wurde ihm wieder schmerzlich bewusst, dass er alleine war. Selbst Teo konnte eine echte Familie nicht ersetzen.
Als er endlich fertig in seinem Bett lag, konnte er das erste Mal richtig durchatmen. Allerdings fühlte er sich unruhig. Er schickte die restlichen Angestellten fort, stellte sich an sein Fenster und betrachtete den Sternenhimmel. Nach einiger Zeit hörte er ein zaghaftes Klopfen an der Tür.
„Ja?“
Die Tür öffnete sich und Teo kam herein. Er sah ihn am Fenster stehen und seine Miene wurde wieder ein Stück düsterer.
„Geht es Ihnen wirklich gut?“
Er nickte und sah wieder aus dem Fenster, der Himmel war bedeckt von lauter, kleiner, funkelnder Sterne.
„Akito, ich möchte, dass du mir etwas versprichst.“
Akito war erstaunt, es musste wirklich wichtig sein, wenn er ihn so ansprach.
„Bitte, versprich mir, dass du, egal was in Zukunft auch geschehen magst, niemals vergisst, dass dies hier dein Zuhause ist. Wir sind immer für dich da und stehen hinter dir, egal was passiert. Auch, wenn sich die ganze Welt gegen dich wendet, werden wir an deiner Seite stehen.“
Er drehte sich langsam zu Teo um und lächelte traurig.
„Wie könnte ich das jemals vergessen. Danke.“
Teo sah ihn erleichtert an, aber er schien zu bemerken, dass irgendetwas nicht stimmte. Bevor er jedoch fragen konnte, unterbrach Akito ihn.
„Ich bin ziemlich erschöpft, wir können gerne morgen weiterreden.“
Damit drehte er sich wieder um und blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Einen Augenblick lang blieb Teo noch hinter ihm stehen und Akito konnte in der Spiegelung des Glases sehen, wie sein Blick auf ihm ruhte.
Als Akito sich aber nicht mehr rührte, gab er auf und verabschiedete sich für den Abend. Er wusste nicht, wie lange er noch dort stand, aber er konnte spüren, wie ihn diese endlose Weite zu Tränen rührte. Ob seine Mutter dort oben auf ihn wartete? Laut der kirchlichen Lehre ja, aber war sie dann auch einer dieser zahlreichen Sterne?
Er wischte sich die Tränen weg und legte sich wieder ins Bett, wenn er nicht aufpasste, würde er nicht mehr genügend schlaf bekommen.
Zum Glück dauerte es nicht lange, bis er in das Reich der Träume hinabglitt.
Am nächsten Morgen wurde er reichlich früh geweckt, da niemand sicher sein konnte, wann die Kutsche seines Vaters eintreffen würde. Den ganzen Morgen über hing eine bedrückende Stille über dem Haus und nicht einmal ein Bad in den Rosenblättern seiner Mutter konnte ihn entspannen.
Immer wieder betete er innerlich zu den Göttern, an die er nicht einmal glaubte, sie mögen ihn diesen Tag heil überstehen lassen.
Als ihn die Botschaft erreichte, die Kutsche sei angekommen, blieb sein Herz fast stehen. Von nun an würde er auf sich allein gestellt sein. Sein Vater hatte veranlasst, dass er Leibwächter bereitgestellt bekommen würde. Dadurch fühlte Akito sich nur beunruhigter. Er würde seinem Vater niemals trauen können, hatte aber auch nicht die Macht sich ihm zu wiedersetzen.
Teo und Pamil verabschiedeten ihn und blickten der Kutsche noch eine Weile besorgt nach. Akito war also nicht der einzige, der sich Sorgen machte.
So früh morgens waren die Straßen seiner Stadt noch wie leergefegt. Nur ab und zu erblickte er jemanden, die aber beim Anblick der Kutsche schnell den Kopf einzogen. Sein Vater hatte ihm nicht den Gefallen getan, ihm eine der neueren, bequemeren Kutschen zu schicken. Bei jeder kleinen Unebenheit wurde er schmerzlich an sein gestriges Training erinnert. Und er hatte auch das Gefühl, dass die Kutsche gefährlich hin und her schwankte. Wenn sein Vater ihn loswerden wollte, würde er es hoffentlich nicht mit einer kaputten Kutsche probieren, da gab es einfachere Wege.
Die Kutschfahrt dauerte lange und war schlichtweg einfach unerträglich. Als er die Hauptstadt endlich erreichte, war es schon fast Abend und ihm taten seine Knochen schlimmer weh, als gestern. Einer der Buttler seines Vaters erwarteten ihn schon.
„Ihre Hoheiten erwarten sie bereits. Bitte folgen sie mir.“
Wie befürchtet, hatte sein Vater absichtlich dafür gesorgt, dass er zu spät kam. Er wurde in einen großen Bankettsaal geführt. Allem Anschein nach, hatte sein Vater nicht übertrieben, als er Familienzusammenkunft gemeint hatte. Der Raum war voller Leute und am Ende des Raumes konnte er seinen Vater erspähen, wie er auf seinem Thron saß, zu Seiten der zukünftigen Schwiegereltern seines Bruders. Als er ihn erspähte, hatte er nicht mehr für Akito übrig, als ein abfälliges Lächeln. Demonstrativ verbeugte Akito sich in seine Richtung. Machte sich danach gleich auf die Suche nach seinem großen Bruder.
Hin und wieder sah er eines seiner anderen Geschwister, aber er konnte Noromis nirgends entdecken. Auf einmal kehrte Stille ein, sein Bruder und seine zukünftige Braut schienen eine Rede halten zu wollen.
Desinteressiert stellte er sich auf einen der Balkone. Die frische Luft tat ihm gut. Er hasste solche Zusammenkünfte und genoss die Stille daher umso mehr.
Gerade, als er anfing, sich ein wenig zu entspannen, kam einer seiner Brüder auf den Balkon.
„Na? Wen haben wir denn da?“
Die Arroganz und Abfälligkeit in seiner Stimme waren für Akito kaum zu ertragen. Havess, der dritt älteste Sohn des Königs, 17 Jahre alt und unglaublich unausstehlich.
So wie er ihn kannte, würde er nicht einmal auf eine Antwort warten. Seinen Arm hatte er um eine junge Frau gelegt, die Akito neugierig beäugte und in der anderen Hand hielt er ein Glas mit Wein.
Er wusste sofort, um welche Sorte Frau es sich bei ihr handelte und er verabscheute sie dafür.
Für ein wenig Schmuck und Einfluss ließ sie dieses Ekelpaket alles mit sich machen.
Einer der Gründe, warum Akito keinerlei Interesse daran hatte, in nächster Nähe zu heiraten.
Er streifte sie mit seinem Blick uns blickte dann wieder auf die Stadt.
Wie erwartet dauerte es nicht lange bis Havess fortfuhr.
„Weißt du meine Liebe? Mein großer Bruder hier, wird insgeheim auch als Muttermörder bezeichnet. Natürlich würde ihm nie jemand offen und ehrlich sagen, dass seine Mutter, die geliebte erste Frau des Königs nur wegen ihm gestorben ist. Wäre sie nicht mit ihm Schwanger gewesen, hätte sie das Fieber nicht getötet. Darum hat ihn unser herzensguter Vater auch Akito genannt, dass bedeutet nämlich kleiner Teufen. Damit soll er auch ja niemals vergessen, dass er schon als Mörder auf die Welt gekommen ist und sein Leben lang dafür zu büßen hat.“
Akito klammerte sich mit aller Macht ans das Geländer. `Beruhige dich´, sagte er sich, `dass ist schließlich nichts Neues. Wie oft musstest du dir das schon anhören? ´ Aber selbst, diese minimale Reaktion von ihm, schien Havess dazu zu ermutigen, weiter zu machen.
„Und weißt du was? Das ist nicht einmal das Schlimmste, mein kleines Täubchen. Ich habe Vögelchen zwitschern hören, dass unser lieber Kronprinz auf die Krone verzichten möchte. Damit wäre dann unser lieber Muttermörder hier der nächste König. Eine wirklich beunruhigende Vorstellung nicht? Einen Mörderkönig!“
Havess lachte abfällig. Akito bekam Gänsehaut, dass war gelogen! Sein Bruder wusste um seine Beziehung zu ihrem Vater, zu ihrer Familie, dass würde er ihm nicht antun. Niemals!
Beunruhigt sah er sich nach seinem Bruder um, mittlerweile war er mit seiner Rede fertig und bekam nun lauter Glückwünsche ausgesprochen.
Schnell rannte er an Havess vorbei, welcher nur hämisch grinste, als er seinen gehetzten Gesichtsausdruck sah. Verzweifelt kämpfte er sich durch die Menge, bekam aber nur die Zukünftige seines Bruders zu fassen. Sein Bruder war von lauter Beratern und anderen Leuten umgeben, so leicht würde Akito also nicht an ihn herankommen.
Er ergriff Rimona am Arm, als sie ihn sah, lächelte sie freundlich. Eine gute Seele, wie sein Bruder.
„Was kann ich für dich tun? Du bist doch Noros kleiner Bruder oder? Er hat mir schon so viel von dir erzählt.“
„Stimmt es, dass er auf den Thron verzichten will?“
Entsetzt starrte sie ihn an. „Woher weißt du das? Es wurde doch noch gar nicht offiziell bekannt gegeben.“
Voller Entsetzen starrte er sie an, ganz langsam wich er zurück, immer wieder schüttelte er ungläubig den Kopf und tauchte schließlich in der Menge unter. Sie versuchte noch ihn zu beruhigen, ihn zurück zu halten, ihm die Sache zu erklären, aber er war wie erstarrt. Er konnte es nicht glauben. Nein, er wollte es nicht glauben. So schnell er konnte rannte er in Richtung Ausgang. Nur noch wenige Schritte und er hätte es geschafft. Hier war er nicht mehr sicher.
Sein Vater würde niemals zulassen, dass er König wurde. Eher würde er ihn töten lassen. Der Gedanke daran trieb ihm sowohl kalte Schauer über den Rücken, wie auch Tränen in die Augen. Noch ein Schritt und er wäre draußen. Aber mit einem Mal packte ihn jemand am Ellbogen und drehte ihn herum.
„Was ist los Aki? Willst du mir denn gar nicht gratulieren?“
Noromis.
Er hatte ihn eingeholt. Ganz langsam hob Akito seinen Blick, bis sich ihre trafen. Noromis erschrak und sein Lächeln erstarb augenblicklich, als er sah, dass Akito weinte.
„Was ist los? Hat dich jemand verletzt?“
Er nahm seinen Kopf in seine Hände und betrachtete ihn von oben bis unten. Akito befreite sich aus seinem Griff und sagte das Einzige, dass ihm einfiel: „Verräter!“
Damit wandte er sich ab und rannte zu seiner Kutsche. Mit seinem Verzicht würde er Akitos Todesurteil unterschreiben, auch, wenn Noromis es ihrem Vater nicht zutraute, sein eigenes Kind zu töten.
Akito wusste, wozu dieser Mann in der Lage war. Er musste so schnell wie möglich nach Hause.
Teos Worte kamen ihm wieder in den Sinn, nur dort war er sicher. Nur dort war er willkommen.
Schnell sprang er in die Kutsche und befahl den Kutscher loszufahren. Dieser murrte unwillig, setzte sich aber in Bewegung.
Er konnte seinen Bruder noch immer sehen, wie dieser wie erstarrt in der Tür stand und ihm nachblickte. Sobald sie die Hauptstadt verlassen hatten, fing Akito erst richtig an zu weinen. Pamil würde später sicherlich schimpfen, weil er wie ein Weichei abgehauen war und bei dem Gedanken daran, wurde ihm etwas leichter zumute. Pamil und Teo warteten sicher auf ihn. Sie würden ihn herzlich empfangen und trösten. Er würde sich wieder in seinen Garten setzen und alle Sorgen vergessen. Sie würden ihn vor seinem Vater beschützen.
Tief atmete er durch, es würde alles werden. Teo würde wissen, was zu tun ist.
Akito bemühte sich, so gut es ging, sich zu entspannen und er konzentrierte sich so sehr auf seine Atmung, dass er zu spät mitbekam, dass die Kutsche langsamer wurde.
Ängstlich rief er dem Kutscher zu, was los sei, doch als dieser nicht antwortete, befürchtete er das Schlimmste.
Sobald die Kutsche stand sprang er hinaus und wollte wegrennen, aber vergebens. Um ihn herum standen schon überall Banditen und grinsten ihn hämisch an.
Der Kutscher lag mit einem Pfeil in der Brust auf seinem Platz, der Sitz schon voller Blut.
Gerade so aus dem Augenwinkel konnte er noch erkennen, wie sich jemand von hinten an ihn heranschlich. Zu spät. Er spürte auf einmal heftige Schmerzen im Hinterkopf, langsam wurde alles um ihn herum Schwarz.
Das letzte, das er hörte, waren die Worte:
„Liebe Grüße von Daddy!“