Wir sind überaus froh, dass wir von Anadia so viel Güte erfahren durften und bedanken uns bei ihr von ganzem Herzen. «Dankt mir nicht!» meint sie jedoch. «Es war selbstverständlich, dass ich euch geholfen habe. Ich hörte, ihr wollt zu den Pfeilern des Lichts? Warum eigentlich? Was erwartet ihr dort zu finden?» Ich erwidere: «Wir glauben, dass wir dort ein besseres Leben finden können.» «Ein besseres Leben? Inwiefern?» Ihr Augen blicken etwas skeptisch. «Nun, das wissen wir auch noch nicht so genau. Aber Hanania sah in einer Vision, dass wir dort vielleicht eine Lösung finden, für unser Kinderproblem. Du weisst ja, dass wir keine lebenden Kinder mehr auf die Welt bringen können.» «Ja, das ist in der Tat eine sehr traurige Angelegenheit.» pflichtet die Heilerin bei. Ich erkläre weiter: «Ausserdem hoffen wir auf irgendetwas, dass uns ein Zeichen gibt, wie wir unser Leben in Eden weiter gestalten sollen und wie wir vielleicht, in die hohen Himmel zurückkehren könnten.» «Und ihr meint, dass die Pfeiler des Lichts, euch diese Antworten liefern können, obwohl man uns seit Äonen vor ihnen gewarnt hat?»
Ich weiss zuerst nicht wirklich, wie ich auf diese Einwände reagieren soll. Natürlich hat Anadia irgendwie recht, doch meine Hoffnung ist einfach zu gross und ich will auch den anderen nicht die Hoffnung nehmen. So erwidere ich: «Ich weiss nicht aus welchen Gründen, man uns stets von den Pfeilern des Lichts gewarnt hat, aber die Visionen und all die Gerüchte, dass dort etwas Besseres, Neues auf uns warten könnte, müssen ja etwas bedeuten. Vielleicht hat sich ja etwas verändert, vielleicht sind die Pfeiler gar nicht mehr so gefährlich, oder waren es nie.» «Ihr als grosse Führer, müsstet eigentlich wissen, was es mit den Pfeilern auf sich hat,» gab Anadia weiter zu bedenken. «Ich weiss einfach nur, dass in den Gesetzestafeln, davor gewarnt wird, dass die Pfeiler den Tod bringen. Doch inwiefern das gemeint ist, verstand ich nie wirklich. Wir sind ja eigentlich unsterblich. Also was soll das?» «Wenn ihr es nicht mal wisst, grosser Führer, wie soll ich es dann wissen?» «Na also, dann versuchen wir es doch einfach. Vielleicht hat sich wirklich etwas verändert, seitdem die Gesetzestafeln geschrieben wurden. Alles ist ja stets im Wandel und vieles was einst galt, gilt heute sowieso nicht mehr. Wir sind schon lange nicht mehr wirklich die grossen Führer, alle Völker haben ihren eigenen Weg beschritten und haben bereits ihre ganz individuelle Art zu leben. Klar, es gibt schon die eine oder andere Schwierigkeit, doch damit werden sie schon fertig werden.»
«Dann lasst ihr uns also im Stich, grosse Führer?» fragt Anadia betrübt. «Wir lassen euch nicht im Stich, sonst würden wir ja nicht zu den Pfeilern gehen. Doch uns ist bewusst, dass wir uns auch nicht überall einmischen können, oder sollen. Es ist einfach nichts mehr, wie es einst war.» «Denkt ihr nicht, ihr trauert zu sehr der Vergangenheit nach,» meint die Heilerin ernst «und vergesst dabei zu leben? Meint ihr nicht, ihr klammert euch da an einen Strohhalm, welcher jederzeit abbrechen könnte.» «Wie meint ihr das?» «Nun, ihr lebt stets entweder in der Zukunft, oder der Vergangenheit. Dabei müsstet ihr doch im Jetzt leben und vertrauen darin haben, dass sich alles von selbst geben wird.» «Von selbst geben!» schnaube ich und merke, wie Ärger in mir aufsteigt. «Was soll sich denn von selbst geben? Unser Kinderproblem, die Unstimmigkeit zwischen den Völkern? Meinst du, all die Gemütsprobleme unserer Brüder und Schwestern geben sich von selbst?» «Das kommt immer darauf an, wie wir mit unserem Leben umgehen,» antwortete Anadia. «Doch ihr wisst bestimmt was ihr tut, grosse Führer. Vielleicht hat es mit den Pfeilern des Lichts wirklich etwas auf sich, von dem wir bisher noch nichts wissen.
Ich wünsche euch auf jeden Fall, eine gute und hoffentlich, diesmal gefahrlose, Reise dorthin. Weit ist es nicht mehr.» «Wollt ihr nicht mit uns kommen Anadia? Wir könnten eine gute Heilerin an unserer Seite gebrauchen.» «Nein, dafür bin ich schon zu alt. Ich bin schon so lange am Leben, es wird Zeit, dass ich mich ausruhe. Lebt wohl, meine Gedanken, sind bei euch.» Müde wendet sich Anadia ab und geht zurück in die Stadt. Wir aber setzen unseren Weg unbeirrt fort.
17. Kapitel
Anadia legte sich auf ihr schmales Feldbett und schaute hinauf an die Decke. Sie spürte nun ganz tief in sich, dass sie bereit war. Sie hatte so viele Entwicklungen durchgemacht und schon seit einer Weile erkannt, was es brauchte, um zurückzukehren. Einen Moment lang, waren ihre Gedanken nochmals bei Hanael und den anderen. Sie hätte ihnen so sehr gewünscht, dass auch sie erkannt hätten, was alles möglich war. Doch leider hatte sie es ihnen nicht sagen können, weil es einfach nicht in Worte zu fassen war. Es war ein Wissen, tief in ihrem Inneren und so flüsterte sie leise und mit einer inneren Sicherheit, in die Stille hinein: «Meine geliebten, göttlichen Eltern. Meine Aufgabe hier in Eden ist getan und ich habe in meiner langen Lebenszeit vieles erkannt. Bitte lasst mich jetzt zu euch heimkehren!»
Auf einmal erfüllte sanftes Licht die Höhle, in der die uralte Frau, nun schon eine ganze Weile lebte. Stille und Frieden breitete sich aus und durchdrang sie ganz. Sie schloss ihre Augen und schlief für immer ein.