Solinacea saß zusammen mit ihren Freunden und Seren vor Nashobas Tipi in der Sonne. Inzwischen fiel es ihr schwer, sich lange auf den Beinen zuhalten. Die Zwillinge, deren Geburt erst in zwei Mondumläufen zu erwarten war, verlangten ihrem Körper schon jetzt einiges ab.
Also verbrachte sie ihre Tage geruhsam zusammen mit jenen Menschen und Magiern, die ihr am Herzen lagen. Manchmal spielte sie wie gerade eben die Harfe für die Kinder aus dem Volk ihres Gefährten. Doch es erschöpfte sie immer schneller und so hatte der Minagi ihr vor wenigen Augenblicken zärtlich das Instrument aus den Händen genommen und die junge Meute in ihre Zelte geschickt. Nun stand das gedrungene Instrument von Dakoros neben der runden Türhaut und wurde nachdenklich von der sonst eher schweigsamen Sirene Seren gemustert.
»Es ist ein so durch und durch friedliches und harmonisches Instrument«, flüsterte die Havfrue andächtig. »Nichts kommt darin den Harfen von Dakoros gleich. Es sind gleichsam Friedensinstrumente.«
Solinacea betrachtete die Sprecherin ein wenig verwundert. Die letzten Mondumläufe hatten die junge Magierin unverhältnismäßig schnell altern lassen. Es war der Fluch der Sirenen, der diesen Schaden auslöste. Doch war Seren auch viel bedächtiger geworden und weiser. Das zerbrochene Gleichgewicht des Lebens allein konnte daran aber nicht Schuld sein.
Die Heilerin strich nachdenklich über die den schlanken Hals ihres Instruments.
»Es mag dir so vorkommen, als seien unsere Harfen Botschafter des Friedens«, stimmte sie der jungen Sirene zu. »Doch es gibt Legenden, die etwas ganz anderes berichten. Man sagt, es habe eine Harfe gegeben, die ihrer Spielerin den Tod brachte …«
Solinacea sah ihren Wahlbruder Atreus nicken und spürte das erwartungsvolle Schweigen ihrer Zuhörer.
»Die Geschichte der Harfe des Todes ist uralt«, relativierte sie ihre Aussage. »Und niemand weiß, wer das Opfer war und wer die Zauberkraft für die Harfe gab. Vielleicht ist es nur ein Gerücht, dem man mehr Gewicht gegeben hat als nötig.«
Atreus schüttelte bei diesen Ausführungen ungläubig den Kopf. »Legenden sind nie ohne ein Gran Wahrheit«, gab er zu bedenken. »Und die Geschichte der Todesharfe ist sehr detailliert und ausführlich. Wer könnte auch nur einen Moment daran zweifeln, dass dies die Magie einer starken Zauberin zum Ausdruck bringt?«
Solina zupfte zweifelnd einen oder zwei Töne auf ihrer Harfe. »Ich weiß nicht …« murmelte sie. »Todesharfen …, zerbrochenen Lebensbündnisse … Es erscheint mir so unwirklich. Viel eher möchte ich glauben, dass die Harfe vor dem Tod ihrer Schwester ein Einsehen hatte …« Sie warf Atreus einen eindringlichen Blick zu. »Du nicht auch?«
Der Phoenix lächelte verständnisvoll. »Natürlich – wenn es dich beruhigt. Es ist ja auch nur eine alte Überlieferung.«
Amüsiert sah Nashoba zwischen den beiden Wahlgeschwistern hin und her. Wie fürsorglich der Dämonenkrieger war, seitdem sie wussten, dass Solinacea die Zwillinge erwartete – aber gaben sie sich nicht eigentlich alle Mühe, seine Gefährtin nicht aufzuregen? Ob er sie dennoch bitten konnte, jene alte Mythe zu erzählen? Es gab so wenige Legenden von Dakoros.
Doch die Sirene kam ihm zuvor. Schüchtern und mit gesenktem Blick bat sie Atreus leise darum, die Geschichte zu erzählen.
»Es ist keine Legende der Dämonenkrieger«, stellte der Phoenix noch einmal richtig. »Und das, was ich erzählen kann, habe ich von meinen Lehrmeistern gehört, die auch nur wussten, was man ihnen überliefert hatte …«
Solinacea lachte leise. »Nun mach schon! Erzähle! Die Kinder sind alle gegangen und werden daher nicht in der kommenden Nacht von einer bedrohlichen Harfe träumen. Und wir … Nun, wir haben schon schlimmeres gehört als eine Legende von totbringender Musik!«
Nun lächelte mancher in der Gruppe der Zuhörer und sie rückten ein wenig enger um Darius' Bruder zusammen. Dieser streckte die Beine aus, schlug sie dann vor dem Körper bequem übereinander, stützte die Ellenbogen auf beide Knie und begann:
»Es muss lange vor der Zeit gewesen sein, da die Dakoraner begannen, ihre Historie aufzuzeichnen. Über die Harfe des Todes gibt es kein Schriftstück, das aus jener Zeit stammt. Doch wenn wir auch nicht genau wissen, wann sich diese Legende ereignet hat, so ist der Ort des Geschehens, Septentrio, gut bekannt.«
Solinacea nickte und gab dann eine kleine Erklärung zu der genannten Insel: »Septentrio ist die nördlichste aller Inseln meiner Heimat. Man sagt, sie sei nach dem Nordwind benannt, der allezeit über die Klippen der Küste wehe. Andere glauben, dass sie den Namen jenes Sternbildes trägt, das den Weg nach Norden weist. Sie ist die einzige, deren Küste steinig und felsig ist und deren Einwohner Legenden über Seeungeheuer und Meerjungfrauen kennen.« Freundlich lächelte sie Seren zu, die bei dieser Erwähnung unsicher aufsah. »Vielleicht gab es wirklich vor langer Zeit einmal einen Kontakt der Inselbewohner zu den Sirenen. Wer weiß das schon? Doch im Laufe der Jahrhunderte haben diese Geschichten alle ein Eigenleben entwickelt, sodass wohl kaum noch etwas von der Wahrheit geblieben ist.«
Atreus nickte. »Außer den Klippen vielleicht. Und genau dort beginnt auch unsere Geschichte – in einem Haus hoch oben über dem Strand, weit draußen auf den Klippen. Dort lebten einmal zwei Schwestern, die der ganze Stolz ihrer Mutter waren. Die jüngere war in ihrem Gemüt so hell und klar wie von ihrem Äußeren her – blond, schlank und klein. Allseits war sie beliebt ob ihrer Freundlichkeit und Güte. Die ältere Tochter hatte dunkles Haar und neigte dazu, neidvoll und gierig auf jene zu sehen, die aus ihrer Sicht mehr hatten als sie. Doch sie versteckte ihre Missgunst gut und nur wenige erkannten jenen Fehler in ihrem Charakter.
Die Mutter aber liebte ihre Mädchen beide und zog sie groß, ohne ihnen je einen Wunsch abschlagen zu können.«
Der Phoenix sah, dass ihm die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer gewiss war und lachte in sich hinein. Nun war es an der Zeit, die Geschichte voranzutreiben und die Spannung zu steigern.
»Er kam mit den Nebeln des zeitigen Frühlings«, verkündete er geheimnisvoll. »Ein stolzer Ritter ohne Fehl und Tadel, wie man ihn nur in den alten Tagen wirklich kannte.«
Solinacea schmunzelte, aber sie schwieg. Später wollte sie ihrem Wahlbruder jedoch verraten, dass er sich hierin gründlich irrte. Wer, wenn nicht sein Bruder und er, waren die stolzen Ritter ihrer Zeit? Doch jetzt war nicht der Moment, um darüber mit ihm zu diskutieren. Schon fuhr Atreus mit seiner Geschichte fort und sie konzentrierte sich auf das, was er zu erzählen wusste.
»Die Gerüchte über eine junge Frau von großer Schönheit und Güte hatten ihn auf die einsamen Klippen gelockt. Bald schon fand er das Haus mit den beiden Töchtern und wurde freundlich empfangen.
Die ausgesuchte Höflichkeit, mit der der stolze Ritter sie hofierte, gefiel den beiden jungen Frauen und sie verliebten sich in ihn. Doch obwohl der Krieger auch der älteren Schwester seinen Respekt zollte, war es die jüngere, der er nach einigen Wochen sein Herz schenkte.
Auf Knien bat er sie um ihre Hand und als sie freudig zustimmte, konnte die Ältere ihren Zorn nicht mehr beherrschen. Wütend und mit ihrem Schicksal hadernd, ging sie davon.
Verärgert schritt sie über das Land, bis sie am Rand der Klippen ankam. Der wilde Nordwind fuhr ihr durchs Haar und kühlte ihr zorniges Gemüt ein wenig ab. Doch auch, wenn sie nun ein wenig gefasster war, blieb jene kalte Wut über das Glück der Jüngeren in ihr bestehen.
›Es ist nicht recht, dass sie so weit über mich erhoben werden soll‹, dachte sie. ›Ich bin älter und sollte als erste heiraten. Ich bin schöner und habe auch einen reicheren, stolzeren Mann als sie verdient.‹«
Atreus räusperte sich und schaute sich sein Publikum kurz an. Gespannt saßen seine Freunde um ihn herum und warteten darauf, dass er fortfuhr. Also zögerte er nicht und spann die Legende weiter.
»Die Wellen tosten im starken Wind und brachen sich kraftvoll an den Steinen der Steilküste. Nachdenklich sah die ältere Schwester ihnen dabei zu und in ihrem Herzen reifte ein teuflischer Plan. Wer konnte schon vorhersagen, ob auch ihr eines Tages das Glück hold sein würde und einen weiteren brauchbaren Ehemann auf die steilen Küsten ihrer Heimat senden würde? Wer konnte schon wissen, was aus ihr werden könnte, wenn sie diese einmalige Chance vertat?«
Atreus betrachtete nachdenklich seine ineinander verflochtenen Hände und sann einen Moment lang über den Inhalt der Geschichte nach. »Ich kann nur schwer nachvollziehen, was jene ältere Schwester wirklich empfunden haben mochte«, gab er zu. »Als ich Sirigan kennenlernte, gab es keinerlei Raum für kühle Berechnung bei meiner Liebe für sie. Dieses Gefühl …« Er sah beinahe hilflos zu Solinacea, die ihm aufmunternd zunickte. »Dieses Gefühl war so gewaltig, so alles in Frage stellend, dass es dafür keine Worte gibt.« Er lächelte entschuldigend und außer seiner Wahlschwester und Nashoba sah niemand, dass Seren bei diesen ehrlichen Worten ebenso errötete wie er. Dachte sie im Stillen an Tahatan, den jüngeren Minági, dem sie in wenigen Tagen erneut gegenübertreten musste? War nicht auch sie von ihren Gefühlen für den machtvollen Krieger einfach überrannt worden? Doch es blieb wenig Zeit, um über diesen Hauch Röte auf den Wangen der jungen Frau nachzusinnen, denn Atreus fuhr fort.
»Mag es für mich also auch unvorstellbar sein, so sei dennoch berichtet, dass es sich die ältere Schwester zur Aufgabe machte, das Herz des Ritters zu erlangen. Tagtäglich blieb sie nun in seiner Nähe, zeigte sich von ihrer besten Seite – sei es in ihrer haushälterischen Geschicklichkeit, sei es in ihrer Gewandtheit, ein Gespräch zu führen oder zuzuhören. Geschickt stellte sie die kleinen Schwächen ihrer jüngeren Schwester vor deren Werber zur Schau, ließ sie hier und da schlechter dastehen, als es nötig war. Doch der Ritter, der schon viel von der Welt und ihren Bewohnern gesehen hatte, ging bei jener Versuchung nicht fehl und hielt an seinem Werben für die Jüngere fest.«
Atreus zog ein Bein näher an den Körper und schlang seinen rechten Arm darum. Es fiel ihm schwer sich vorzustellen, wovon er jetzt erzählen musste, zu irrsinnig und unglaublich erschien, was die Legende berichtete.
»Der Frühling verging und machte einem Sommer voller Sonne und grünen Wiesen Platz. Immer deutlicher sah die ältere Schwester ihre Gunst bei dem Ritter sinken. Egal was sie auch ersann, um ihn für sich einzunehmen, er blieb ihrer jüngeren Schwester zugewandt.«
Erneut machte Atreus eine kleine Pause und überlegte, wie er das Folgende am spannendsten und glaubhaftesten schildern könne. Der Hass der Älteren war erschien ihm so allumfassend, dass er kaum vorstellbar war.
»Die Missgunst der Älteren fiel bald auch der jüngeren Schwester auf«, fuhr der Phoenix fort. »Lange sah diese sich das Treiben an, ohne wirklich zu verstehen, was ihre Schwester so gegen sie aufgebracht hatte. Dann, als jene erneut vor dem Ritter ihre Vorzüge zur Schau stellte und dabei gleichzeitig die Jüngere in ein schlechtes Licht zu rücken versuchte, stellte sie sie zur Rede.
Wort ergab Wort, Rede folgte Rede und schließlich gab die Ältere zu, dass sie den Ritter gern für sich gehabt hätte.
Ungläubig hörte die jüngere Schwester diese Offenbarung. Wie schrecklich war für sie die Vorstellung, derartig bei ihrer Schwester in Missgunst zu stehen! Als sie schließlich Worte für ihre Empfindungen fand, waren diese dennoch voller Mitgefühl für die andere.«
Atreus schüttelte den Kopf. Selbst er konnte sich nicht vorstellen, wie dieses Gespräch zwischen den beiden Frauen abgelaufen war. Auf der einen Seite die ältere Schwester voller dunkler Pläne, voller Hass und Neid, auf der anderen Seite die Jüngere, so wenig mit den schlechten Seiten des Lebens vertraut. Naiv erschien sie ihm und viel zu gutgläubig.
»Die ältere Schwester aber ging scheinbar auf die Rede der Jüngeren ein«, ließ er seine gespannt lauschenden Zuhörer wissen. »Unter Tränen entschuldigte sie sich dafür, ihr so übel mitgespielt zu haben. Nun aber, da sie erkannt habe, wie falsch ihr Tun gewesen sei, solle nichts mehr zwischen ihnen beiden stehen, kein Mann und auch keine Eifersucht!
Die Jüngere glaubte den Worten der älteren Schwester. Und so stimmte sie auch sofort zu, als diese sie einlud, als Zeichen ihrer wiedergefundenen Zuneigung auf den Klippen nach den Schwänen Ausschau zu halten, die sich oftmals unterhalb der Steilküste in der Brandung tummelten.
Einträchtig schritten die beiden Frauen der Küste zu und schon bald hatte die Jüngere ihren Zwist vergessen und sang leise vor sich hin. Die Ältere stimmte in das einfache Lied ein und so erreichten sie scheinbar freundschaftlich den äußeren Rand der Klippen, auf dem sie sich niederließen, um nach den Schwänen Ausschau zu halten.
Das hatten beide schon als Kind getan und es oft wiederholt, sodass sie sich furchtlos weit hinausbeugen konnten, um nach den schönen, eleganten Vögeln zu schauen, die auch an jenem Tag zahlreich in den schäumenden Wellen nach Fischen suchten. Aufmerksam beobachtete die jüngere Schwester ein Schwanenpärchen, das sich besonders weit dem Ufer mit seiner spritzenden Brandung genähert hatte. Weit hinaus beugte sie sich, wissend, dass sie geschickt genug war, sich auf dem hohen Felsen zu halten.
Doch sie war nicht allein auf die Klippen gekommen und trotz aller anderslautenden Beteuerungen saß der Hass der älteren Schwester tief. Hier war sie endlich – ihre Gelegenheit!«
Noch einmal hüllte sich Atreus für einen Augenblick in Schweigen und ließ die Spannung seiner Zuhörer auf den Höhepunkt gelangen. Mucksmäuschenstill saßen sie aufmerksam um ihn herum und nur Solinacea, die die Geschichte ebenfalls kannte, schenkte ihm ein kleines wissendes Lächeln.
»Die Klippen von Septentrio sind sehr hoch«, bestätigte sie. »Sehr hoch und steil, und tief unter ihnen brandet das Meer machtvoll gegen die Felsen. Die Gischt schäumt und oftmals steigt der Nebel dieses Naturschauspiels weit hinauf bis über die Klippen. Wehe dem Wanderer, der sich dann dorthin verirrt. Ein falscher Schritt und er stürzt gnadenlos hinab in die Tiefe.«
Atreus nickte zustimmend. »So ist es. Doch manchmal muss man nicht einmal einen falschen Schritt machen. Die jüngere Schwester jedenfalls bekam keine Zeit mehr, über das Folgende nachzudenken. Ein fester Stoß traf sie von hinten, ein Tritt, ein zweiter Hieb und sie stürzte hinunter in die Wellen.
Die Ältere sah ihr dabei zu, wie sie in den kalten salzigen Fluten des Meeres versank. Kein Held und keine noch so starke, helfende Hand würden sie je wieder ins Leben zurückholen können. Ein Sturz von den Klippen war tödlich – immer.
Zufrieden verfolgte die Täterin, wie auch der letzte Zipfel vom Kleid der von ihr in die Tiefe Gestoßenen versank. Bald schon war im Anbranden der Wellen und im Spiel der Gischt keine Spur mehr von dem, was geschehen war, zu erkennen. Nach und nach kehrten auch die Schwäne zurück, die beim Aufschlag des großen Körpers erschrocken davongeflattert waren. Nichts verriet mehr die Untat an jenem Ort.
Beschwingt und zufrieden kehrte die junge Frau in ihr Mutterhaus zurück und setzte sich dort ganz unschuldig ans Spinnrad. Nun stand nichts mehr zwischen dem edlen Ritter und ihr. Sie war sich sicher: Nun, da ihre Schwester aus dem Weg war, würde sich der Mann ganz und gar ihr zuwenden. Was sollte er auch anderes tun?«
Atreus sah die Betroffenheit in den Gesichtern seiner Zuhörer. Nein, es war keine schöne Mythe, die er heute vortragen sollte. Doch die Geschichte der Todesharfe hatte trotz allem ihren ganz eigenen Charme und ihre Lehre, sodass er trotz des ernsten Inhalts gelassen fortfuhr.
»Ihr alle wisst, dass man gemeinhin immer von drei Schicksalsgöttinnen spricht, wenn man über die Nornen berichtet.«
Nashoba nickte und auch Seren ließ durch ein Senken des Kopfes sehen, wie sie zustimmte.
»Urd heißt die eine. Die anderen beiden, so sagt man, tragen die Namen Skuld und Werdani .
An diesem Tag erschienen sie an der Küste von Septentrio, am Fuße der Klippen, direkt aus den Tiefen der ufernahen Brandung. Werdani, so erzählt man sich, ging mit ernstem, verschlossenen Blick voran. Ihr folgte Urd, die auf ihren Armen den leblosen, zerschlagenen Körper der jüngeren Schwester trug. Den Schluss bildete Skuld und diese murmelte Flüche und hielt neun magische Stäbe in den Händen. Sie schritten weit aus, bis sie an einen Platz kamen, an dem der Sand die Kippen ablöste. Hier betteten sie den eiskalten Körper der schönen blonden Frau in den hellen Sand. Lange Zeit standen sie reglos um den Leichnam versammelt und berieten sich. Dann aber hob Skuld ihre Hände über den Kopf, teilte die Stäbe in zwei Bündel von drei und sechs Reisern und schickte magische Gesänge in den Himmel.
Nebel erhob sich auf dem Meer und umschloss die drei magischen Schwestern wie eine Wand. Urd fiel in den Gesang ein und zum Schluss auch Werdani. Gemeinsam erschufen sie aus dem seelenlosen Körper der Toten etwas völlig Neues, Ganzes, Machtvolles – eine Harfe. Die Saiten waren kunstvoll aus dem langen blonden Haar der jüngeren Schwester geflochten, Haut und Knochen bildeten Säule und Körper und aus den Knöchelchen der Wirbelsäule waren kunstvolle Stimmstifte entstanden.«
Atreus warf einen Blick auf Solinaceas Harfe, dem mancher der Zuhörer folgte.
»Man sagt, dass die Inseln von Dakoros nie wieder eine Harfe von solch großer Schönheit und klanglicher Fülle gesehen haben. Die Macht der drei Schicksalgöttinnen, verwoben mit der Schönheit und Unschuld der getöteten jungen Frau habe ein Instrument hervorgebracht, das mehr als alle anderen vor und nach ihm vollendet gewesen sei.
Doch die Nornen taten noch mehr. Mit den sich hebenden Nebeln hauchten sie der Harfe den Geist der Verstorbenen ein, gaben den Saiten ein Abbild ihres Zorns, fügten in die Säule das Echo ihres Schmerzes und woben aus dem Leid und dem zu frühen Gang in die Anderwelt eine Magie des Todes.
Dies alles taten sie und dann ließen sie die Harfe in die Lüfte steigen und davonschweben, bis sie sich nach einiger Zeit vor jenem Haus niederließ, in dem die beiden Schwestern mit ihrer Mutter einträchtig gelebt hatten.
Dort waren die Mutter und auch der Ritter bereits in Sorge. Nur die ältere Schwester gab vor, ganz ruhig und unbeschwert zu sein.
Als jedoch wie von Geisterhand eine großartige, matt in der Sonne glänzende Harfe vor der Tür des Häuschens erschien, sprangen alle drei auf, um das Wunder zu betrachten.
›Schaut doch diese anmutige Form!‹, rief die Mutter. ›Diese Harfe hat beinahe die gleiche aufrechte Haltung wie meine jüngere Tochter.‹
›Und die Saiten glänzen wie ihr goldenes Haar‹, stimmte der Ritter zu.
Die ältere Schwester aber holte ihren Hocker hinter dem Spinnrad hervor und nahm an der Harfe Platz. ›Lasst hören, ob sie auch einen solch zauberhaften Klang hat wie die Stimme meiner Schwester‹, säuselte sie ungerührt und schlug einen ersten Takt an.
Ein Zittern lief durch die Harfe und ein feiner Nebel begann sich zu Füßen der Harfenistin auszubreiten. Ton für Ton entlockte die Mörderin den sterblichen Überresten ihrer im Meer versunkenen Schwester, nicht wissend, dass es deren Haar war, das den Klang der Saiten hervorbrachte, dass es ihre Haut und Knochen waren, die als Harfenkörper an ihrer Schulter lehnten. Sie sah nicht, wie ihre Mutter und der Ritter entsetzt zurückwichen, als der Nebel sich bis zu ihren Knien erhob.
Immer weiter musste die ältere Schwester spielen, der Harfe mehr und mehr Töne und wundervolle klagende Melodien entlocken. Schon taten ihr die Finger weh und sie wollte dem Spiel ein Ende machen, als der Nebel auch auf ihren Körper und die Arme übergriff.
Wie von Geisterhand geführt, fuhren ihre Finger wieder über die Saiten. Doch nun begann sich auch die Harfe zu verändern. Anstelle des mattglänzenden Materials, das sie für poliertes Holz gehalten hatte, lehnte nun ein langer Beinknochen an ihrer Schulter, nur dürftig mit Hautfetzen überzogen. Die Stimmstifte wurden zu Wirbelknöchelchen, die Säule der Harfe zu einem Knochen-Haut-Geflecht, dem einzelne Blutstropfen anhafteten.
Und obwohl die Harfenspielerin nun voller Todesangst gegen die Magie des Instruments ankämpfte, wurde sie weiter und weiter zum tödlichen Spiel von der Harfe angezogen. Die Saiten wurden zu blonden Büscheln Frauenhaar und nun erkannten auch die entsetzten Zuhörer, Mutter und Geliebter, welch schrecklichen Fund sie gemacht hatten.
Mehr und mehr nahm die Harfe die Gestalt der an den Klippen zerschellten jüngeren Schwester an, anklagend reckte sich eine wachsweiße, eiskalte Hand aus der Säule, die Fingernägel bis aufs Fleisch abgerissen in dem bitteren Versuch, dem Meer zu entkommen.
Doch auch über die Finger der Harfenspielerin rann inzwischen Blut und noch immer konnte sich die ältere Schwester der Magie der Nornen nicht entziehen. Skuld zog die Fäden, Urd warf die Stäbe und als die Harfe zerbarst und die losen, wahllos durcheinander geworfenen Knochen der jüngeren Schwester ins Gras fielen, zwangen sie deren Mörderin durch ihrer Magie, auf diesen Knochen zu tanzen. Immer weiter erklang die schaurig schöne Harfenmusik der Schicksalsgöttinnen und selbst, als die tanzende Frau auf den sterblichen Überresten ihrer Schwester zusammenbrach, zuckten deren Arme und Beine weiter hilflos im magischen Tanz.«
Atreus brach ab. Er sah sehr wohl, dass seine Zuhörer angewidert und doch gebannt seiner Geschichte lauschten. Genauso war es ihm ergangen, als er zum ersten Mal die Legende der Todesharfe gehört hatte. Damals endete die Geschichte mit dem Tod der älteren Schwester. Heute aber würde es anders sein. Man musste Legenden nicht zwingend ganz unverändert weitergeben. Solinacea hatte ihm eine Idee geschenkt, die er nicht einfach vergessen konnte.
›Viel eher möchte ich glauben, dass die Harfe vor dem Tod ihrer Schwester ein Einsehen hatte …‹, hatte sie zu ihm vor Beginn der Erzählung gesagt. Hieran wollte er sich halten, wenn er die Geschichte nun zu Ende brachte. Sie sollte nicht des Nachts von bösen Träumen heimgesucht werden, weil seine Legende sie beschäftigte, noch sollten es andere in ihrer gemeinsamen Runde.
Hoffnung war ein starker Halt bei den Art-Arianern und Hoffnung sollte es auch in dieser Geschichte geben, Überlieferung hin oder her.
»Es wurde schon langsam Nacht, als das Zucken und Beben der älteren Schwester, die noch immer auf den Knochen ihres Opfers lag, geringer und schwächer wurde. Bald würde sie ganz erschöpft sein und sterben. Das wussten die Nornen und beobachteten genau.
Es war Werdani, die schließlich das Wort ergriff. Entschlossen zog sie aus den Falten ihres langen Rockes einen Spinnrocken, zog einen Faden aus der Wolle, zwirbelte ihn und hielt den Faden des Schicksals gegen die untergehende Sonne. ›Es ist genug!‹, rief sie entschlossen.
Das Zittern und Beben in den Gliedmaßen der älteren Schwester ließ nach und endlich konnte sie sich von den Gebeinen ihrer verstorbenen Schwester lösen. Einen Moment lang rollte sie sich hilflos auf dem Boden vor dem kleinen Haus zusammen. Dann aber nahm sie ihre letzten Kräfte zusammen und rannte wie von Sinnen in die Nacht und den Nebel hinaus. Die Mutter und auch der Ritter waren viel zu entsetzt von dem Erlebten, als dass sie der Flüchtenden hätten folgen können. Man hat sie danach nie wieder gesehen«, schloss Atreus.
»Doch in lauen Vollmondnächten, dann, wenn der Mond am höchsten steht, so berichten es sich die Bewohner von Septentrio, tritt eine bis zum Boden verschleierte Gestalt an das uralte Grab der jüngeren Schwester. Sie steht dort, bis der Mond hinter dem Horizont des Meeres versinkt und weint. Dann aber, wenn das erste Licht der Sonne über den Horizont steigt, verwandelt sich ihr dunkler Schleier in Nebel. Und der frische Wind des neuen Tages trägt ihn gemeinsam mit dem Duft der Gischt davon.«
Atreus rekelte seine steifen Beine ein wenig zurecht und schwieg.
»Ein schönes Ende«, seufzte Solinacea leise. »Obwohl ich es anders in Erinnerung hatte.«
Der Phoenix lachte. »Das kann schon sein. Doch das heutige Ende mag genauso möglich sein wie jedes andere auch. Es war dein Wunsch, dass sich alles zum Guten füge. Und wer bin ich, dass ich dem Wunsch meiner Wahlschwester nicht entspräche?«
Nun lachten sie alle und um das Feuer entspann sich bald eine rege Diskussion, wie es wohl mit der neidischen, hasserfüllten älteren Schwester weitergegangen sein könnte. Nashoba aber, der sah, wie nachdenklich seine Gefährtin geworden war, schloss Solinacea fest in seine Arme.
»Man erzählt sich bei den Dämonenkriegern, dass die Nornen und die Walküren auf Nebelpferden über die Erde reiten, um die tapferen Krieger auf ihrem Weg in die Anderwelt zu begleiten«, flüsterte er ihr zu. »So hat es mir jedenfalls Darius erzählt. Vielleicht kamen sie ja auch, um die ältere Schwester zu läutern und sicher ins Jenseits zu begleiten. «
Solinacea lächelte ihn glücklich an. Eine solch friedliche Zeit mit ihrem Minági und allen ihren Freunden zu verbringen war ein unsagbares Glück, das sie nur genießen konnte. Was galt da schon eine alte Legende? Und doch …
»Vielleicht war es so. Ich hoffe, auch sie hat ihren Frieden gefunden«, flüsterte die Heilerin. Über das inzwischen fast niedergebrannte Feuer hinweg betrachtete sie die junge Sirene Seren, die sich leise mit Atreus unterhielt. Auch sie würde ihr Glück irgendwann finden. Dafür würden die Nornen schon sorgen.
Und Skuld? Nun, Skuld webt beständig den Faden der Zukunft mit klarem Blick, sieht stets nur nach vorne und niemals zurück.
ENDE
Darfs ein bisschen mehr sein?
Seit dem 04.11.2013 ist mein Roman "Die Magier von Art -Arien - Nashobas Quest" als Ebook (84000 Wörter) für 2,49€ erhältlich. Weitere 2 Bände mit den Titeln "Dämonenkrieger" und "Hieros Gamos" findet ihr ebenfalls bei einschlägigen Händlern.
Ihr findet die Geschichte zum Beispiel direkt bei Amazon:
oder über Bookrix:
http://www.bookrix.de/_ebook-sophie-andre-die-magier-von-art-arien-1/
Als Taschenbuch könnt ihr "Nashobas Quest" unter der ISBN 9783741845772 finden. Die Folgebände sind in Arbeit.
Die Leseprobe zum Buch könnt ihr kostenfrei hier bei FF entdecken - schaut mal in meine Veröffentlichungen ;-)
Übrigens: Die Landkarte zum Roman findet ihr großformatig auf meiner HP:
http://www.sophie-andrae.de/intro.html
Viel Spaß beim Schmökern!
Sophie