Als Silvia das Krankenhaus verlassen hatte, wurde ihr klar, was sie getan hatte. Sie konnte es fast nicht glauben und hatte Angst davor, wie Tommy reagieren würde. Sie fühlte sich elend. Wie eine Verräterin. Aber sie konnte dieses Risiko einfach nicht eingehen. Diese Leute hatten Michael auch erzählt, er sei in Sicherheit! Und jetzt! Es war noch nicht mal sicher, ob er überleben würde. Es schmerzte sie, ihn im Stich lassen zu müssen, wo sie ihn doch so sehr liebte...
Die ersten Tage erzählte sie Tommy, Michael hätte auf eine Auslandsreise gemusst, von der er noch nicht zurückgekehrt sei. Tommy aber, hatte bald bemerkt, dass seine Mutter sich jeden Abend in den Schlaf weinte. Dass sie nie mit Michael telefonierte... Schließlich gab er keine Ruhe mehr und Silvia erzählte ihm, dass Michael in ein fernes Land gezogen sei, wo er sie und Tommy nicht mitnehmen konnte. Er würde nie mehr heimkommen...
"Du lügst, Mama! Warum lügst du mich an? Ich glaube dir nicht! Michael wollte mein Papa sein! Er würde niemals ins Ausland gehen ohne dich und mich!"
Sogar der Junge hatte gemerkt, dass hier etwas nicht stimmte. Aber sie konnte ihm doch nicht die Wahrheit sagen. Irgendwann, musste er ihr einfach glauben! Silvia hatte alles Glück verspielt mit ihrer Entscheidung und das wusste sie. Sie würde Michael immer lieben. Mit der Entscheidung, Michael zu Tommys Sicherheit zu verlassen hatte sie sich selbst ihren Liebsten und Tommy seinen Wunschvater genommen. Sie würde es bis an ihr Ende bereuen...
Michael hatte nach dem Aufwachen nur eines im Sinn gehabt: Schnell gesund zu werden um endlich glücklich als Familienvater zu leben mit seiner Silvie und dem Jungen. Er hatte einen unbändigen Willen sich zurückzukämpfen ins Leben! Und als er endlich außer Lebensgefahr war, stellte sich heraus, das es keine Familie mehr gab für ihn! Eine Welt war zusammengebrochen, seine Welt, von der er sein ganzes Leben geträumt hatte, war er doch fast so etwas wie ein Waise. Als er den Brief gelesen hatte, hatte er sich dermaßen aufgeregt, dass man ihn ruhigstellen musste um seinen Kreislauf zu stabilisieren. Es würde Monate, vielleicht sogar ein Jahr dauern, bis er wieder selbstständig leben können würde... und wofür? Der Arzt injizierte etwas in den Tropf und es wurde finster...
Als Michael erneut erwachte, tupfte ihm gerade jemand liebevoll den Schweiß von der Stirn. Er kannte diesen Geruch. Er hatte ihn immer als angenehm empfunden und wusste, dass er mit angenehmen Erinnerungen verbunden war... das Parfüm...
"B... Branka!" - "Sch, Schhh! Ganz ruhig, Michael! Bleib ganz ruhig!" - "Aber..." - "Nicht reden, Michael! Hab keine Angst! Aus uns beiden wird nie ein Paar werden! Das weiß ich! Aber ich werde immer sowas wie deine kleine Cousine bleiben, die zu dir aufblickt und dich einfach ganz besonders lieb hat. Es wird lange dauern, bis du wieder lieben kannst, Michael, Ich werde dann schon lang verheiratet sein, aber auch du wirst wieder lieben und dann wird es die Richtige sein! In der Zwischenzeit werde ich auf dich aufpassen und dir helfen, wieder gesund zu werden!" Sie küsste ihn auf die Wange und spürte die salzige Träne, die Michael aus dem Augenwinkel geflossen war, auf ihren Lippen. "Alles wird gut, Michael! Du wirst wieder ganz gesund! Nur dein Herz, wird lange gebrochen bleiben und mit deiner großen Liebe wirst du vieles durchstehen müssen, aber dann wirst du glücklich, mein Großer! Sehr glücklich!" Michael drückte ihre Hand. "Ich hab dich auch lieb, Michael! Lass dich einfach fallen, ich fang dich auf." - "Hast... hast du noch..." - "Die Gabe? Ja Michael, ...manchmal... Ich sah es kommen und war doch machtlos. Ich konnte es nicht verhindern und ich wusste, dass dich Silvia im Stich lassen würde, obwohl sie dich wirklich liebt! Unsterblich liebt! Sie selbst wird ihre Entscheidung bis an ihr Lebensende bereuen! Und es wird sie krank machen, sehr krank. Es sind unsere Entscheidungen, die unseren Lebensweg zeichnen, Michael. Bis zur Letzten Konsequenz!"
"Was deine Mutter zu wenig an Muttergefühlen hatte, hat deine Geliebte zuviel davon... und sie macht euch alle drei damit unglücklich. Und ich würde sehr gerne auf diese Gabe verzichten, die mich nur sporadisch heimsucht. Es ist nichts Gutes, was Oma mir da vererbt hat, die alte Hexe! Nur so halb, dann und wann! Wenn ich es mir aussuchen könnte: Ganz oder gar nicht, dann gäbe es für mich nur gar nicht!"
Michael war noch sehr schwach. "Branka... es...es tut mir leid..." - "Das braucht es nicht, Michael! Ich muss dich um Verzeihung bitten! Ich wusste, dass aus uns beiden nie Etwas werden kann, also habe ich meine Liebe zu dir immer verborgen. Du konntest es nicht wissen! Aber als du mit ihr da warst, so verliebt... und dann hast du mich auch noch gefragt... Da konnte ich nicht mehr schweigen. Ich habe noch immer ein schlechtes Gewissen deswegen." - "Danke,... dass du da bist, Branka"! brachte Michael mühsam hervor. "Das... ist alles was zählt..." - "Michael, als ich bemerkte, dass ich ein Mädchen bin, da warst du schon ein junger Mann und während ich optisch noch eine unreife Göre war, sehnte ich mich schon nach deinen Besuchen und schwärmte für dich. Das hat nur leider nicht aufgehört! Aber jetzt habe ich das im Griff und ich stehe dir bei, so gut ich kann! Ich will dich eines Tages glücklich und gesund sehen und ich weiß, dass ich das werde! Mit einer starken, selbstbewussten Frau, die mir übrigens nicht unähnlich ist..."
Michael ging es dreckig. Aber Brankas Anwesenheit, die Tatsache, dass sie einfach her geflogen war, um ihm in dieser schweren Situation beizustehen, trotz der Kränkung, die sie durch ihn, wenn auch unbewusst, erfahren hatte, erleichterte ihn sehr. Aber dass er sich noch einmal verlieben könnte... das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Dass Silvia gegangen war, mit Tommy, hätte ihn vor ein paar Tagen noch umgebracht... Den Lebenswillen, der ihn überleben ließ, hatte er für die beiden aufgebracht! Als er den Brief endlich lesen durfte, kam die zweite Schmerzwelle zu ihm. Kaum hatte er die physische überlebt, kam die psychische. Nichts mit Papa... mit Ehemann und Vater! Der Traum von der Familie, den sie praktisch schon gelebt hatten, war zerplatzt wie eine Seifenblase. Und mit ihm der Wille, zu überleben. So besehen, hatte ihm Bertls Umsicht im weitesten Sinne das Leben gerettet...