Kapitel 15
Die Krone aus Licht
Samstag, früher Nachmittag. Wie alle anderen auch, hetzte ich durch die Flure der Villa von meinem Zimmer ins Bad und wieder zurück. Wie bei einem chaotischen Staffellauf. Sobald eins der Badezimmer frei war, konnte man gar nicht so schnell gucken, wie sich ein anderer darin verbarrikadierte.
In meinem Kopf waren keine Bilder oder Gedanken mehr. Ich funktionierte nur noch, wenn auch mit kleinen Macken. Gott sei es gedankt, dass wir uns nur für den Weg von der Villa ins große Studio herrichten mussten, da sich danach die Stylisten ans Werk machen würden. Doch selbst diese wenigen Minuten in der Öffentlichkeit nahmen die meisten so ernst, dass sie ein Make-up auflegten, welches dem der Stylisten Konkurrenz hätte machen können.
Ich hatte leider ganz andere Probleme, und es war mir auch völlig egal, dass ich komplett ungeschminkt war. Als wir diese Woche die Stylistin Sandra kennenlernten, gab sie mir – nachdem ich ihr von meiner Sorge wegen der Highheels erzählt hatte – vertrauensselig das teure Designerpaar mit, welches zum heutigen Auftritt für mich bestimmt war, sodass ich schon hatte üben können, mich darin zu bewegen. Das war auch gar kein Problem mehr, nur dass ich die bescheuerten Dinger nicht wiederfand und ganz sicher fiele ich in eine komaähnliche Ohnmacht, wenn ich den Preis erfuhr, den ich deshalb ersetzen müsste.
„Fay, sind das deine?“, fragte Sandro und kam mir mit meinen Schuhen entgegen. Ich hätte beinahe vor Freude geweint. „Dich schickt der Himmel! Ich habe sie überall gesucht.“
„Sie lagen auf der Treppe. Victoria hätte sich fast den Hals gebrochen, als sie darüber gestolpert ist.“ Ich verschluckte mich an meinem eigenen Lachen, sodass er grinste. „Oder sollte das so eine Aschenputtelnummer sein, und wir leben von jetzt an glücklich bis ans Ende unserer Tage?“
Mir fiel alles aus dem Gesicht. Richtige Frage, falscher Typ. Was dachte der sich denn? Er war drei Jahre jünger als ich und überhaupt nicht mein Typ, auch wenn die Mädels vor den Bildschirmen sicher auf ihn flogen. Ich schickte ein Dankesgebet gen Himmel, als Nici mich aus der Situation erlöste, indem sie in dieser Sekunde von der Eingangshalle zu uns herauf brüllte: „Könntet ihr eure Hintern mal in Bewegung setzen oder braucht ihr eine Extraeinladung? Die Busse sind da!“
Und an der allgemeinen Anspannung war nicht zu übersehen, dass wir nichts lieber wollten, als endlich im Studio zu sein. Keiner hatte mehr Nerven, weiter von Securtiy-Männern herumgeschubst zu werden, geschweige denn kreischenden Teenies Autogramme zu geben, auch wenn wir auf sie zählen mussten. Wir waren nur noch egoistische Nervenbündel und keiner hatte etwas anderes im Kopf als seinen eigenen Auftritt.
„Damien!“, sagte ich gereizt und drehte mich in meinem Sitz zu ihm um. „Du bist nicht der Einzige, der aufgeregt ist, also halte bitte endlich die Füße still!“
„Das geht auch freundlicher!“, sagte er genervt.
Es war das erste Mal, dass wir uns so angingen und es tat mir schon leid, während es passierte, dennoch drehte ich mich nur schweigend wieder nach vorn. Und fühlte mich noch schrecklicher als zuvor. Ich war einfach stinksauer. Wut half immer gegen die Angst. Ich war wütend auf Alina und Sascha, die zusammen im anderen Bus saßen und sich sicher prächtig unterhielten, auf Nicolás und Nici mit ihren Zickereien, auf Damien mit seinem Gezappel, auf den Fahrer, der augenscheinlich nicht aus dem Knick kam und am allermeisten auf mich selbst, weil ich ein einziges Nervenbündel war und die anderen sicher genauso nervte wie sie mich.
Endlich erreichten wir das Studio. Da wir durch die Proben diese Woche schon mehrmals dort gewesen waren, nahm ich mir heute nicht die Zeit, es zu bestaunen und alles, was ich tat war, den anderen zu folgen, um sie ja nicht aus dem Auge zu verlieren, da ich mich sonst sicher hoffnungslos in den ewig gleichaussehenden Gängen verlaufen hätte.
Während die anderen Mädels sich sofort ihren Friseusen übergaben und die Jungs sich noch einmal an die Vocalcoaches wandten, beanspruchte ich sofort die Stylistin für mich, die lachte als sie mich – ihre Schuhe in den Händen – auf sich zuhasten sah. „Fay, du sollst sie doch tragen. An den Füßen, versteht sich.“
„Es klappt einwandfrei.“, versprach ich atemlos. „Danke für die Leihgabe. Ich werde dich nicht enttäuschen, aber ich würde schon gern mein Outfit mit dir besprechen, da ich fürchte, es wird etwas aufwendiger. Ich hoffe, du kannst das machen.“
Ich wusste nicht, wie gerne sie Extrawünsche gleich bei der ersten Show hatte, doch sie verzog keine Miene, als sie mich mit sich vor einen der großen Spiegel in dem Zimmer zerrte, wo ihre Assistentinnen wie Bienen im Bienenstock rotierten.
Sandra aber war die Ruhe selbst, als sie mir durch den Spiegel einen fragenden Blick zuwarf. Jetzt hieß es für mich, präzise und klar zu sagen, was ich wollte. Nicht gerade meine leichteste Übung. „Ich möchte heute Abend einen ganz besonderen Dank an Sherry aussprechen, denn obwohl sie für sich selbst gegangen ist, wäre ich doch nicht hier, wenn sie nicht den Platz für mich geräumt hätte. Ich möchte, dass die Leute heute Abend in Gedanken bei ihr sind, und das nicht vergessen, während ich bei ihnen auf der Bühne stehe. Kannst du mich so aussehen lassen wie sie? Ich singe nämlich das Lied, welches sie sich für diesen Abend ausgesucht hätte. Ich weiß auch, was sie anziehen wollte.“
„Das nenne ich mal Freundschaft, Fay. Ich nehme an, dass dir klar ist, wie viel deines eigenen Lichtes du ihr dann heute Abend schenkst. Die Aufmerksamkeit wird nicht allein dir gehören, wenn du singst.“
„Das ist genau, was ich möchte.“, sagte ich bekräftigend.
Sandra nickte. „Ich verstehe. Dann beginnen wir am besten mit den Locken, was?“
Sie nahm alle Hilfe ihrer Assistentinnen in Anspruch, während sie eine Stunde lang Fay in Sherry verwandelte. Das Make-up war natürlich, wie Sherry es zu tragen pflegte. Das erste Mal im Leben fielen mir große weiche Locken um das Gesicht und den Rücken hinab.
„Weißt du zufällig, wer für die Bilder auf der großen Leinwand verantwortlich ist?“, fragte ich über den lautstark kreischenden Fön hinweg.
Sandra musterte mich interessiert. „Was hast du vor?“
Ich holte mein Handy heraus und zeigte ihr ein Bild von Sherry und mir. „Ich hätte das gern hinter mir, während ich singe. Oder ist das zu viel des Guten?“
„Es ist perfekt für deine Message.“, sagte Sandra begeistert. „Schick es mir rüber, ich rede dann gleich mit Oli und sehe, was sich machen lässt. Er hat es nicht besonders gern, wenn die Kandidaten selbst mit Extrawünschen kommen.“
„Ich danke dir.“
Eine halbe Stunde später fühlte ich mich wirklich wie ein anderer Mensch und war erleichtert, dass meine Verwandlung bereits ihr Ende fand, als Victoria und Alina eine Stunde später den Raum betraten, um sich ebenfalls herrichten zu lassen. So stand ich ihnen nicht im Weg und sie hatten keine Zeit, mich um große Erklärungen für dieses Outfit zu bitten. Was auch nicht nötig war, wie ich fand, es war offensichtlich, wen ich darstellen sollte. Das kleine Schwarze war etwas ungewohnt Freizügiges für mich, obwohl es mir bis über die Knie reichte, doch die Riemchensandaletten mit den hohen Absätzen hinterließen eine unmissverständlich verführerische Message. Aber so war Sherry – unauffällig sexy.
„Du bist eine Magierin.“, sagte ich dankbar zu Sandra, die sich schon an Alina wandte, deren Mund weit offen stand, während sie mich ungläubig anstarrte. „Es war mir ein Vergnügen, aber noch mehr freue ich mich darauf, mal die wahre Fay ans Licht zu bringen.“
Dieser Satz bedeutete unmissverständlich, dass sie daran glaubte, ich käme heute weiter, was mich gleichermaßen rührte und ermutige. Seltsamerweise war die Aufregung wie weggeblasen, seit ich Sherry war. Ob es wirklich richtig war, sich hinter ihr zu verstecken? Denn trotz meiner gutgemeinten Gründe, kamen mir da plötzlich Zweifel, was der Rest der Welt davon halten mochte. Obwohl mir der Rest der Welt egal sein konnte, solange Sherry die Botschaft verstand. Manchmal reicht ein Danke eben einfach nicht aus.
Diesen Gedanken wiederholte ich innerlich verwundert wie ein Mantra, als ich am Abend zusammen mit den anderen Kandidaten in der Backstage-Lounge saß und darauf wartete, dass die Sendung begann und wir live zugeschaltet wurden. Keiner sagte ein Wort, alle starrten nur wie gebannt auf die Kamera, während der Moderator Marcel Lehmann munter mit uns plauderte und dafür nur eisiges Schweigen erntete, bis er es schließlich aufgab.
Niemand mehr hatte zwischen den letzten Proben für die Show und dem Styling die Zeit gefunden, groß miteinander zu reden, sodass ich immer noch nicht wusste, wie mein Outfit bei den anderen Kandidaten ankam. Doch ich bemerkte, dass vor allem die Männer mir unverhohlen bewundernde Blicke zuwarfen. Sascha saß hinter mir. Das Kribbeln in meinem Nacken verriet mir, dass er mich beständig musterte. Ich musste einen angenehmen Schauder unterdrücken, denn in dieser Sekunde begann für uns alle die erste Liveshow. Als das rote Licht der Kamera vor uns aufleuchtete, beschwor Marcel uns nochmals, einen entspannten Eindruck zu machen. Ha ha!
Über einen kleinen Bildschirm konnten wir die riesige Bühne sehen und die Massen, die davor auf uns warteten. Soeben betrat die Jury – angeführt von Daniela Börner – unter lautem Getöse den Raum.
„Hallo Deutschland!“, schrie Tatjana in die Kamera. „Der Countdown hat begonnen. Zehn Kandidaten, neun Liveshows und Sie dürfen online entscheiden, wer der Sieger sein wird!“
„Jetzt.“, gab uns ein Crew-Mitglied das Zeichen, dass es an der Zeit war, in der vorgeschriebenen Reihenfolge auf die Bühne heraus zu gehen, während Tatjana lautstark unsere Namen verkündete.
„Sie haben sich gegen Tausende durchgesetzt und jetzt sind sie her!“, ertönte wieder ihre spannungsgeladene Stimme, während wir vor dem großen Tor warteten, dass es sich öffnete. Als es soweit war, strömte das Licht wie Wasser durch es hindurch und wir schlossen für einen Moment geblendet die Augen, dann empfing uns tosender Applaus. Ich tauchte wie selbstverständlich in dieses Meer ein, als mein Name ertönte. „Sie war kurz weg, doch sie ist wieder da! Fay!“
Etwas, das mich mein Leben lang begleitet hatte, glitt von mir ab, als ich jetzt die Bühne betrat und wurde durch etwas anderes ersetzt, was ich nicht benennen konnte. Es war, als beträte ich ein fremdes Universum. Ich konnte Schilder erkennen, auf denen mein Name stand. Fast alle Blicke waren in diesen Sekunden nur auf mich gerichtet. Es gab so viel zu fühlen, dass mein Herz aufgeregt von einem Gefühl ins Nächste glitt. Über dem Bildschirm hinter mir glitt in riesiger Flammenschrift mein Name. Ich verbeugte mich voller Demut, winkte unbestimmt ins Publikum und ging benommen zurück in die Lounge. Das erste Mal spürte ich wirklich, dass mein Traum dabei war, in Erfüllung zu gehen.
Ich setzte mich ohne jegliche Angst sofort neben Sascha. Jetzt war alles so leicht. Ich bestand nur noch aus purem Adrenalin. Die Bühne hatte mir den ultimativen Kick gegeben. Saschas Worte zeigten mir, dass es nicht nur mir allein so erging. „Woah, war das hammer, oder?“
„Du hast da richtig hingepasst.“, sagte ich ehrlich und strahlte.
„Wow, was für ein Kompliment.“ Er freute sich ehrlich darüber. „Danke! Und du aber auch. Als hätte das Licht da draußen deine Schutzmauer durchbrochen. Du bist richtig du selbst.“
Komisch, das von jemandem zu hören, der einen kaum kannte - aber ich wusste genau, was er meinte. Ich hatte aufgehört, jemand anders und perfekt sein zu wollen und mich in mein Leben gefügt – und das in gerade einmal dreißig Sekunden. Was stand mir dann noch alles bevor?
Nun wurde Marc von Marcel anmoderiert, der sich nun bei Tatjana auf der Bühne befand. „Er ist der Mann mit dem meisten Gefühl. Hier ist für Sie Marc Kluge!“
Nun wurden auf dem Bildschirm die Bilder der Interviews eingeblendet, die wir gestern für eben diesen Anlass noch gegeben hatten. Es wirkte natürlich, im Wohnzimmer unserer Villa, mit einem knisternden Kaminfeuer in seinem Rücken und ich konnte es kaum noch erwarten, mein eigenes Interview zu sehen.
Marc beantwortete souverän und selbstbewusst alle Fragen, ehe seine Familie und Freunde zum Zug kamen. Ich musste mir ein Kichern unterdrücken, als ich daran dachte, wie aufgeregt Jason und Mutti gewesen waren, vor der Kamera etwas sagen zu müssen, während Lilly und Peter dies so natürlich getan hatten als sei es das Einfachste der Welt. Obwohl Lilly es sichtlich genossen hatte, hatte sie nicht einmal ansatzweise versucht, mir die Aufmerksamkeit zu stehlen, weshalb ich erneut über mich selbst und meine Denkweise ins Grübeln gekommen war.
Die Minuten flogen dahin, während immer mehr Kandidaten die Lounge verließen, um auf der Bühne ihr Glück zu machen, um danach komplett verwandelt wieder zu uns Übrigen zurückzukommen.
Nach Nicolás Believe von Sasha wurde die erste Werbung eingeblendet. Danach wurde es ernst für mich. Mein Mund war staubtrocken, aber wo blieben die Angst und der Druck? Wäre es nicht normal gewesen, das jetzt zu fühlen? Noch ehe ich mich an diese neue Furchtlosigkeit gewöhnen konnte, ging es auch schon weiter. Es war, als würde man von einem fahrenden Zug geschubst.
„Hier sind wir zurück bei DerTraum und die nächste junge Frau ist eine echte Kämpfernatur. Durch ein unglückliches Missgeschick in der letzten Sendung wäre beinahe alles für sie aus gewesen, aber heute Abend ist sie wieder hier. Ich bin stolz, sie anmoderieren zu dürfen. Hier ist Fay Hieler!“
Ich hörte meine eigene Stimme, während ich noch hinter dem Tor wartete, da soeben mein gestriges Interview eingeblendet wurde. „Früher habe ich viel nachgedacht, bis ich eine Entscheidung getroffen habe, aber irgendwann habe ich erkannt, dass sich das echte Leben nicht planen lässt. Manchmal muss man den Sprung ins kalte Wasser einfach wagen und sehen, wie weit man kommt. Und DerTraum war mein Sprung. Ich habe schnell gemerkt, dass man auch mal auf sein Gefühl hören muss, anstatt immer alles mit dem Kopf entscheiden zu wollen, um ja keine Fehler zu machen. Fehler gehören zum Leben dazu und manchmal verzeiht es sie sogar. Dafür bin ich ja das beste Beispiel. Ich war immer unzufrieden mit meinem Leben, weil ich mich nie normal gefühlt habe und jetzt bin ich hier. Das habe ich Sherry zu verdanken, deshalb widme ich ihr diesen aller ersten Auftritt auf der ganz großen Bühne.“
„Fay hat schon immer alles allein durchgezogen. Wenn sie kein Geld für CDs hatte, dann hat sie sich einen Job besorgt.“, sagte Peter.
Dann erklang Jasons nervöse Stimme. „Ich bin so stolz auf meine Schwester, weil ich weiß, wie viel sie kann und wie gut ihr diese neue Erfahrung tut. Keine hat es mehr verdient als sie. Die Entscheidung der Jury, sie wieder teilnehmen zu lassen, war goldrichtig.“
„Ich denke, dass sie es weit schaffen kann. Sie hatte schon als Kind einen sehr starken Willen. Im Laufe der Jahre hat sie ihn vergessen, aber ich hoffe, sie entdeckt ihn wieder.“ Ach Mutti!
„Ich habe immer gemerkt, dass sie anders ist und erst später erkannt, dass sie etwas Besonderes ist. Sie hatte es nie leicht in ihrem Leben, weil sie kein Mensch ist, der es sich leicht macht.“
Auch Lillys Worte brachten mich zum Schlucken. Ich verbot mir, weiter darüber nachzudenken. Als sich das Tor langsam öffnete, erklangen meine letzten Worte: „Als ich rausgeflogen bin, ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Aber irgendwie hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass es noch nicht vorbei sein kann; dass es da noch mehr für mich zu holen gibt. Und heute werde ich das beweisen.“
Ich schritt zum Mikro. Als die drei Anstimmungsschläge des Drummers verklangen, setzten leise Keyboardtöne ein. Ich drehte mich kurz um und sah das riesige Bild von Sherry und mir. Wir lachten ausgelassen in die Kamera. Ich lächelte, als ich begann einen Song über eine ganz besondere Freundschaft zu singen. Es gab keine Angst auf dieser Bühne. Es gab nur Wärme und Licht. Es war ein weicher Aufprall.
Der letzte Refrain explodierte in mir wie ein Feuerwerk, dann brach der Applaus über mich herein und ließ mir keinen Zweifel daran, dass ich einen gelungenen Auftritt hinter mir hatte.
Daniela war die Erste und ihre Miene blieb unverändert ausdruckslos, sodass ich automatisch die Luft anhielt. „Na ja, zu so einem Auftritt habe ich nicht wirklich viel zu sagen. Unsere Wahl auf diejenige, die Sherrys Platz einnehmen sollte, war wirklich goldrichtig, da muss ich deinem Bruder Recht geben. Das war einsame Spitze, Fay und ich glaube, jeder hier und vor den Bildschirmen wird dir deinen Patzer schnell verzeihen, wenn sie ihn nicht sogar schon vergessen haben.“
Alles fiel von mir ab. Ich atmete erleichtert auf. „Danke dir! Das tut wirklich gut zu hören!“
„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Erst einmal ein ganz großes Lob und Kompliment an dich, dass du die Idee hattest, uns Sherry heute noch einmal auf die Bühne zu bringen. Ich bin sicher, das bedeutet ihr sehr viel. Und großes Lob an deine Stylistin für die Umsetzung!“, sagte Stefanie begeistert und blätterte in ihren Notizen. „Der Song hat zu diesem Auftritt und dem Bild im Hintergrund gepasst wie Faust aufs Auge. Mir kamen fast die Tränen über so eine rührende Freundschaft. Eigentlich seid ihr alle Konkurrenten, aber das merkt man bei euch gar nicht.“
„Ganz, ganz großes Kino!“, fuhr Holger fort. „Du hast hier eine Show abgeliefert, wie ich sie mir immer von dir gewünscht habe, auch wenn ich mich darauf freue, das nächste Mal mehr Fay zu sehen. Trotzdem finde ich deine Idee ebenfalls rührend. Du bist eben ein Mensch, der sehr dankbar ist im Leben und nichts als selbstverständlich hinnimmt. Das merkt man auch jedes Mal, wenn du singst. Du hast wirklich alle Vorraussetzungen mitgebracht, es hier ganz weit zu schaffen.“
„Woah, danke!“, sagte ich atemlos, ehe Tatjana an meiner Seite erschien und mir strahlend über den Rücken streichelte und murmelte: „Gut gemacht!“
Dann wandte sie sich wieder mit einer völlig anderen, aufgekratzten Reporterstimme an die Kameras: „Wirklich bezaubernd! Die Abstimmung ist eröffnet, geben Sie Fay fleißig ihre Klicks, wenn Sie wollen, dass sie weiter kommt!“
Als ich in die Lounge zurückkehrte – nachdem mir noch mal Make-up und Frisur gerichtet worden waren – bekam ich von Damiens Auftritt nur noch das Ende mit, was mich traurig stimmte. Ich hatte das Gefühl, dass wir die ganze Woche schon total aneinander vorbei gelebt hatten. Wieder wurde mir bewusst, dass es für uns alle jederzeit vorbei sein könnte. Doch seine Kritik war ausnahmslos gut. Ich schwor mir, morgen die Wiederholung der Show im Fernsehen anzusehen.
Dann begann für mich der wohl schwierigste Teil des Abends – das Warten. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, ängstlich oder nervös zu sein. Vielleicht, weil ich mir meiner Sache heute so sicher war wie dem Amen in der Kirche. Vielleicht aber auch, weil Sascha sich soeben sein Urteil abholte.
„Das war für mich bis jetzt der Höhepunkt des Abends. Du hast bewiesen, dass du nicht nur ein echter Rockstar bist, sondern auch ein sehr gefühlvoller Mensch. Was das Gefühl in deinem Song betrifft, hast du Fay große Konkurrenz gemacht. So etwas wie euch will ich hier einfach sehen!“, begann Holger begeistert.
Stefanie stimmte mit ein. „Ich muss jetzt auch einen Vergleich mit Fay anführen. Ihr beide habt eine unglaubliche Bühnenpräsenz. Vielleicht gerade weil ihr so sehr ihr selbst seid. Meiner Meinung nach werdet ihr heute keine Probleme bekommen.“
Mein Herz schlug voller Stolz in meiner Kehle, sodass ich Danielas Kritik kaum mehr wahrnehmen konnte. Sie verglichen uns miteinander! Das war doch das Gesprächsthema, nach dem ich immer gesucht hatte! Wie schwer konnte es sein, mit Sascha locker über diese seltsam vergleichende Kritik zu reden?
Damien:
Immer, wenn ich dachte, doch noch eine Chance bei Fay zu haben, passierten solche Dinge! Wer hätte gedacht, dass gerade die Jury, die Fay wieder ins Rennen geholt hatte uns jetzt den Gnadenstoß verlieh? Mir drehte sich der Magen um, als sie ihren Auftritt mit dem von Sascha verglichen und ich konnte den Glanz in ihren Augen dabei sehen.
Ob sie überhaupt wahrgenommen hatte, dass sie den ganzen Abend nicht nur neben Sascha, sondern auch neben mir gesessen hatte? Wohl kaum. Wahrscheinlich war sie tief in ihrem Inneren doch wütend wegen des Kusses und ich schwor mir, ihr nie wieder so nahe zu kommen, ohne dass sie vorher ausdrücklich zeigte, dass sie das wollte. Was wohl nicht passieren würde.
Ich hatte mein ganzes Herzblut in den Song gelegt, doch sie begriff nicht einmal ansatzweise, dass jeder Ton nur ihr gegolten hatte. Die gute Kritik der Jury war einfach an mir abgeprallt – so wie mein Song an Fay abgeprallt war.
Jetzt saß ich in meine trüben Gedanken vertieft auf dem Flur, abseits des großen Trubels. Alle waren aufgekratzt und warteten auf die Entscheidung, doch ich konnte ihre Begeisterung nicht teilen. Ich verfluchte Fay dafür, dass sie mir die Liebe zur Musik genommen hatte und sie für sich allein beanspruchte, ohne auch nur Kenntnis davon zu nehmen.
In diesem Moment tauchte sie ebenfalls im Gang auf. Ich bemerkte, wie sie zögernd ihre Schritte verlangsamte, als sie mich sah. Ich tat so, als hätte ich sie nicht wahrgenommen und sah weiterhin auf meine Füße.
Sie kam nicht zu mir, sondern ging durch den Notausgang in die kalte Nacht hinaus. Ich runzelte die Stirn und wollte ihr gerade folgen, da tauchte Sascha auf. Er grüßte mich grinsend und folgte ihr nach draußen. Am liebsten wäre ich so lange davon gerannt, bis meine Beine mich nicht mehr getragen hätten.
Fay:
„Na, Partnerin?“
Ich zuckte zusammen als ich bemerkte, dass Sascha neben mir erschienen war. Ich wusste kaum, was ich sagen sollte vor Glück. War er mir tatsächlich gefolgt, um mit mir sprechen zu können? Oder war er auch rein zufällig hier, um die Nacht und den Anblick der Bäume hinter dem Gebäude zu genießen?
„Na? Du willst doch nicht etwa deine Konkurrentin um die Ecke bringen, oder?“
„Das nicht, aber Bestechen wäre ein Versuch.“
Ich sah misstrauisch in sein grinsendes Gesicht und in diesem Augenblick verschwand kurz alle Angst in mir. „Versuch es.“
„Wie viel willst du, damit ich in der nächsten Show den Preis für den gefühlvollsten Song gewinne?“
Ich überlegte und sagte dann tollkühn: „Ein Kaffee muss mindestens dabei rausspringen.“
Er schien wenig überrascht, fast so als hätte er genau auf diese Antwort gewartet. „Das ist ein Deal. Wirkt es sehr komisch und abgedroschen, wenn ich dir hier unter den Sternen sage, dass du wirklich hübsch aussiehst heute?“
Oh mein Gott! Ich war in eine wundervolle Filmszene geraten. Was sagte die Hauptdarstellerin in so einer Szene? „Ach, und sonst findest du mich nicht hübsch?“
Er lachte betroffen. „Ich stelle mich wohl zu blöd an.“
Wofür? Was hast du denn vor? Die Fragen existierten nur in meinem Kopf, dann sagte ich bedauernd: „Nein, tut mir leid. Ich bin die, die sich blöd anstellt.“
Dann schwiegen wir eine Weile, ehe er fragte. „Ist deine Familie hier?“
„Ja, ich war die ganze Zeit bei ihnen, aber mein Stiefvater hat mich verrückt gemacht. Er hat die ganze Zeit nur sein Smartphone in der Hand und stimmt per Klicks für mich ab... er hat sich extra zu diesem Zweck mehrere Accounts angelegt.“
Sascha lachte warm. „Das ist doch schön.“
„Ja klar.“, sagte ich zerstreut. „Aber ich brauchte etwas Ruhe und Zeit für mich. Verstehst du das?“
Er sah mich an. „Sehr gut. Soll ich gehen?“
„Nein.“, sagte ich, vielleicht eine Spur zu schnell. „Wir können ja… zusammen schweigen.“
Und dann war es plötzlich Wirklichkeit. Wir standen zusammen auf der Bühne im Studio und warteten auf unsere Henkersmahlzeit. Damien und Nici standen jeweils links und rechts neben mir und hielten meine Hände. Von Minute zu Minute wurde uns wohl mehr bewusst, dass uns nur ein einziger Satz wieder trennen konnte. Auch Saschas Gegenwart nahm ich deutlich wahr, während ich mich immer wieder fragte, ob ich unser Gespräch unter dem Nachthimmel nur geträumt hatte. Hier war er wieder so fern wie der Mond.
Noch ein letztes Pudern und schon waren wir wieder auf Sendung. Keine Sekunde zählte etwas. Es gab keine Zeit mehr, sondern nur unseren eisernen Willen, es unbedingt in die nächste Liveshow zu schaffen.
„Hier sind wir wieder bei DerTraum!“, eröffnete Marcel. „In wenigen Minuten verkünden wir die Entscheidung, die soeben gefallen ist. Das Forum, in dem Sie Ihre Klicks abgeben konnten, ist nun geschlossen!“
Tatjana erschien mit einem Umschlag auf der Bühne, den sie Marcel überreichte. Dieser holte zwei Kärtchen daraus hervor und reichte eins davon Tatjana, ehe er mit einer ewigen Litanei über den heutigen Abend begann und ich – rein aus Überlebenstrieb – auf Durchzug schaltete. Wirklich bewusst nahm ich nur wahr, dass Nici und Nicolás weiterkamen, da sie lautstark ihre Freude kundtaten und zu einer großen Gruppenumarmung aufriefen. Auch Marc und Victoria waren natürlich sicher weiter.
Als Sascha gesagt wurde, dass auch er in der nächsten Runde war, brach er in laute Freudenschreie aus und ehe ich mich versah, befand ich mich in seiner festen Umarmung. Alles drehte sich noch mehr in meiner kleinen Welt. Wir ließen einander erst völlig verlegen und orientierungslos los, als Damien, Sandro, Lena und ich gleichzeitig aufgerufen wurden.
„Für drei von euch fängt der Traum heute erst richtig an und für einen könnte es schon wieder vorbei sein.“, sagte Tatjana. „Damien, du hast gesagt, durch DerTraum fühlst du dich wie neugeboren. Sandro, du kannst dir kein anderes Leben mehr vorstellen.“
Marcel sah zu mir und fuhr fort: „Lena, du hast gesagt, dass du zu dir selbst gefunden hast. Fay, du hast mir erzählt, dass du es jetzt allen – vor allem dir selbst – so richtig beweisen willst!“
Alles lief in Zeitlupe ab. Es schienen Stunden zu vergehen, ehe Tatjana uns endlich erlöste: „Lena, du bist leider nicht weiter.“
Eine Welle ging durch das Studio und die Kandidaten. Es war, als könne ich die Aura aller um mich herum wahrnehmen. Bestürzung, Trauer, Erleichterung und unbändige Freude bei Damien und mir.
Nici schüttelte und umarmte mich und schrie immer wieder, dass ich weiter war. Alle machten ein Riesen-Aufhebens darum. Meine Gedanken waren ausgeschaltet. Mir war alles egal. Mich regierte eine heftige Woge der Erleichterung, als ich gedankenlos die Arme um Damien schlang, der mich heftig an sich zog und sein Gesicht in meinem Haar vergrub, was seltsame Gefühle in mir auslöste.
„Gott sei Dank!“, war das einzige, was ich herausbrachte und jede Kamera im Studio war nur auf uns gerichtet.
„Es ist noch nicht an der Zeit für uns, Lebewohl zu sagen.“, erwiderte er und sein Atem verursachte ein Prickeln in meinem Nacken.