Wir standen hintereinander in dem schmalen Gang. Der Boden war feucht und es lag ein unangenehmer Geruch in der Luft. Es roch nach Angst. Todesangst. Ich zitterte und Luisa vor mir wich immer weiter zurück , bis sie an mich stieß. Wir konnten nicht umkehren , da der Gang dafür zu klein war und es gab kein Entkommen. Um uns herum hörte man die Angstschreie und die Klagelaute all derer, die noch auf das Ende warteten. Und jetzt war es so weit für Luisa. Der böse Mann kam, von oben auf uns herabschauend , mit einem Stab der uns Elektroschocks verpasste und trieb Luisa zum Vorwärtsgehen an. Ich wollte ihr noch etwas zurufen, aber es kam kein Laut aus meinem Mund. Ich fand keine Worte der Aufmunterung oder des Trostes. Alles was ich denken konnte war : „ Bald hast du es geschafft! Bald haben wir beide es geschafft!“.
Sie zitterte und ich sah wie sie versuchte mir noch einen letzten Blick zuzuwerfen. Aber kaum wollte sie dazu inne halten, gab es einen Schlag auf den Kopf und einen weiteren Elektroschock. Sie lief auf den Eingang zu und schon ging die Abdeckung runter, sodass ich sie aus den Augen verlor. Jetzt war ich also alleine. Ich zitterte krampfhaft und der Schweiß floss mir über die Stirn. Ich hatte niemanden mehr und gleich würde der böse Mann kommen und auch mich holen.
Dann blieb mir auf einmal die Luft weg, als ich einen lauten Knall hörte und kurz darauf Luisas Körper, der auf den Boden sank. Nach einem letzten Todesschrei von ihr war es ruhig. Mein Herz erfror plötzlich weil ich nichts mehr fühlen konnte als Angst. Panik. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und versuchte durch zu atmen. Noch ein paar Minuten und die Qual würde für immer beendet sein. Mein Leben zog wie an einem Film an mir vorbei. Nur einzelne Bilder ; doch sie waren mit so vielen Emotionen verbunden, dass ich jedes Einzelne mit meinem ganzen Herzen fühlte. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt und von meiner Mutter haben sie mich gleich weggenommen. Nach einer schwierigen Geburt war ich endlich auf der Welt und meine Mama hat sich so gefreut. Als ein Neugeborenes habe ich natürlich gleich angefangen zu trinken und sie hat mich abgetrocknet und sauber gemacht. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sie mich voller Liebe und Stolz angesehen hat. Doch irgendetwas war nicht in Ordnung mit ihr. Sie wirkte plötzlich so versteift und angespannt. Als wäre sie auf der Lauer und wollte mich beschützen. Damals wusste ich noch nicht wie die Welt wirklich war und ich trank hungrig die gute Muttermilch, die meine Mama für mich produziert hat. Aber dann hörte ich plötzlich ein Klirren hinter mir und zum Ersten Mal sah ich einen der bösen Männer, die mir mein ganzes Leben zur Hölle gemacht hatten. Meine Mutter machte ein paar Schritte vorwärts , sodass ich nicht mehr weitertrinken konnte. Verwundert hatte ich sie angesehen und dann plözlich begriffen: sie wollte mich beschützen. Vor dem bösen Mann.
Dieser betrat jetzt unser Zimmer und ohne große Umschweife packte er meine Hinterbeine, auf denen ich noch nicht einmal eine halbe Stunde gestanden hatte , und zog mich von meiner Mama weg. Ich glaube dass das meinem naiven , unschuldigen Herzen so einen Schaden zugefügt hatte, dass diese Wunde tief in meiner Seele nie wieder heilen konnte und ich so mein ganzes Leben lang im Innern blutete. Zuerst war ich noch schockiert und dann erfasste mich zum ersten Mal die Angst, die mich mein ganzes Erdendasein begleiten würde. Ich wollte mich wehren , aber was hat ein Baby schon zu melden. Ich strampelte ein bisschen mit den Vorderfüßen und suchte Blickkontakt zu meiner Mutter. Und schon war es geschehen: Der Mann hat mir mit seinem Fuß einen harten Tritt verpasst. Er ist mit seinem dreckigen Schuh direkt in mein Auge gekommen und mein Kopf war von einem unfassbaren Schmerz betäubt. Jetzt hatte ich stinkende, braune Matsche auf dem Kopf, doch meine Mami konnte mich nicht mehr sauber machen. Sie schrie meinen Namen. Sie weinte und versuchte dem Mann zu folgen. Ich sah wie sie sich anstrengte um mir zu helfen ; um mich zu befreien. Aber sie war gefangen; hinter den Gitterstäben. Und ich hatte keine Kraft um mich zu wehren. Ich konnte nur noch den Kopf heben um ihr einmal noch in die Augen zu schaun. In ihrem Blick sah ich Verzweiflung. Wut. Trauer. Hass. Hilflosigkeit. In dem Moment wollte sie nichts sehnlicher als bei mir zu sein und mich zu schützen. Dieser Blick verfolgte mich im Schlaf und bescherte mir Albträume. Ich wollte zu ihr hingehen und sagen , dass es mir gut geht und dass sie sich keine Sorgen machen soll. Und das war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich meine Mama gesehen hatte. Von dem Mann wurde ich in eine Halle gebracht wo lauter andere Kinder in kleine Boxen gezwängt waren. Mein Kopf tat immer noch sehr weh, als der Mann eine Box aufschloss und mich hineinwarf. Er gab sich nicht einmal die Mühe, mich vorsichtig abzulegen. Reglos blieb ich am harten Boden der Box und dachte nach. Jetzt war ich erst 1 Stunde auf der Welt und schon war alles doof. Ich war ohne meine Mama. Und ein Mann hat mir weh getan. Ich wusste nicht, was ich in der Box ohne irgendetwas als Unterlage sollte und ich sehnte mich nach Nähe zu einem Artgenossen. Die anderen Kinder sahen alle traurig aus und manche lagen auf dem Boden , ohne Anteilnahme oder irgendeine Regung. Ich sah mich noch ein bisschen mehr um und versuchte etwas Schönes zu entdecken. In der Halle sah Alles so gleich aus und ich sah nichts weiter als Boxen. Die Luft war gefüllt mit Lauten, die mir einen Schauer über den Rücken jagten. Viele Kinder weinten und fast Alle hatten ihre Augen weit offen, so dass es nicht schwer zu erkennen war, dass sie Angst hatten vor dem Leben. Auch ich machte mir Gedanken. Warum sind wir alle hier, wenn niemand uns mag ? Und wann darf ich aus der Kiste raus ? Kann ich später wieder zu meiner Mama ?