Seit Menschengedenken lebte auf dem Mond eine Prinzessin, Mondprinzessin genannt. Jeden Abend, wenn dieser hell leuchtend am Horizont aufging, setzte sie sich auf einen Felsen und bürstete ihr langes, silbernes Haar. Strahlen gleich fiel es zur Erde und verzauberte die Menschen, welche in allen Gegenden der Welt zu ihr emporschauten und ihre Schönheit bewunderten.
Mit ihrer berückenden Erscheinung und ihrem silbernen Haar hatte die Mondprinzessin schon manch jungen Mann dazu verleitet, seine Heimat zu verlassen und sich auf die Suche nach der Mondleiter zu machen, welche in gewissen Nächten bis zur Erde reichte. Denn es wurde auch erzählt, dass die Mondprinzessin über diese Mondleiter einmal pro Mondumdrehung zur Erde herunterkam, um sich einen Freier umzusehen.
Es gehen viele Geschichten, was mit diesen jungen Männern geschah, welche es tatsächlich schafften, die Mondprinzessin zu finden und ihr in die Augen zu sehen. Es gab welche, die nie mehr zurückkehrten. Niemand wusste, wo sie verblieben waren. Andere fanden den Heimweg zwar wieder, sprachen aber nie mehr ein Wort und führten von da ab ein Einsiedlerleben. Man sah sie aber in mondhellen Nächten an den Gestaden der Meere oder auf den Gipfeln der Berge stehen und sehnsüchtig zum Mond hinaufschauen, bewegungslos, in tiefe Gedanken versunken.
Nikolai, der mit seinem Stamm im hohen Norden Sibiriens lebte, verehrte die Mondprinzessin von Kindesbeinen an. Seine Grossmutter hatte ihm schon früh von ihrer Schönheit erzählt und dass sie die Erde regelmässig besuchte. Sein Lebensziel war ihm schon früh klar: Er wollte diese Mondleiter finden, über welche die Mondprinzessin zur Erde herabstieg, und ihr, der Schönen, in die Augen blicken, mehr noch, er wollte sie heiraten.
Nikolai wuchs heran. Alle in seinem Stamm bewunderten seinen Mut und seine Kraft. Viele Mädchen versuchten, ihm schöne Augen zu machen, doch zu ihrem Bedauern nahm Nikolai sie nicht einmal wahr. Seine Blicke und sein Sehnen galten nur der Mondprinzessin.
Seine Grossmutter beobachtete dies mit wachsendem Unbehagen. Vergeblich warnte sie den jungen Nikolai vor den Gefahren, wenn er der Mondprinzessin wirklich von Angesicht zu Angesicht begegnen würde. All ihre Worte und Ermahnungen prallten an ihm ab. Tief in seinem Herzen hegte er nur einen Wunsch: Die Mondprinzessin zu heiraten.
Nikolais Sehnsucht nach der Mondprinzessin wuchs mit jedem Jahr. Nächtelang sass er, ungeachtet der frostigen Kälte, hinter der Jurte seiner Grossmutter und blickte sehnsuchtsvoll zum Mond hinauf, zu seiner angebeteten Schönen. Immer wieder von neuem beobachtete er, wie sie ihr langes Haar bürstete und dieses in sanften Wellen zur Erde fiel. Oft lief er weit über die schneebedeckte Steppe, um eines dieser Haare zu erhaschen, doch immer vergeblich. Manchmal kam es ihm vor, als würde ihm die Mondprinzessin im letzten Moment immer ein noch so kleines Strahlenhaar entziehen.
Enttäuscht kehrte er dann jeweils in die Jurte zurück und sann verzweifelt nach einem Weg, die Mondleiter zu finden.
Eines Nachts, als der Mond wieder hell am Himmel stand, hielt Nikolai es nicht mehr aus. Er packte sein Bündel, verabschiedete sich von seiner Grossmutter und verliess, was ihm vertraut gewesen war. Nichts hielt ihn hier noch länger, sein ganzes Sehnen galt nur der Mondprinzessin.
Er ging und ging. Weder die unerbittliche Kälte noch das ferne Heulen der Wölfe konnten ihn davon abhalten, die Mondleiter zu suchen. Über ihm funkelten die Sterne, unter seinen Füssen knirschte der Schnee.
Auf einmal leuchtete vor ihm ein gelbes Augenpaar auf. Nikolai spürte, dass hinter diesem noch weitere Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Die Wölfe hatten ihn entdeckt!
Furchtlos blieb er stehen und blickte ruhig in die Augen des weissen Wolfes vor ihm. In seinem Herzen verspürte er den einzigen Wunsch, die Mondprinzessin zu finden. Dies gab ihm Kraft.
Lange standen sich der junge Mann und der weisse Wolf Auge in Auge gegenüber. Nikolai wich um keinen Schritt. Sein Atem ging ruhig.
Da löste sich der weisse Wolf aus der Dunkelheit und machte einen Schritt auf Nikolai zu.
"Du bist stark und wahrhaft mutig, junger Mann", stellte der weisse Wolf fest. In seiner Stimme schwang Anerkennung und leise Bewunderung. "Ich sehe, dein Herz weiss, was es will und dein Wille ist stark und ungebrochen."
Der Wolf näherte sich Nikolai, bis seine Schnauze dessen Hände leicht berührte. Als er sie öffnete, entdeckte er ein langes, weisses Haar darin.
"Nimm dieses Haar. Es wird dich beschützen."
Mit diesen Worten wandte sich der weisse Wolf wieder ab und verschwand leise in der Nacht.
Nikolai ging weiter, das Haar hielt er fest in seiner Hand.
Nach einer Weile entdeckte er am Rand eines kleinen Waldes eine alte Hütte. Sie sah unbewohnt aus und er beschloss, sich hier ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Er klopfte an, doch niemand öffnete. Also fasste er sich ein Herz und trat ein. Laut quietschte die Türe in ihren Angeln. Eisige Kälte schlug Nikolai entgegen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er, dass er sich ja gar nicht in einer Hütte, sondern in einem riesigen Palast befand. Alles hier schien hier aus Eis zu bestehen, welches leicht bläulich schimmerte. Die Böden und Wände, die langen Flure, welche sich in der Ferne zu verlieren schienen, alles bestand aus Eis. Etwas ratlos blieb er stehen, unsicher, was er tun sollte. In diesem Moment erschien eine junge Frau vor ihm, in ein langes, glitzerndes Gewand gehüllt. Schwarzes Haar fiel ihr wallend über den Rücken.
Nikolai schien es, es werde noch kälter um ihn herum.
"Na, wen haben wir denn da?" Schneidend klang die Stimme der jungen Frau, welche so gar nicht zu ihrer jugendlichen Schönheit zu passen wollte.
"Was führt dich zu mir, junger Mann?" Fragend und kalt lächelnd hob sie die Augenbrauen.
Nikolai begriff dass er sich im Reich der Eiskönigin befand. Viel hatte er von ihr gehört. Sie hatte eine grosse Macht, die tödlich sein konnte. Doch sein Herz war ohne Furcht, denn es kannte sein Ziel. Er dachte an die Mondprinzessin und hielt das Haar des weissen Wolfes fest umklammert. Dieses machte sich mit einem Mal selbständig. Es wuchs und wuchs und auf einmal stand der weisse Wolf zwischen ihm und der Eiskönigin. Laut fauchte der weisse Wolf die Eiskönigin an und fletschte mit den Zähnen. Diese funkelte Nikolai zornentbrannt an – dann verschwand sie mit lautem, knirschendem Getöse mitsamt ihrem Palast.
Erleichtert und dankbar wollte sich Nikolai dem weissen Wolf zuwenden, doch er fand sich alleine in der alten Hütte wieder.
Er fand es nicht ratsam, noch länger hier zu verweilen, sondern verliess so schnell er konnte diesen furchteinflössenden, eisigen Ort. Weiter ging und ging er durch die kalte Nacht, bis er zu einem See kam. Müde setzte er sich ans Ufer und beschloss, hier auf den Sonnenaufgang zu warten.
Da löste sich vom Himmel eine Sternschnuppe. Sie fiel und fiel - und landete genau in dem See, an welchem Nikolai sass. Lautlos verschwand sie im Wasser, welches sogleich begann, hohe Wellen zu schlagen. Die Erde begann leicht zu beben und beinahe hätte Nikolai das Gleichgewicht verloren. Als er sich wieder ruhig sitzend auf seinem Stein fand, sah er voller Erstaunen, wie ein wunderschönes Wesen dem See entstieg. Silbern waren seine Haare und silbern sein ganzer Körper. Langsam glitt das Silberwesen durchs Wasser auf Nikolai zu, während seine Augen ihn anfunkelten. Auch sie schienen aus reinem Silber zu sein.
"Da ist er ja, mein Prinz!" lächelte sie und streckte die Hand nach Nikolai aus. Doch dieser wich aus.
"Ich bin nicht dein Prinz, auch wenn du von grosser Schönheit bist!» rief er laut. "Mein Herz gehört einer anderen."
Das Silberwesen hielt inne und betrachtete Nikolai lange. Dann nickte es.
"Ja", sagte es nach längerem Schweigen, "ich kann deinen tiefen Wunsch sehen. Ich bedaure zwar deinen Wunsch, denn du gefällst mir. Ich sehe auch, dass du ein reines Herz hast. Dafür, dass du dir selbst so treu bist, zeige ich dir den Weg zur Mondleiter. Und ich schenke dir einen Sternenkristall. Er wird dich stärken, um dem Blick der Mondprinzessin standzuhalten."
Das Silberwesen näherte sich Nikolai und legte ihm einen hell glänzenden Sternenkristall in die Hand. Gebannt betrachtete Nikolai dieses wunderbare Geschenk, von welchem ein schillerndes Licht und eine nie gekannte Kraft ausging.
"Vierzig Tage und Nächte von hier, dort, wo sich Himmel und Erde berühren, wirst du die Mondleiter finden", sagte das Silberwesen. "Die Mondprinzessin wird dort auf dich warten. Sie weiss, dass du zu ihr unterwegs bist."
Bevor Nikolai sich bedanken konnte, verschwand das Silberwesen wieder im Wasser.
So wanderte Nikolai während 40 Tagen und Nächten, ohne anzuhalten, durch Schnee und Eis. Auch wenn ihn oft der Hunger plagte und die Füsse schmerzten, erlaubte er sich nicht die kleinste Pause. Er bückte sich nur ab und zu, um etwas Schnee gegen den Durst in den Mund zu nehmen. Doch dann ging er wieder weiter und weiter, den Sternenkristall fest in seiner Hand umklammert. In ihm klangen die letzten Worte des Silberwesens nach: «Die Mondprinzessin wartet auf dich. Diese Worte verliehen ihm Kraft und liessen sein Herz immer heller leuchten.
Gegen Morgen der vierzigsten Nacht sah Nikolai, dass der Horizont den Himmel berührte. Ein feiner, weisser Streifen verband den Mond mit der Erde. Sein Herz begann laut zu klopfen, sein Atem ging schneller. Er wusste, er war seinem Ziel nahe. Fest umklammerte er den Sternenkristall in seiner Hand.
Dann sah er sie. Sie, auf die sich sein ganzes bisheriges Leben ausgerichtet hatte. Sie, die Mondprinzessin.
Ihr langes Haar umfloss sie silbern, wähend sie ruhig dastand und ihm entgegenblickte.
Dann standen sie sich gegenüber, Nikolai und die Mondprinzessin. Wortlos schauten sie sich an. Die Dimensionen schienen sich aufzulösen.
Nikolai spürte, wie ihm der Sternenkristall die Kraft verlieh, diesem einzigartigen Blick standzuhalten.
Die Mondprinzessin begann zu lächeln.
"Ja, du bist es," sagte sie leise. "Auf dich habe ich gewartet. Das Leuchten deines Herzens sagt mir, dass wir füreinander geschaffen sind seit Anbeginn der Zeiten."
Sie machte einen Schritt auf Nikolai zu, welcher ihre Hände in die Seinen nahm.
"Doch eines musst du wissen, bevor du mit mir die Mondleiter emporsteigst: Es gibt kein Zurück. Du wirst nicht mehr Mensch sein, sondern …"
Entschlossen machte Nikolai einen Schritt auf die Mondprinzessin zu und nahm sie in die Arme.
"Was denkst du, warum ich all diese Strapazen auf mich genommen habe?» murmelte er in ihr Haar. "Lass uns aufbrechen. Zeige mir dein Reich!"
Die Mondprinzessin hob den Kopf. Tränen des Glücks schimmerten in ihren Augen, welche sachte zu Boden fielen. Sanft nahm sie Nikolai an der Hand und stieg dann mit ihm die Mondleiter hoch.
Dort, wo ihre Tränen zu Boden gefallen waren, begannen Mondblumen zu wachsen, welche bis heute von der ungewöhnlichen Geschichte zwischen einem Sternenwesen und einem Menschen erzählen.
Die Mondleiter aber wurde nie mehr gesehen. Sie löste sich Sprosse für Sprosse hinter dem glücklichen Paar auf.
Wer genau hinschaut, kann Nikolai entdecken: Den Mann im Mond, in der liebevollen Umarmung der Mondprinzessin.