Akkon 15. Mai 1256
»Ihr habt den verdammten Dieb entkommen lassen, Renaud d’Airelle. Wie konnte das geschehen?«
»Ich musste entscheiden, Abbé. Ihr habt mich gewarnt, dass eine ganze Bande versuchen würde, das Reliquiar zu stehlen; Ihr habt mich nicht vor einem Einzelnen gewarnt«, protestierte d’Airelle steif.
Der Abbé antwortete nicht, sondern ging wortlos auf der Festungsmauer auf und ab. Eine leichte Brise, die von der nahen See hereinkam, bewegte die Clamys, das weiße Gewand mit dem roten Templerkreuz auf der linken Seite, fuhr ihm durch die Haare und hob für einen Moment das silbergesprenkelte Vlies seines Bartes.
Schließlich blieb er abrupt stehen. Sein Entschluss war gefallen.
Er konnte sich kein Bedauern leisten. Keine Unentschlossenheit.
Kein Mitleid.
»Geht zum Hafenmeister, d’Airelle. Findet heraus, wer am Morgen nach dem Diebstahl den Hafen verlassen hat.«
»Ja, Herr.«
»Sobald Ihr im Besitz dieser Information seid, werden wir die Versammlung einberufen und beraten, welche Vorgehensweise die richtige ist.«
»Die Männer sind unruhig, Abbé.«
»Ihr Leben ist sicher, solange sie sich an meine Anweisungen halten.«
»Sie fragen sich, warum die Reliquie nicht besser verborgen wurde.«
Der Abbé erstarrte.
Kein einziges Mal hatte einer seiner Brüder gewagt solche Fragen zu stellen.
»Kein Versteck ist vor Verrat sicher.«
»Wir haben erwartet, dass ein Duplikat im Schrein liegen würde«, erklärte d’Airelle wie versteinert.
»Wir werden uns die echte Reliquie zurückholen. Alles wird sein wie zuvor.«
»Das wird es nicht, Abbé.« Der Wind hatte gedreht und wehte d’Airelle das regelwidrig lange Haar ins Gesicht, seine linke Gesichtshälfte verschwand hinter nachtschwarzen Strähnen. »Ihr habt den Brüdern nicht die Wahrheit gesagt. Sie wissen nicht mehr, ob sie Euch noch vertrauen können.«
Schwacher Bratenduft wehte über den Gestank nach alter Asche und verdorbenem Fisch.
»Wollt Ihr sagen, dass ich keinem meiner Brüder vertrauen kann, d’Airelle?«, fragte der Abbé vorsichtig.
D’Airelle straffte die Schultern. »Niemand aus der Bruderschaft würde Euch verraten.«
»Aber Ihr habt das Reliquiar nicht beschützt, wie ich angewiesen hatte«, sagte der Abbé scharf. »Manche würden behaupten, das sei eine Form von Verrat.«
D’Airelle sah über den Kopf seines Meisters hinweg. »Soll ich mir selbst einen Haftbefehl ausstellen, Abbé?«
Der linke Mundwinkel des Abbé zuckte nach oben. »Damit Ihr Euch aus der Schusslinie bringen könnt?«, bemerkte er leichthin. »Ich denke nicht, mein Freund. Ihr werdet die Reliquie ausfindig machen und sie in den Besitz der Bruderschaft zurückführen.«
»Ihr verlangt, dass ich eine Nadel im Heuhaufen finde.«
Der Abbé überhörte d’Airelles Sarkasmus. »Die Dreistigkeit dieses Diebstahls würde zu einem Venezianer passen. Erkundigt Euch nach Händlern, die kürzlich abgereist sind. Hört Euch auf den Märkten um, welcher Kommissionär nach einer ähnlichen Reliquie wie der unseren gefragt hat.«
»Dazu brauche ich vertrauenswürdige Helfer.«
»Dann würde ich vorschlagen, dass Ihr sie Euch beschafft«, sagte der Abbé leise, bedrohlich.
»Sehr wohl, Herr«, antwortete d’Airelle hölzern und wandte sich zum Gehen.
»D’Airelle.«
»Ja?«, fragte d’Airelle vorsichtig.«
»Enttäuscht mich nicht noch einmal.«