Mit langsamen Schritten wanderte Snape den breiten Weg entlang auf das große Tor zu, das auf das Anwesen der Malfoys führte. Er hätte auch direkt davor apparieren können, doch er hatte sich für einen Punkt etwa eine Meile weiter weg entschieden, um einige Minuten für sich in der windigen Ruhe des Hügellandes zu haben. Er brauchte einen klaren Kopf, um dieses Wochenende die nötigen Vorbereitungen mit Hermine zu treffen, ohne dass jemand im Haus es bemerken würde. Er war am vergangenen Sonntag mit einem merkwürdigen Gefühl in die Schule zurückgekehrt. Irgendetwas stimmte in diesem Haus nicht.
Natürlich war ihm bewusst, dass Lucius vermutlich schon mehrfach mit Hermine geschlafen hatte. Sie war immerhin seine Sklavin und kaum ein anderer Todesser war so freundlich zu seinem weiblichen Sklaven wie er selbst es war. Und dennoch. Sie hatte nicht den Eindruck erweckt, noch im selben Maße verstört davon zu sein, wie sie es damals nach dem Erlebnis mit ihm gewesen war. Im Gegenteil, sie hatte wie die starke, junge Frau gewirkt, die er aus Hogwarts kannte und die ohne zu zögern Jagd auf Horcruxe gemacht hatte. Sie war sogar stark genug gewesen, um Tränen für ihn, ihren Vergewaltiger, vergießen zu können. Er blieb stehen.
War es möglich, dass zwischen seinem alten Freund Lucius Malfoy und seiner neuen Verbündeten Hermine Granger etwas anderes war als nur das Verhältnis von Herr und Sklavin? Angestrengt rief er sich alle Interaktionen zwischen beiden ins Gedächtnis, die er miterlebt hatte, doch nichts davon war aufschlussreich. Sicher, Lucius hatte sie zu ihm gebracht, als sie sich lebensgefährliche Unterkühlungen zugezogen hatte, und Narzissa selbst war es gewesen, die ihm vorgeworfen hatte, zu viel für Hermine zu empfinden. Er teilte diesen Verdacht, hatte ihn jedoch für einseitig gehalten. Übermäßiges Interesse eines alten Mannes an dem jungen Körper einer Frau. Erwiderte Hermine möglicherweise diese Gefühle?
Du bist ein Narr!, schimpfte er mit sich selbst. Warum hatte er diese Möglichkeit nicht bedacht, bevor er Hermine in seine Pläne eingeweiht hatte? Sicher, er hatte sie letzte Woche eindrücklich davor gewarnt, niemandem zu vertrauen, niemandem etwas zu erzählen, doch am Ende des Tages war sie nur eine Frau, ein Kind, das vor lauter Gefühlen kaum klar denken konnte. Eine verliebte Frau war ein unkalkulierbares Risiko.
Mit gerunzelter Stirn setzte Snape seinen Weg fort. Falls seine Befürchtung stimmte, hatte er ein Problem. Doch da war noch mehr. Es war nicht nur sein Verstand, der ob dieser Vorstellung in Aufregung versetzt worden war. Er fühlte sich betrogen. Sie hatte sich nicht gegen seinen Kuss gewehrt, sie hatte ihn nicht nur einmal sanft angelächelt, hatte ihm trotz allem, was er ihr angetan hatte, Vertrauen geschenkt. Wenn sie willig und aus eigenem Antrieb mit Lucius schlief, wenn sie vielleicht sogar in ihn verliebt war, warum verhielt sie sich dann ihm gegenüber so? Letzte Woche noch hatte er innerlich darüber gelächelt, dass sie hin und wieder für einen kurzen Moment wie eine verliebte Frau ihm gegenüber gewirkt hatte. Gegen seinen Willen hatte er Zufriedenheit daraus geschöpft, dass ein menschliches Wesen, eine Frau ihn tatsächlich mit solchen Augen sehen konnte. Es hatte gut getan und für einen Moment die verfluchte Müdigkeit vertrieben, die ihn sonst immer lähmte. Und jetzt?
Worüber denkst du hier eigentlich nach?, fragte er sich selbst. Natürlich würde sich eine Frau wie Hermine Granger niemals für ihn interessieren, da konnte sein narzisstisches Ich noch so sehr ihre Blicke fehlinterpretieren, sein Verstand wusste es besser. Und es war ja auch vollkommen irrelevant. Er brauchte sie für seinen Plan, das war alles, was zwischen ihnen war. Er würde ihr auf den Zahn fühlen, ob sie sich in einem gefühlsduseligen Moment dazu hatte hinreißen lassen, Lucius zu viel zu erzählen, und wenn dem nicht so war, konnte sie seinetwegen weiterhin diese kranke Beziehung zu ihrem Sklavenhalter führen. Das ging ihn nichts an.
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Nervös beugte Hermine sich über ihr Pergament. Sie wusste, dass Snape heute wieder zum Tee kommen würde, dass er danach mit ihr erneut zum Kräutergarten gehen und sie in weitere Details einweihen würde. Die letzten Tage waren merkwürdig gewesen, denn so sehr sie sich auch darum bemüht hatte, sich gegenüber der Familie Malfoy normal zu verhalten, so sehr war Lucius ihr aus dem Weg gegangen. Und nun das: Er saß – wie es wochenlang zuvor seine Gewohnheit gewesen war – hinter hier auf dem Sofa, den Blick auf ihren Rücken geheftet, stumm. Er hatte ihr schon lange nicht mehr bei ihrer Arbeit in der Bibliothek zugeschaut, warum also ausgerechnet heute? War es, weil er letzte Woche den Kuss zwischen ihr und Snape beobachtet hatte und sich jetzt plötzlich, da der Besuch bevorstand, daran erinnerte?
Das Rascheln seines Umhangs ließ sie erstarren. Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter, so dass sie unwillkürlich zu ihm aufblickte: „Kann ich etwas für Euch tun?“
„Hermine“, flüsterte er kaum hörbar: „Wir wissen beide, wer heute zum Tee kommt. Ich …“
Er brach ab und schaute sich unbehaglich um. Zögernd ging er vor ihr in die Hocke, eine Hand auf der Lehne ihres Stuhles, die andere auf ihrem Knie abgelegt, und beugte sich noch näher zu ihr hin. Als er leiser als zuvor weiter sprach, neigte sie sich unwillkürlich weiter zu ihm: „Ich weiß, dass du mir keinen Glauben schenkst. Du glaubst nicht, dass ich gerne an und auf deiner Seite stehen würde. Doch egal, ob du das glaubst oder nicht, es ist die Wahrheit. Und … wenn Severus nachher da ist … ihr geht ja gewiss wieder gemeinsam in den Garten. Egal, worüber ihr redet oder wie tief er nachbohrt, bitte, bitte erzähle ihm nichts davon. Er ist mein Freund und er hat sich absolut korrekt verhalten, als Narzissa ihn auf mich gehetzt hat, aber ich weiß, wenn er mitbekommt, dass ich kein loyaler Todesser bin … er wird nicht anders können, als das an den Dunklen Lord zu berichten. Er wird nicht sein Leben für meines riskieren. Also … ich setzte darauf, dass du schweigst.“
Am liebsten hätte Hermine laut aufgelacht. Die Sorge von Malfoy war aus seiner Sicht berechtigt, aus ihrer jedoch einfach nur ironisch. Ausgerechnet Snape wäre der letzte, von dem Malfoy an Voldemort verraten werden würde. Doch sie nahm die Furcht ihres Herrn ernst: „Solange Ihr es nicht wollt, werde ich mit niemandem über das sprechen, was Ihr mir anvertraut habt. Niemals. Ihr seid mein Herr und ich respektiere Eure Wünsche.“
„Nur, weil ich dein Herr bin?“, hakte Lucius nach, während seine Hand begann, ihren Schenkel zu streicheln. Hermine konnte nur den Kopf schütteln – es hatte diesen Mann offensichtlich tief getroffen, dass sie ihn nicht in all ihre Gedanken einweihen wollte, er war sogar absichtlich auf Abstand gegangen, doch kaum war er wieder in ihrer Nähe, kaum waren sie alleine, verlangte es ihn doch wieder nach ihrem Körper?
„Wie oft wollen wir dieses Gespräch noch führen?“, fragte sie, doch sie merkte selbst, dass ihre Stimme dabei wesentlich weniger abweisend klang, als sie beabsichtigt hatte.
„Solange, bis du mir sagst, dass du in mir nicht nur deinen Herrn siehst. Sondern auch den Mann!“, erklärte er, während er sich aus der Hocke erhob und sich mit so viel Stolz, wie ihm möglich war, aufrichtete: „Ja, ich bin ein Malfoy und alles, was dazu gehört. Aber ich bin auch ein Mann. Ein Mann, der nach einer Frau verlangt, die ihm ebenbürtig ist, die ihn in jeder Weise zufrieden stellen kann.“
Hermine stand ebenfalls von ihrem Stuhl auf, um sich direkt vor ihn zu stellen: „Aber wir sind einander nicht ebenbürtig. Ihr seid mein Herr.“
„Wie kann ich dein Herr sein, wenn ich dir so verfallen bin?“, fragte er leise. Dann, ehe Hermine antworten konnte, nahm er ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Es lag so viel Zärtlichkeit in diesem Kuss, dass sie nicht anders konnte, als sich ihm sofort wieder zu entziehen: „Ich muss den Tisch für den Besuch decken.“
Grimmig schaute Lucius ihr nach. Gerade, als sie die große Flügeltür der Bibliothek erreichte, rief er ihr nach: „Mit mir schlafen kannst du, aber meine Gefühle erwidern nicht? Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass so eine Frau existiert!“
Seufzend drehte Hermine sich noch einmal zu ihm um: „Wenn Ihr es so auslegen wollt, ja. Ihr habt mir eine neue Welt gezeigt, eine Welt, in der ich Vergessen und Verständnis finden kann. Durch Euch. Das nehme ich gerne und dankbar an. Und ich weiß, Ihr gebt es gerne, weil auch Ihr vergessen könnt. Aber, und ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich das schon gesagt habe, mehr ist nicht da. Ich kann Euch nicht lieben, nicht so, wie Ihr es wünscht. Und ich bin mir sicher, dass Ihr auch mich nicht liebt, zumindest nicht so, wie Ihr es Euch einbildet.“
Mit diesen Worten verschwand Hermine endgültig aus der Bibliothek. Lucius blieb nachdenklich zurück. Sie hatte von Liebe gesprochen, ohne dass er selbst sich sicher war, ob es wirklich Liebe war, was er für sie empfand. Zuneigung, ja, verliebte Gefühle, ja. Er war kein Jungspund mehr, der mit romantischen Gesten einer Frau den Hof machen konnte. Er wollte einfach nur eine ebenbürtige Partnerin an seiner Seite, die ihm half, wieder jener selbstbewusste Mann zu werden, der auf andere Menschen arrogant und herablassend wirkte, so, wie er es früher mit Narzissa an seiner Seite gewesen war. War das schon Liebe?
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Aufmerksam, aber äußerlich so gelassen und stoisch wie immer, beobachtete Snape die Teegesellschaft. Was letztes Wochenende zwischen Narzissa und Lucius wieder aufgeblüht war, schien sich über die Woche stabilisiert zu haben, denn noch immer war da Aufmerksamkeit und Respekt auf seiner Seite und liebevolle Zuwendung auf ihrer. Dennoch, Narzissa mochte es nicht bemerken, aber seinem geübten Auge entging nicht, dass Lucius nicht mit dem Herzen dabei war. Es waren einstudierte Bewegungen und Worte, routinierte Muster, die er abspulte.
Was ihm auch nicht entging, waren die Blicke, die Hermine mal ihm, mal Lucius zuwarf. Sicher, auf den ersten Blick war ihr Gesicht ausdruckslos und unbeteiligt, doch wann immer er ihrem Blick begegnete, sah er ein erwartungsvolles Glitzern in ihren Augen, und wann immer sie zu Lucius schaute, verschwand dieses Glitzern und machte einem nachdenklich-traurigem Ausdruck Platz. Und dann war da Draco, der unentwegt zwischen Hermine und seinem Vater hin und her schaute, als habe auch er den Verdacht, dass da mehr zwischen beiden war.
Nur Narzissa war offensichtlich zu sehr mit der Rolle der Gastgeberin und guten Ehefrau beschäftigt, als dass sie bemerkt hatte, dass sie in diesem Bild eine Randfigur war, nicht die Königin, die auf dem Schachbrett dominierte, sondern ein Bauer, für dessen Verbleib sich keiner der Anwesenden interessierte. Er hoffte, dass das auch so bleiben würde, denn eine weitere Meldung bei Bellatrix, die gewiss Voldemort darüber in Kenntnis setzen würde, hatte das Potential, all seine Pläne zu zerstören.
„Es wird bald dunkel, Severus“, sprach Narzissa ihn an: „Möchtest du lieber jetzt gleich nach den Pflanzen sehen?“
Er neigte kurz den Kopf: „Ja, das ist ein guter Vorschlag. Die erste Tasse von deinem himmlischen Tee hat schon ausgereicht, um alle Müdigkeit der vergangenen Woche aus meinen Gliedern zu scheuchen. Und falls ihr eure Sklavin gerade nicht braucht …“
„Keine Sorge, mein Guter, sie wird hier nicht gebraucht.“
Mit einem weiteren Nicken erhob er sich und bedeutet Hermine, zu ihm zu kommen. Der flackernde Seitenblick, den sie dabei zu Lucius warf, entging ihm nicht, ebenso wenig der ernste Blick, den jener ihr als Antwort gab. Das kurze Lächeln, das beinahe darauf angelegt schien, den Hausherrn zu beruhigen, ließ Snape stutzen. Außer ihm schien keiner diese kurze Interaktion bemerkt zu haben, doch nun war er sich noch sicherer als vorher, dass Hermine ihrem Besitzer nicht vollständig abgeneigt schien.
Wortlos streifte er sich seinen Mantel über, drückte Hermine ein Paar Stiefel und einen warmen Umhang sowie den Korb in die Hand, und ging dann schnellen Schrittes den inzwischen bekannten Pfad entlang. Als sie das Haus weit hinter sich gelassen hatten, brach er das Schweigen: „Zwischen Ihnen und Lucius läuft es gut, ja?“
Der ertappte Ausdruck auf ihrem Gesicht ärgerte ihn. Warum konnte sie ihre Gefühle nicht besser kontrollieren?
„Wie meinen Sie das?“
„Das war ein sehr süßes Lächeln, das Sie ihm gerade zugeworfen haben.“
Das war nicht das, was er hatte sagen wollen. Ja, er hatte sie auf das Lächeln hinweisen wollen, aber seine Worte klangen selbst in seinen Ohren unangebracht.
„Oh, das“, murmelte sie, ohne auf seine merkwürdige Wortwahl einzugehen: „Er hat mich lediglich aufgefordert, dass ich Ihnen gegenüber auf der Hut bin und ich habe ihm mit dem Lächeln zu verstehen gegeben, dass ich seinen Rat beherzigen werde.“
„Mir gegenüber auf der Hut?“
Warum hatte er das Gefühl, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit erzählte? Und warum sah sie so aus, als wüsste sie nicht, was sie auf diese Frage antworten sollte?
„Miss Granger“, sagte er streng: „Wir haben letzte Woche darüber gesprochen, dass Sie niemandem vertrauen dürfen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie ihr Wort gebrochen haben – dass sie doch geredet haben.“
„Ich habe nichts verraten!“, rief sie trotzig aus: „Ich bin nicht so dumm, wie Sie mir unterstellen! Denken Sie wirklich, ich würde unseren Plan ausgerechnet an Malfoy verraten? Ist es das, was Sie sagen wollen?“
„Exakt.“
Er konnte sehen, dass sie das wütend machte, doch er musste seine Bedenken äußern, schweigen brachte hier nichts, er musste wissen, woran er war.
„Denken Sie wirklich so schlecht von mir?“
Die leise geflüsterten Worte ließen ihn erstarren. Da war er wieder, dieser Blick, dieser Tonfall, dieses Verhalten, das ihm vorgaukelte, dass ihr seine gute Meinung wichtig war, dass sie vielleicht sogar größeres Interesse an ihm hatte, als für den Plan nötig war. Er durfte sich nicht einwickeln lassen davon, er musste sich konzentrieren.
„Versuchen Sie, mich um Ihren kleinen Finger zu wickeln, Miss Granger?“
„Bitte?“
Ihre Überraschung klang echt, doch er war nicht bereits, darauf einzugehen: „Ich habe mein Leben damit verbracht, andere Menschen zu studieren, ihre Mimik lesen zu lernen, Verhalten interpretieren zu können. Sie verhalten sich mir gegenüber wie eine verliebte Frau. Da ich jedoch weiß, dass Sie nicht verliebt sind, muss ich Ihre Motive für solch ein Verhalten in Frage stellen.“
„Ich … was?“, stotterte Hermine. Hatte Snape ihr gerade wirklich unterstellt, dass sie in ihn verliebt war? Wie konnte ein Mensch so überzeugt von sich sein, dass er sowas einem anderen Menschen direkt ins Gesicht sagen konnte? Und wie kam er auf die Idee? Er wäre der letzte Mann, in den sie sich verlieben würde, das musste ihm doch bewusst sein.
Dass sie sich über Lob von ihm freute, dass sie wollte, dass er eine gute Meinung von ihr hatte, das war nur eine reflexhafte Reaktion, die sie seit ihrer Zeit in Hogwarts nicht hatte ablegen können. Dass die Andeutung dessen, was er für den Orden und für Harry und für sie getan hatte, ausgereicht hatte, sie zu Tränen zu rühren, war die normale Reaktion eines empfindsamen Menschen gewesen. Wenn überhaupt, dann könnte er ihr vorwerfen, dass sie ihn mehr als einmal freiwillig angelächelt hatte. Aber das hatte auch nichts zu bedeuten, das Lächeln war einfach von alleine gekommen, sie hatte das nicht absichtlich gemacht, sie hatte ihn einfach angesehen und lächeln müssen. Das konnte er ihr doch wirklich nicht vorwerfen!