Nach einiger Zeit führte Linch sie in niedrigere Tunnel, die Wände waren nun rund und selbst Jarle musste sich ein bisschen ducken, was für die anderen bedeutete, dass sie sich mehr auf Knien, als auf Füßen bewegten. An den Wänden waren immer öfter Zahlen zu sehen und als Jarle nach der Bedeutung fragte, erklärte Linch, dass jedes Haus in Thoke, welches an die Kanalisation angeschlossen war, einen Tunnelzugang mit einer bestimmten Nummer hatte. Das Herrenhaus in das Linch beabsichtigte einzubrechen hatte die Nummer 72. Beinahe wäre sie an ihr vorbei gegangen, aber zu aller Überraschung entdeckte sie der grimmige Soran.
Über ihnen war eine schmale Metallluke, gerade groß genug, dass sich ein schmaler Mann durchquetschen konnte. Jarle sah prüfend zu Soran hinüber, der missmutig zur Decke starrte und den Griff seiner Axt knetete.
„Du und Nestor bleibt hier unten“, verkündete Linch an Soran gerichtet, „Gib uns Hilfestellung, damit wir raufkommen. Wird’s bald? Wir haben schon genug Zeit verschwendet.“ Soran ließ sich auf ein Knie in das seichte „Wasser“ sinken und faltete seine Hände. Linch öffnete die Luke und sah nickend nach oben. Nestor schien fast in Freudentränen zu versinken als er begriff, dass er sich nicht in Lebensgefahr begeben musste und die Fackel in seinen Händen hörte endlich auf zu zittern.
„Wie ich es mir gedacht habe“, flüsterte er, „Einer nach dem anderen, seid leise und denkt dran: Die Steuern müssten im Arbeitszimmer sein. Wir suchen gemeinsam, und ab jetzt kein Wort mehr!“ Mit diesen Worten setzte er seinen dreckigen Fuß ohne Zögern oder Erbarmen in Sorans Hände und zog sich leise durch die enge Luke. Jarle und Nestor konnten nur noch nicken bevor er es ihm gleichtat. Jarle musste sich nur ein wenig Bemühen um durch die Luke zu kommen, aber an dem Ort wo sie endete wollte er lieber nicht sein. Leise steckte er den Kopf durch eine schmale Öffnung und sah sich in dem kleinen Raum um, wo Linch schon wartete. Angewidert begriff er, dass er seinen Kopf gerade durch eine Toilette steckte und stemmte sich so schnell wie möglich hoch. Als er endlich gerade stand, wollte er gar nicht an sich hinabblicken, schließlich konnte man sich leicht denken wie er im Moment aussah. Wenn sie nicht irgendein Geräusch aufdeckte, so würde es sicher der Gestank tun. So wie sie momentan rochen, würden sie das ganze Haus aufwecken. Jarle vermied es ohnehin schon seit Stunden durch die Nase zu atmen, aber jetzt, da der Geruch nicht mehr allgegenwärtig war, nahm er ihn verstärkt war und musste fast würgen. Auch Linch schien dieses Problem erst jetzt wahrgenommen zu haben, aber er schien festentschlossen seinen Plan umzusetzen und winkte mit der Hand in Richtung Tür.
So leise wie möglich schlichen sie nach draußen und fanden sich auf einem Flur mit drei Türen und einer großen Treppe wieder. Der Boden war mit rotem Teppich ausgelegt und an den Wänden hingen prächtige Gemälde. Ihm stockte bei all der Schönheit fast der Atmen und seine Augen konnten sich an all dein Feinheiten, die der Künstler in seine Werke eingearbeitet hatte, nicht satt sehen. Linch zeigte in Richtung Flur und Jarle nickte knapp. Gemeinsam schlichen sie voran, im ganzen Haus war es still, und dunkel. Er bedankte sich in Gedanken dafür, dass all das Rumschleichen bei Nacht seine Augen trainiert hatten, sodass er selbst bei dunkelster Nacht alles klar erkennen konnte. Einmal hielt er Linch am Arm fest bevor dieser in einer wunderschöne Statue einer engelsgleichen Frau lief. Ab diesem Zeitpunkt übernahm Jarle die Führung und schlich den Gang entlang. Die erste Tür die sie fanden, war die zur Eingangshalle, in der nichts weiter als ein leerer Stuhl und ein paar Wandteppiche waren. Die zweite Tür führte in ein Speisezimmer, dessen Tisch so groß war, wie der Esstisch in den Tunneln, nur mit dem Unterschied, dass an diesem nur sechs Stühle standen. Jarle fragte sich schon, wie sich die Familienmitglieder unterhalten sollten, wenn so viel Raum zwischen ihnen war, als Linch ihn unsanft weiter zog. Die letzte Tür auf dieser Ebene war beschriftet, was es den beiden Einbrechern ersparte hinein zu gehen. Personal, stand in Goldbuchstaben an der dunklen Holztür und schnell und leise ging Jarle, mit Linch hinter sich, in Richtung Treppe.
Schritte ließen beide erstarren und Jarle zog Linch instinktiv mit sich unter die Treppe. Sein Herz raste und er fühlte sich, so eng an die dunkle Wand gepresst, wieder in die enge Gasse zurück versetzt. Die Schritte wurden lauter und jetzt war auch der Schein einer Laterne zu sehen. Jarle hielt den Atmen an, hätte aber schwören können auch Linchs Herzschlag zu hören, hoffentlich erging es dem Wachmann nicht genau so, der langsam den Flur hinab schlenderte. In der Hand hielt er, wie erwartet, eine Laterne, die sein altes Gesicht beleuchtete. Er trug einen schwarzen Anzug und ging leicht gebeugt. Innerlich seufzte Jarle erleichtert auf, es war kein Wachmann, sondern nur ein Dienstbote, mit dem würden sie im Notfall leicht fertig werden. Offensichtlich hatte der alte Mann keinerlei Geruchssinn, denn er trat durch die Personaltür ohne stehen zu bleiben und nach einigen Augenblicken entspannte sich Jarle und zog Linch unter der Treppe hervor. Dem stand die Aufregung ins Gesicht geschrieben und er schwitze stark. Zitternd fuhr er sich über die Stirn und tastete nach dem Geländer. Jarle ergriff unsanft dessen Arm und schon ihn in die richtige Richtung. Dies hier war keine geeignete Aufgabe für jemanden der Nachts so blind wie ein Maulwurf war. Linch ließ sich, zu Jarles Überraschung ohne Gegenwehr führen und schlich in zügigem Tempo die Treppe hinauf. Jarle sah sich schnell um und drückte sich und Linch dabei eng an die Wand. Er zählte fünf Türen, drei davon mit goldenen, zwei weitere mit silbernen Türklinken. Bestimmt hatte das etwas zu bedeuten, doch würde es zu lange dauern darüber nachzudenken.
Dieses Mal war die erste Tür, die eine silberne Klinke hatte eine große Bibliothek. Die Bücherregale reichten bis zur Decke und waren vollgestopft mit Büchern und Wissen. Jarle hätte zu gern die Geschichten gelesen die hier aufbewahrt wurden, aber Linch stieß ihn nur unsanft an, um ihn zu fragen ob er irgendetwas Auffälliges sah. Er sah sich noch einmal genauer um. Bücherregale, Tische, eine atemberaubend schöne Statue und Wissen, welches über Generationen gesammelt wurde.. Nichts das Linch interessieren würde. Er schüttelte den Kopf und Linch zog leise die Tür zu. Ein lautes schnarchen ließ sie zusammenfahren und sie die nächste Tür überspringen. Der nächste Raum den sie inspizierten war ein Schlafzimmer, kaum hatte er die Tür geöffnet zog er sie wieder zu. Kommode, Spiegel, ein Bett und ein schlafendes Mädchen, keine typische Inneneinrichtung für ein Arbeitszimmer.
Erst bei der fünften Tür, die sie in dieser Nacht öffneten hatten sie Glück und Linch tat fast einen Luftsprung und konnte sich den Aufschrei nur knapp verkneifen, als er den großen, riesigen Schreibtisch sah, der überhäuft war mit Federn, Papieren, Brieföffnern und Büchern. Neben Liegen und Vitrinen, stand in dem Raum auch eine große Truhe. Linch vergeudete keine Zeit und ging mit großen Schritten darauf zu, natürlich war sie abgeschlossen, aber das sollte für einen Meisterdieb kein Problem sein, dachte sich Jarle. Alles was er über Linch wusste, ließ ihn drauf schließen, dass er recht begabt darin war, Schlösser zu knacken, wie hätte er sonst dreimal dem Gefängnis entkommen sollen. Jarle stellte sich in der Zeit, in der Linch kleine Drähte in das Schloss schob und darin herumstocherte, an die Tür und lauschte angestrengt. Es war nichts zu hören, nur das vereinzeltes Schnarchen und sein eigener Herzschlag.
„Jarle“, flüsterte Linch, doch er fuhr erschrocken zusammen. Es kam ihm vor als hätte Linch ebenso gut schreien können, hektisch lauschte er auf andere Geräusche, doch noch immer war das Haus still. Verärgert drehte er sich zu Linch. Die Münzen in der Truhe, ließen sein Gesicht selbst bei schwachem Mondlicht schwach leuchten, und er grinste von einem Ohr zum anderen. Er winkte ihn zu sich und hielt ihm einen leeren Sack hin. Jarle ergriff den Sack verständnislos. Linch konnte doch nicht ernsthaft einen solchen Krach verursachen wollen, doch bervor er nur den Kopf schütteln konnte, schöpfte dieser mit beiden Händen die Münzen in den Sack. Es erschien Jarle entsetzlich laut. Erst das Hochheben der Münzen, wobei einige zurückfielen, dann das Werfen in den Beutel und auf die anderen Münzen. Das Klirren war ohrenbetäubend, doch Linch schien das nicht weiter zu stören.
Das monotone Schnarchen schien für einen Moment zu fehlen und Jarle richtete sich abrupt auf, wo vorher nur Sorge gewesen war, trat nun echte Angst hervor. Das Haus schien zu knarren, ihn anzuschreien zu verschwinden und auch Linch schien es nun genug und entriss ihm den Beutel. Ohne zu zögern schlich er auf die Tür zu, doch es war zu spät.
Von unten polterten schwere Schritte über den Boden, zu schwer für den alten Dienstboten. Jarle hätte sich ohrfeigen können, der leere Stuhl in der Eingangshalle, eine Wache musste ihn normalerweise besetzten. Nur das der in dem Moment anderswo gewesen war. Er erstarrte kurz, aber Linch riss ihn in die Gegenwart zurück und schubste ihn auf den Gang, sie hatten erst zwei Stufen genommen, als schon ein Mann die Treppe hinaufstürzte. Normalerweise hätte Jarle vermutet, dass Linch und er ihn mit viel Mühe und ihrem Vorteil wegen er erhöhten Lage überwältigen könnten, doch hatte der Wachmann zum einen ein Schwert in der Hand, und zum anderen stieß Linch ihn nach vorne, in die Arme des Mannes, um so schnell wie möglich die Treppe runter, und in Richtung Toilette zu kommen. Sein Plan funktionierte ausnahmsweise, denn der Wachmann griff instinktiv nach Jarle um ihn festzuhalten, was Linch genug Zeit gab an ihm vorbei zustürmen, den Sack voll Geld in der Hand. Dreckiger, mieser, ehrloser Wurm, dachte Jarle und strampelte wild um sich, was hätte er darum gegeben Soran bei sich zu haben, doch der Wachmann hielt ihn fest umschlungen. Jarles Herz schlug immer wilder, er keuchte mehr anstatt zu atmen und er war sich sicher ein weinendes Mädchen zu hören, doch er ignorierte alles in seiner Umgebung und wehrte sich wie ein wildes Tier. Er durfte nicht eingesperrt werden, alles, nur das nicht. Zu seinem Glück schien der Wachmann für den Bruchteil einer Sekunde locker zu lassen. Verständlich wenn man bedachte, dass er nur einen Jungen festhielt, während der wahre Dieb gerade mit der Beute verschwand. Dieser Augenblick reichte Jarle und er schlug so fest er konnte seinen Schädel in das Gesicht seines Gegners. Er konnte trotz des Lärms ein leises Knacken hören, gefolgt von dem Aufschrei des Mannes und einem Fluch. Sofort riss er sich los, nahm nur kurz das Blutüberströmte, zornige Gesicht seines Gegners wahr, und stürzte die Treppe hinauf. Hinunter war keine Alternative mehr, da sich dort schon zwei Dienstboten zusammenrotteten, die mutig genug waren, um ihre Zimmer zu verlassen, ganz im Gegensatz zu dem Hausherr und seiner Familie. Doch die zwei Männer, einer von ihnen war der alte Mann, dachten nicht daran zu Hilfe zu kommen, vielmehr genossen sie das Schauspiel, bei dem der Einbrecher, in ihren Augen, nur ein Junge war. Doch allein ihre Anwesenheit genügte um den Fluchtweg nach unten zu versperren, denn kampflos würden sie ihn auch nicht durchlassen. Demnach gab es nur einen Weg, wieder nach oben und in das Arbeitszimmer. Gehetzt stürzte Jarle in das Zimmer, wollte die Tür schließen, doch der Wachmann war ihm dicht auf den Fersen und hatte mittlerweile seine Abscheu davor, ein Kind zu erschlagen überwunden. Jarle konnte nur knapp einem Schwerthieb ausweichen und stieß mit dem Bein an den Schreibtisch. Der Mann vor ihm, schlug wieder zu, und dieses Mal erwischte er ihn leicht am Bein. Nicht tief, aber genug, damit Blut hervorschoss und Jarle aufstöhnte. Welcher Fluchtweg blieb ihm? Keiner. Außer er würde sich aus dem zweiten Stock in die Tiefe stürzen. Nicht sein sicherer Tod, aber dennoch wahrscheinlich. Allerdings wäre es sein sicherer Tod wenn er hier blieb. Jarle lief wie ein Hase im Zimmer herum, um den Schwerthieben auszuweichen, er bekam einige Kratzer doch meist war er zu schnell für den Wachmann. Doch ewig würde er dieses Spiel nicht durchhalten, und die Stadtwache war sicher schon auf dem Weg. Plötzlich machte der Wachmann einen Satz nach vorne und schlug Jarle mit voller Kraft in das Gesicht, was er nicht hatte kommen sehen. Offenbar hatte der Mann begriffen, dass das Schwert ihm in solch beengten Verhältnissen nichts brachte und hatte es fallen lassen. Jarle flog rücklings auf den Schreibtisch und einen Augenblick später war der Wachmann über ihm. In seinen Augen glitzerte Hass und sein Gesicht war blutverschmiert. Brutal legte er seine Hände um Jarles Hals und drückte zu. Ihm blieb alle Luft weg, es war, als ob sich sein Verstand sich in einem einzigen Augenblick verbaschiedet hätte. Seine Hände versuchten fieberhaft sich zu befreien oder etwas zur Verteidigung zu finden. Ihm wurde schon schwarz vor Augen, als seine Hände etwas Schmales aus Metall fassten. Sein Überlebensinstinkt übernahm die Kontrolle, und ohne zu wissen was er tat, stach er damit wild um sich. Er bemerkte nicht, dass es ein Brieföffner war, den er in den Händen hielt oder wohin er damit traf, alles was er bemerkte war, dass der Griff um seinen Hals locker wurde. Ohne nachzudenken riss er sich los, und rannte in Richtung Fenster. Von unten waren schwere Schritte und Stimmen zu hören, die Stadtwache war da.
Verzweifelt sprang er durch das Fenster, die Schnitte die er sich dabei zuzog waren ihm egal, alles was zählte war, dass er es, wie auch immer schaffte, auf den Füßen zu landen und sich abzurollen. Seine Schulter knackte laut und der Schmerz nahm ihm wie zuvor die Luft, doch gleichzeitig bemerkte er, dass die Stimmen lauter wurden. Ohne auf seinen schmerzenden Körper zu achten sprang er vom Graß auf und taumelte so schnell wie möglich zu dem einzigen vertrauten Geräusch. Die Rufe der Wachen wurden immer lauter und sein Ableben in einem dunklen Kerker immer wahrscheinlicher. Vor ihm hörte er das altbekannte Rauschen des Flusses. Mehr taumelnd als rennend sprang er in das Wasser und empfand die beißende Kälte als willkommene Linderung seiner Schmerzen. Die Strömung riss ihn unter Wasser mit sich und statt Luft atmete er nur noch Flüssigkeit. Er versuchte zu husten, doch es drang nur noch mehr Flusswasser in seine Lungen. Manchmal kam er an die Oberfläche und konnte nach Luft schnappen, nur um gleich darauf wieder unter Wasser zu tauchen. Es war schwierig in der Kälte einen klaren Gedanken zu fassen, doch für Jarle war es selbstverständlich, dass er aus dem Wasser musste. Die Wachen würden das Flussufer absuchen, besonders in den mittleren Vierteln. Nicht dass sie wegen eines einzigen Raubes die ganze Stadt in Aufregung versetzten würden, doch da es ein Adelshaus war, und die Steuern gestohlen wurden, konnte man davon ausgehen, dass zumindest einige Wachen die Augen nach einem braunhaarigen, verletzten Jungen offen hielten. Bei den wenigen Malen, bei denen er sich umblicken konnte, erkannte er, dass er gerade erst aus den oberen Vierteln heraus war. Doch erst bei den unteren Vierteln durfte er das Wasser verlassen, ein weites Stück, wenn man entsetzlich fror und der Blutverlust die Lider schwer machte. Es kostete ihn alle Kraft nicht das Bewusstsein zu verlieren oder den Kampf gegen die Fluten und das Reißen des Wassers aufzugeben. Die Augen zu schließen und sich dem Nichts zu übergeben, erschien so verlockend, so einfach, und fast hätte er resigniert, doch was wäre mi Inji wenn er dieser Schwäche nachgeben würde? Für seine kleine Schwester musste er diesen Kampf weiterführen. Arme und Beine trotz Schmerzen bewegen, nach Luft schnappen und wenigstens versuchen sich zu orientieren. Er durfte Inji nicht allein lassen, sie war alles an Familie, das er noch hatte, und er war alles was sie noch hatte. Einatmen, Ausatmen, Einatmen, Ausatmen. Komm schon, du schaffst das.
Als Jarle endlich aus dem Wasser kroch, zitterte sein ganzer Körper und seine Glieder gehorchten ihm schon lange nicht mehr. Die Kleidung klebte ihm auf der Haut, aus unzähligen Schnittwunden blutete es, das Atmen tat weh und die Ohnmacht drohte ihn abermals zu übermannen. Ich kann hier nicht bleiben…muss weg…Inji… Selbst seine Gedanken verweigerten ihren Dienst und an ein Aufstehen war nicht zu denken, der Tag hatte seine Opfer gefordert. Das Stundenlange Marschieren durch die Dunkelheit, der Kampf mit dem Wachmann, der Sprung aus dem Fenster und das Reißen des Flusses waren für Jarle zu viel gewesen. Nicht zu vergessen der Verrat durch Linch, diesem heimtückischem, bösartigem, verlogenen… kein Schimpfwort war schlimm genug um zu beschreiben, was Jarle über ihn dachte. Und trotzdem muss ich zu ihm zurück. Wohin auch sonst? Bestimmt weiß jetzt die ganze Stadt wie ich aussehe, nur in den Tunneln bin ich einigermaßen sicher. Solange mich Linch nicht verrät, zuzutrauen wäre es ihm. Quälend langsam drehte er sich auf den Bauch um zu versuchen sich aufzurichten. Seine Schulter schien bei der kleinsten Bewegung zu zerreißen und obwohl er sich auf die Lippen biss, bis sie blutete, war ein Aufschrei nicht zu vermeiden, als er auf allen vieren die Flussböschung hinaufkroch. Bis jetzt waren keine Wachen zu hören, doch das konnte sich ganz schnell ändern, ein Grund mehr sich zu beeilen. Seine Sich verschwamm immer mehr, während er sich durch die Gassen quälte. Straßen, die er sein Leben lang innerhalb von Wimpernschlägen durchquert hatte, erschienen jetzt unendlich lang. Das einzige was er hörte war sein Atem und das Rauschen in seinen Ohren, bis eine Stimme ihn zusammenzucken ließ.
„Jarle? Was…?“
Jemand lief auf ihn zu, seine erste Reaktion war augenblickliche Flucht, und auch wenn er in diesem Moment selbst einer Schnecke unterlegen wäre, wand er sich sofort ab und kroch die Gasse entlang. Er stürzte auf seine Schulter und der Schmerz ließ ihn nur noch Schwärze sehen.
„Du meine Güte.“ Die Stimme war nur noch ein schwacher Flüstern und die Person ließ sich augenblicklich neben ihm auf den Boden nieder und half ihm, sich aufzusetzen. Das blonde Haar und die dunklen Augen erkannte er erst nach einigen Augenblicken und ein Hoffnungsschimmer machte sich in ihm breit.
„Lia!“ Mehr als ein leises Krächzen brachte er nicht zu Stande und selbst dieser eine Laut ließ ihn zusammenzucken.
„Ich bin da, mein Lieber. Es wird alles gut. Ich bring dich zurück, deine Wunden müssen dringend versorgt werden.“ In ihren Augen standen Tränen und sie schnaufte ein wenig, als sie ihren Arm um Jares Hüfte legte und ihn hochzog. Langsam und schwankend schleifte sie ihn durch die Straßen von Thoke und musste immer häufiger innehalten, um zu Atem zu kommen. Jarle war ihr unsagbar dankbar, ohne ihre Hilfe, wäre er nicht weit gekommen. Am liebsten hätte er ihr das alles gesagt, doch außer stöhnen drang nichts mehr aus seinem Mund.
Lia blieb abermals keuchend stehen.
Plötzlich drückte sie ihn eng an die Wand und legte den Finger auf die Lippen. Jarle runzelte verwirrt die Stirn, er hörte nichts. Andererseits hörte er noch nicht mal die eigenen Schritte.
„Keine Angst Jarle, ich pass auf dich auf“, flüsterte Lia leise und starrte angsterfüllt in die Dunkelheit, „Dir passiert nichts.“
Jarle lauschte angestrengt und konnte wie durch dichten Nebel schwere Schritte hören, eindeutig Eisenstiefel, was nur die Anwesenheit von mindestens zwei Wachen bedeuten konnte, dazu kam, dass die Schritte immer lauter wurden, und er und Lia nicht zu übersehen waren, auch wenn Lia ihn immer dichter an die Wand drückte. Sie drückte die Augen ganz fest zu und sich selbst so dicht an Jarle wie nur möglich.
„Lia…“, flüsterte Jarle, „Lass mich hier. Allein kannst du an den Wachen vorbei kommen.“
Sofort öffnete sie die Augen und funkelte ihn an: „Sag so etwas nicht.“
Warum konnte sie nicht vernünftig sein? Allein könnte sie einfach die Straße entlang schlendern, und wenn die Wachen fragen würden, was sie um diese Zeit noch draußen trieb, konnte sie sich ohne Probleme als Freudenmädchen ausgeben, doch sich mit einem blutenden und nassen Jungen in einer Gasse zu verstecken, würde sie nur in Gefahr bringen.
„Versuch es nicht noch einmal. Ich sagte, dass ich dich beschütze und das werde ich auch, gleich was kommt, ich lasse dich nicht allein.“
Nun war es an Jarle die Augen zu schließen und das Unvermeidliche zu akzeptieren. Die Wachen waren zu nah, um noch umzukehren, nur noch Schritte von der Gasse entfernt, nur noch Schritte von einer Verhaftung entfernt. Es war wie ein Traum, er fühlte sich fast in die Gasse zurückversetzt, an dem Tag, als er in den Wachturm eingebrochen war. Auch da waren ihm Soldaten auf den Fersen gewesen und genau wie damals wünschte er sich auch jetzt unsichtbar zu sein. Für fremde Augen unentdeckbar.
„Wachen!“, eine Stimme hallte durch die Straße und brachte die Schritte dazu, zu verstummen. Jarle unterdrückte ein Seufzen, die Wachen waren nun nah genug um ihn zu hören, nur noch eine Ecke, trennte Lia und ihn von ihnen. Seine Sicht war noch immer verschwommen, genau wie seine Ohren funktionierte keiner seiner Sinne mehr richtig, aber er glaubte eine aufgeregte Stimme zu hören.
„In der Kesselgasse werfen dreckige Straßenkinder Steine an die Fenster. Unternehmt gefälligst etwas!“ Als einige Augenblicke nichts zu hören war, forderte die Stimme mit empörten Unterton: „Na los! Oder wollt ihr warten bis die Drecksbengel weg sind?“
Einer der Wachen grunzte verärgert, einen Augenblick später entfernten sie sich in Richtung Kesselgasse. Jarle konnte sein Glück kaum fassen und auch Lia schien ihren Ohren nicht zu trauen.
„Scheint so, als bräuchtest du Hilfe beim Tragen?“
„Reuben! Elador sei Dank.“ Lia viel dem Mann der nun vor ihnen stand, um den Hals, und Jarle wäre vor Erschöpfung wieder gestürzt, wenn Reuben ihn nicht aufgefangen hätte. Sein Arm brannte, als der Händler ihn packte, doch wenigstens blieb die Schulter verschont.
„Dich schicken die Götter!“ Lia unterdrückte ein Aufschluchzen, doch Reuben winkte ab.
„Das sollten wir noch abwarten. Sehen wir erst einmal zu, dass wir Jarle von der Straße bekommen.“
Lia nickte schnell und packte seinen anderen Arm, und versuchte ihn zu stützen, wobei sie nicht merkte, wie verletzt seine Schulter war. Jarle bemerkte kaum, wie die beiden ihn fortschleiften, denn schon nach einigen Schritten schienen die Schatten nach ihm zu greifen und Dunkelheit umfing ihn mit sanften Armen.