Die Zeit verging, als wolle sie den Nordmännern davonlaufen. Rúna schien es, als hetze sie durch die Tage. Kaum waren sie in ihre Grubenhütte in Straumfjorður zurückgekehrt, kaum hatten Lathgertha, die anderen Schildmaiden und sie ihre Übungen mit Schwert und Schild aufgenommen, da waren auch schon die letzten Vorbereitungen für die Leidang getroffen und sie standen erneut am Hafen. Ein leichter Nieselregen ließ die Zuschauer des Auslaufens in klammen Kleidern frieren und selbst die Völva musste sich zügeln, um die Opfer und Segenssprüche würdevoll und langsam zu zelebrieren.
Ein Hahn verlor seinen Kopf. Aus seinem Körper ließ die Völva Blut auf den Rumpf der Ragnarsúð spritzen. Zwei weitere Hähne folgten ihrem Vorgänger für die anderen Kriegsschiffe des Jarl. Drei mal anderthalb Dutzend Ruderplätze galt es zu besetzen und jeder der Männer erhielt von der Seherin seinen ganz persönlichen Segen. Waffen wurden ihr hingehalten, auf dass sie auch diese mit dem Blut der Opfertiere stärker und treffsicherer mache. Nur langsam füllten sich die drei Langboote, die dicht beieinander im Hafen lagen. Die Frauen der Krieger nahmen Abschied von ihren Männern und Söhnen, Kinder weinten und auch mancher Alte konnte ein Seufzen nicht unterdrücken.
Aodh stand mit Thorstein an dem großen Pfahl, der die Hafenausfahrt schon von weitem erkennen ließ. Hier hatten sie gute Sicht auf das Geschehen, ohne dass einem aufmerksamen Spion ihr Zurückbleiben besonders vor Augen geführt wurde.
Rollo bekam von seinem Bruder an diesem Tag offiziell und vor den Einwohnern der Siedlung die Jarlsmacht übertragen, solange Ragnar auf Kriegszug war. Feierlich wurde ihm der Bragafull überreicht, der Häuptlingsbecher, den nur der Sumbelgifa füllen und herumreichen durfte.
Ragnar selbst trat als letzter vor die Völva. Hatte es zwischen ihnen auch im vergangenen Jahr einige heftige Meinungsverschiedenheiten gegeben, so war doch nach dem Julopfer wieder Frieden zwischen den beiden hochrangigen Anführern des Ortes eingezogen.
Nun zeichnete die Völva ihm mit dem Blut des Hahnes zwei Streifen auf die Stirn, um die Götter für seinen Kriegszug günstig zu stimmen. "Sei mutig, aber nie unbedacht, sei stark, aber nie übermütig, kämpfe mit Verstand und nicht nur mit Zorn", wies sie ihn an. "Dann wird dir Odin gewogen sein." Sie umarmte den Jarl und gab ihm abschließend einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. "Kommt alle unversehrt zurück!"
Ein letztes Mal schloss Ragnar seine Gefährtin und seinen Sohn in die Arme. Dann bestieg auch er das Langschiff und zog sein Schwert. Die Krieger folgten ihm in die Geste und bald schlugen beinahe ein Schock Männer mit ihren Waffen gegen ihre Schilde. Dann verstauten sie diese unter den Ruderbänken und legten sich auf ein Kommando hin in die Riemen. Als erste lief natürlich die Ragnarsúð aus, deren Steuerruder der Jarl selbst führte.
Die beiden anderen Boote folgten gemächlich und schon bald sahen die Zurückgebliebenen, wie sich das Segel mit dem Drachenkopf entrollte. Aus der Ferne erkannten sie noch, wie den Vorsteven ihre Drachenköpfe aufgesetzt wurden, dann verschwanden die Schiffe hinter der ersten Biegung des Fjords. Bald schon würden sie im offenen Meer mit stärkerem Wind und kräftigen Ruderschlägen Fahrt aufnehmen. Irgendwo auf dem Kattegat - hier war Ragnar zurückhaltend mit seinen Äußerungen geblieben - stießen sie später auf Horik und dessen andere Verbündete. Dann, wenn der Wind und die Zeichen günstig standen, würden sie, der Küste folgend, Richtung Süden segeln. Bis schließlich Haithabu in Sicht käme … Keiner von Ragnars Männern glaubte wirklich daran, dass sie ihren Kriegszug vor Harald hatten verbergen können. Doch so Odin es wollte, würden sie in der Mehrzahl und der besseren Position sein. Mit ein bisschen Glück würde ihnen die Handelsstadt gehören - mit allem, was darin zu finden war.
Das zurückbleibende Volk war daran gewöhnt, zuzusehen, wie die Schiffe der Krieger immer kleiner wurden und sich schließlich in den Biegungen des Fjordes ganz verloren. Noch bevor das letzte Segel völlig aus ihrem Sichtfeld verschwand, wandten sich die Frauen, Kinder und Männer ihrem Dorf und den warmen Hütten zu. Vielleicht, wenn die Sonne geschienen hätte, wären sie noch länger am Hafen stehengeblieben, um zu plaudern und Neuigkeiten auszutauschen. So aber war jeder froh, in sein warmes Zuhause zu kommen.
Auch Rúna war unter den davoneilenden Frauen, wollte sie doch noch vor den Männern ihre kleine Hütte erreichen, um das Bier aufzuwärmen, das sie für diesen Anlass zurückbehalten hatte.
Als sie die Tür zu ihrer Hütte öffnete, kam ihr ein Schwall angenehm warme Luft entgegen. Katla rührte in einem Kessel über dem Feuer bereits das heiße ǫl(1) um. Zu ihren Füßen krappelte die kleine Solvig, dabei eifrig einen Ball aus Stofffetzen vor sich her schiebend. Rúna lachte.
"Na du kleine Raupe, hast du Spaß?" Das Mädchen krähte, als sie von ihrer Eiða an den Fußsohlen gekitzelt wurde. Vertieft in ihr kleines Spiel, hätte Rúna das Eintreten der Männer fast verpasst. Erst als die tiefen Stimmen hinter ihr sie begrüßten, erhob sie sich flink. Es war ihr peinlich, beim Müßiggang ertappt worden zu sein, doch ihre Gäste sahen es offenbar mit Humor, dass Solvig ihnen vorgezogen wurde. Rollo ließ sich die Kleine geben, um das Kitzelspiel noch einen Moment lang fortzusetzen und auch Aodh störte sich nicht daran, dass die Gastgeberin das Trinkhorn erst neu befüllen musste. So war das Bier auch wirklich schön warm und trieb ihnen die Kälte aus den Knochen.
Thorstein angelte ein frisches Stück Schinken aus dem Gebälk nahe dem offenen Feuer, wo es im milden Rauch zum Nachräuchern aufgehängt war und Katla brachte den frisch gebackenen Laib Brot auf den Tisch. So, auf viele Hände verteilt, hatte keiner lange warten müssen, bis das Mahl bereitstand.
Thorstein goss den ersten Schluck Bier auf den Boden. "Für Odin, Thor und Baldur", murmelte er, die traditionelle Gabe an die Götter begleitend. "Für Odin", wiederholte Rollo. Aodh schwieg. Doch mittlerweile störten sich die Freunde nicht mehr an dessen fremdartigem Gottesglauben. Der Schmied wusste es eben nicht besser und wenn er die Götter Asgards nicht gelten lassen wollte, musste er die Folgen nach seinem Tod mit sich selber ausmachen. Rollo und Thorstein waren zwar von dieser seltsamen Vorstellung, es gäbe nur einen einzigen Gott, irritiert. Doch sahen sie im halbherzigen Chirstentum des Schmiedes auch keine Bedrohung. Sollte er doch glauben, woran er wollte, so lange er ihre Ansichten nicht infrage stellte.
Thorstein seufzte. "Nun ist es also soweit."
Viel gab es nicht zu dem zu sagen, was nun auf sie zukam. Manchen Abend und manche Nacht hatten sie Pläne geschmiedet, Ideen vorgebracht, diskutiert, widerlegt und verfeinert, bis sie ihr jetziger Plan feststand. Heute Abend mussten sie nicht mehr besprechen, wie es weitergehen sollte. Jeder von ihnen hatte seine Aufgaben, die er ab dem kommenden Morgen sorgfältig erledigen würde. Aodh würde von seiner Schmiede aus, die am östlichsten Rand der Siedlung lag, seine Späher an die Hauptwege Richtung Moseby entsenden und dort hin und wieder selber nach dem Rechten sehen. Ansonsten war es seine vordringliche Aufgabe, die vorhandenen Waffen der zurückgebliebenen Männer und der neuen Freien zu überprüfen und zu schärfen. Jeder sollte sein Schwert so unauffällig wie möglich zu Aodh bringen, versteckt in einem Heukarren oder zwischen einer Fuhre kaputter Werkzeuge, falls es auch in ihrem Ort Spione geben sollte.
Thorstein würde die Krieger anführen, die Straumfjorður selbst verteidigten. Rollo war die schwierigste Aufgabe zugefallen. Er musste mit den wenigen Bauern und ihren ungeübten Männern dafür sorgen, dass das Hinterland geschützt war und Arngrim die Siedlung nicht umgehen konnte.
Brandschatzung und Raubzüge gegen die einsamen Einödhöfe zu vermeiden, war ein kompliziertes Unterfangen. Zu weit auseinander lagen die Gehöfte, um jedes einzelne vor den Räubern zu schützen. Gunnars Besitz lag Moseby am nächsten, der Weg ins Hinterland führte beinahe an dessen Hoftor vorbei. Dort würde Rollo die meisten Männer versammeln. Jeder, der ein Pferd besaß, war dazu angehalten, Wachrunden zu reiten, die einer gedachten Linie zwischen den Besitztümern Straumfjorðurs und Mosebys folgten. So, erhoffte sich der Jarlsbruder, würden sie einen Angriff frühzeitig bemerken.
Dennoch würden die Männer kein Risiko eingehen. Frauen, Kinder, Alte und das wertvolle Zuchtvieh waren jetzt schon auf dem Weg ins Moor. Dort hatte Thorstein noch im späten Winter mit seinen Leuten heimlich stabile Hütten und Unterstände gezimmert. Lebensmittel- und Futtervorräte waren angelegt worden. Zwei Heuschober türmten sich auf der Wiese. Die geheimen Pfade hatte er durch Fällen von einzelnen Bäumen und Versetzen mehrerer Sträucher noch unerkennbarer machen lassen. Die Bohlenwege waren geschickt getarnt, indem sie das Wasser hier und da angestaut und eine Schicht Schlamm über die hellen Hölzer gekippt hatten. Ihre Vorbereitungen waren getroffen. Nun hieß es warten.
(1) ǫl - altnordisch: Bier