Rollo war auf sein Pferd gestiegen und zurück in die Siedlung geritten. Sein älterer Bruder folgte dem Reiter nach mit den Augen, bis er hinter einer Wegbiegung verschwand. Dann ließ sich der Jarl erschöpft nach hinten sinken. Ungläubig befühlte er seine angeschwollene Nase, die nach dem Schlag heftig geblutet hatte. Auch jetzt noch störte ihn der metallische Geschmack auf seiner Zunge. Was für eine Öde!
Er sah hinauf in den wolkenverhangenen Himmel und beobachtete die beiden Raben, die dort wieder einmal ihre Kreise zogen. Wie, bei Odin Hrafnáss, hatte er es so weit kommen lassen können?
Einer der Raben ließ sich ein wenig tiefer sinken und Ragnar glaubte, den Blick des Raubvogels auf sich zu spüren. War dies Hugin, der seinem Herrn eine Botschaft zu bringen gedachte? Oder sah das Tier nur eine Beute in ihm, weil er so reglos dalag?
Ragnar hielt weiter still und der Rabe drehte ab. Der Mann sah ihm hinterher und mit einem Mal stand er in Gedanken dort oben, weit über der Meeresoberfläche auf den Klippen am Strand von Straumfjorður. So oft hatte er schon dort gesessen und sich den Wind ins Gesicht wehen lassen, wenn er einen klaren Kopf brauchte. Ob Rúna auch den Wind gespürt hatte? Oder war sie in ihren Gedanken nicht losgekommen von der Nacht, die hinter ihr lag?
Wie schon am Morgen, als er in der Scheune erwacht war, versuchte der Jarl sich ins Gedächtnis zu rufen, was er getan hatte. Egal, wie er es auch drehte und wendete, es erschien ihm nicht so schlimm, wie viele der anderen erzwungenen Vereinigungen, die er in seinem Leben schon gesehen hatte. Solvig kam ihm in den Sinn, die Nonne, die Rollo sich in Lindisfarne geholt hatte. Für sie mochte der Tod wirklich eine Erlösung gewesen sein nach allem, was ihr zugestoßen war. Aber für Rúna? War er seinem Bruder wirklich so ähnlich, dass er das Maß der Gewalt, die er ausübte, nicht mehr wahrnahm? Vielleicht würde es helfen, wenn er sich die Sklavin noch einmal genau ansah?
Doch als er diese Idee genauer besah, verwarf er sie auch gleich wieder. Sie war in Rollos Haus. Von dort würde er sich die kommenden Tage lieber fernhalten. So, wie der Bruder sich zur Zeit verhielt, würde er nicht einmal über dessen Schwelle treten dürfen. Und auf eine solche öffentliche Blamage konnte er gut verzichten. Wobei … es war schon merkwürdig, wie heftig Rollo reagiert hatte. War er nicht derjenige, der es mit den Gefühlen von Frauen nicht so genau nahm?
Ragnar brummte! So viel Aufregung wegen einer Nacht, an die er sich noch nicht einmal richtig erinnerte! Er wusste nicht einmal, ob sie ihm wirklich gefallen hatte, diese Vereinigung mit Rúna. Zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, sie unter sich zu behalten, als dass er es mit wachen Sinnen hätte genießen können, in ihr zu sein. Der Jarl fluchte. Wenn er es schon nicht genossen hatte, wie mochte es dann Rúna ergangen sein? Seine Gedanken verloren sich und schweiften ab zu seiner Gefährtin. Lathgertha, wenn sie… Doch nein! Nicht seine Lathgertha! Außerdem war sie eine freie Frau und eine Schildmaid. So schnell kam kein Mann …
Doch dann fragte er sich, ob dieses Denken nicht zu blauäugig war. Auch er war nur ein Krieger, so wie auch Rúnas Vater einer gewesen war. Thorstein hatte ihm wiedergegeben, was sie über ihre Eltern erzählt hatte. Nicht, dass er es besonders spannend fand. Doch dass es dreier Krieger bedurft hatte, um an dem Mann vorbeizukommen, obwohl er hatte wissen müssen, wie aussichtslos so ein Kampf bleiben musste, wenn man auf sich allein gestellt war …
Und dann, mit einem Mal sah er es. Das war es, weshalb Rollo sich so sehr gegen ihn gewandt hatte. Es ging ihm eigentlich nicht um Rúna oder deren gewaltsame Besteigung. Es ging Rollo um etwas ganz anders. Ragnar setzte sich auf. Er war ein Idiot! Wenn sein jüngerer Bruder recht hatte und Thorstein schneller als er gewesen war und mit der Sklavin bereits eine Gefährtenschaft eingegangen war, hatte er ,der Jarl, mit dieser Nacht ein ehernes Gesetz überschritten. Die Frauen der Krieger waren für andere Männer unberührbar. Dafür sorgten schon die engen Bindungen, die die Männer untereinander zwangsläufig bei ihren Kämpfen eingehen mussten. Es war ein absolutes Tabu, eine Kriegerfrau unter sich zu zwingen. Darauf legten alle seine Männer Wert und Thorstein nicht minder. War es dieser kleine braunhaarige Weib wirklich wert, dass er damit die Freundschaft und Loyalität seines Ersten Steuermannes riskierte?
Wütend spuckte der Jarl aus. Verdammt! Es war zum aus-der Haut-fahren, ein weiteres Mal. Was hatte er Odin nur getan, dass der Gottvater ihn in diese Misere hatte rennen lassen? Dass Rúna ihm gegenüber nun auch noch so rücksichtsvoll war und ihren Peiniger nicht beim Namen nannte, war die absolute Krönung des Ganzen. Doch nein, der Gipfel war, dass sie in Rollo einen Mitwisser hatten und sich sein Bruder nun seiner ritterlichen Seiten entsann. Ragnar hätte kotzen können bei der Erinnerung an den Auftritt, den der Jüngere hingelegt hatte. Nun musste er Rúna nicht nur als die Nachfolgerin der Völva anerkennen, was diese früher oder später sowieso von ihm verlangt hätte. Nein! Nach allem, was passiert war, kam er nun nicht umhin sie freizugeben.
Ragnar ließ seine Möglichkeiten noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen. Nein! Vor Rúna hatte er sowieso verloren. Daran gab es keine Zweifel und er würde es auch nicht herausfordern, dass sie ein zweites Mal versuchte, sich das Leben zu nehmen, weil er ihr zu nahe kam. Das war die ganze Sache nicht wert. Da kam er besser weg, wenn er sie so bald wie möglich an Thorstein los würde. Er musste sie ja nicht gleich freigeben, dass konnte der Steuermann schön selber machen und damit seine eigene Autorität untergraben. Was er aber konnte - und hier grinste Ragnar erleichtert - er konnte dem Mann die kleine widerspenstige Sklavenfrau als Belohnung für seinen beherzten Einsatz während des Brandes schenken. Damit wäre er das Problem los und Thorstein konnte sehen, wie er die kleine Wildkatze bändigte.
Ragnar stand auf und ging gelassen zu seinem Pferd, um sich nun auch auf den Weg nach Straumfjorður zu machen. Lathgertha würde er eine schöne Fibel schenken, die er noch in seinem Versteck für solche Zwecke deponiert hatte. Damit würde er die vergangene Nacht schon wettmachen. Wenn dann noch Jorunn seine gebrochene Nase geraderichtete, war der Tag doch gar nicht so schlecht abgelaufen, wie er das nach Rollos unerwartetem Auftauchen gedacht hätte.
'Rollo, der Ritter, der Beschützer der Schwachen', Ragnar lachte leise. Mal sehen, wie lange sein Bruder diese Rolle beibehalten konnte. Er kannte den Mann nun schon ein ganzes Leben lang und seit dessen Fahrt mit Göttrik war er, wie er war. Daran würden auch ein gehörnter Thorstein und eine gedemütigte Rúna nichts ändern. Die kleine Sklavin aber würde er aber bei passender Gelegenheit noch einmal zur Rede stellen. Wer war sie denn, dass sie glaubte, sich ihm nicht unterwerfen zu müssen und statt dessen seinen Bruder zwang, für sie zu lügen?