Es begab sich zu jener Zeit, zu der es nicht ratsam war, Wissen und Heilkunst öffentlich kund zu tun. Zwar gab es einige Weise, die durch lange Beobachtungen der Natur, durch alte überlieferte Weisheiten und vor Allem durch großes Einfühlungsvermögen, armen leidenden Menschen große Erleichterung verschaffen konnten, aber es war nicht klug, sich damit zu brüsten.
Auch damals gab es welche, die Zugang zu den Königshäusern hatten und ihr Werk fast offiziell tun konnten, weil sie eine Art diplomatische Immunität vor Verfolgung schützte, und jene die im Verborgenen ihre Kräfte zum Wohl der Leidenden einsetzten. Die einen waren berühmt und wohlhabend, die anderen berüchtigt und leisteten ihre Dienste für eine Mahlzeit, falls sie überhaupt in den Genuss einer Abgeltung kamen.
Ein Heiler der letzteren Sorte war es, der zu jener Zeit sein Wissen in Worte fasste und niederschrieb. Sein Werk hat bis heute keinen Titel, ebensowenig wie einen Einband. Es wurde nie als Buch herausgegeben. Es grenzt an ein Wunder das die handbeschriebenen Pergamente dieses großen Mannes die Zeit in einer Ziegenledermappe "überlebt" haben und an ein noch grösseres Wunder, dass dieser namenlose Armendoktor überhaupt des Schreibens mächtig war. Seine Zeichnungen von Heilpflanzen haben weiß Gott nicht die Qualität da Vinci's, aber man kann sie anhand der Blattstilisierungen durchaus erkennen.
Ein Hoch auf diesen mutigen, gütigen und weisen Unbekannten, der es damals wagte, seine Heilkunst zu dokumentieren.
Unbestritten haben große Männer wie Paracelsus, Agrippa oder Nostradamus Ihre Schuldigkeit getan. Doch hätte der gute Armendoktor sein Wissen nicht aufgezeichnet... nun; lasst mich ein Wenig ausholen.
Schon immer haben mich alte, antike Schriften angezogen. Schon die Sichtweise der Alten, die nie die Chance auf eine Schulbildung hatten, geschweige denn je der Errungenschaften unseres Jahrhunderts gewahr werden konnten, ist faszinierend!
Wenn man nicht gelernt hat, dass unser Planet eine Kugel ist, die sich um die Sonne bewegt, dann muss man eben glauben, dass die Sonne über einer Scheibe
auf- und abtanzt.
Wie viele große Entdeckungen entsprangen dieser Sichtweise, der ja schließlich das Basiswissen fehlte? Aber was erzähl ich...?
Vor vielen Jahren, ich denke es war kurz nach meiner Lehre, bat mich mein Vater, einem seiner Arbeitskollegen beim Umzug zu helfen. Seine Kinder waren längst flügge geworden, seine Frau war ein paar Monate zuvor unerwartet verstorben, er wollte nicht mehr in diesem Haus bleiben, in dem die ganze Familie einst glücklich war.
Er hatte eine kleine Wohnung gefunden und musste nun das Haus räumen. Zwei ganze Tage half ich ihm und fand dabei auf dem Dachboden einige alte Bücher, die ich von ihm aus gern behalten durfte. Beim Leeren der letzten Truhe fand ich neben allerhand unbrauchbaren alten Textilien eine offenbar sehr alte Ledermappe. Die beiden dünnen Lederbänder waren eng verknotet und es dauerte eine ganze Weile, sie ohne Beschädigung zu öffnen. Die Mappe war aus einfachem Ziegenleder, einfach, aber raffiniert gefaltet, so dass ein Herausfallen der darin befindlichen Dokumente nach oben oder unten unmöglich war, wenn die Mappe verschlossen wurde.
Die Schriften mussten sehr alt sein, allerdings in althochdeutsch verfasst. Der Packen war an die vier Zentimeter dick. Ich durfte dieses Fundstück behalten!
Überglücklich und voller Staub wanderte ich nach getaner Arbeit heim und verstaute die Schriften in meinem Zimmer. Leider hatte ich zu dieser Zeit sehr viel zu tun und hatte nicht die Zeit noch das Wissen die Zeilen zu entziffern. So geriet das gut verstaute Artefakt für viele Jahre in Vergessenheit um irgendwann mein Leben grundlegend zu verändern.
Ich arbeitete als Techniker in einem Lebensmittelbetrieb, ging in die Meisterschule und schließlich auf Montage für einen Maschinenhersteller für Lebensmittel- und Pharmaverpackungen. Da ich ungebunden war und auch blieb, lernte ich dabei fast die ganze Welt kennen und konnte meinen Verdienst gar nicht verbrauchen, weshalb ich immer zumindest das halbe Gehalt risikoarm beiseite legte. Auf diese Weise kam über die Jahre ein ganz ansehnlicher Batzen Geld zusammen, was mich dazu bewog, mich etwas früher zur Ruhe zu setzen und mich nun meinem Hobby zu widmen.
So stieg ich mit 56 Jahren aus dem Berufsleben aus und widmete mich meinem Hobby. Über die Jahre hatte ich gelernt, die alten Bücher zu lesen beziehungsweise, die alten Texte in unsere Zeit zu transferieren. Wenn man im fernen Ausland nach getaner Arbeit abends in sein Hotel zurückkehrt, kann man sich ungestört einer alten Aufzeichnung zuwenden, sich mit deren Inhalt oder im schlimmsten Fall, auch deren Übersetzung befassen. Fast immer hatte ich auf meinen Reisen ein altes Buch mit, die Mappe aus dem Dachboden hatte ich aber nie dabei, ich hatte viel zu viel Angst davor, dass sie irgendwann einmal von einem Zöllner beschlagnahmt hätte werden können... Sie sollte meinen angetretenen Ruhestand krönen. Das tat sie auch... Mehr als man glauben möchte.
Fast zwei Jahre lebte ich nun schon dieses fantastische selbst ausgesuchte Leben,
besuchte hin und wieder meine Schwester und deren Familie und fand großen Gefallen an Robert, einem ihrer Söhne, der meine Leidenschaft teilte und mich sogar des öfteren besuchte. Dies war eine völlig neue Erfahrung für mich, wo ich doch, abgesehen von ein paar kleinen amourösen Abenteuern immer allein gewesen war. Bertie ist ein intelligenter, mittlerweile studierter junger Mann, der mir den nie gehabten Sohn mit großer respektvoller Fürsorge perfekt zu ersetzen vermag. Welch glücklicher Mann ich geworden war, bis ich eines Tages erkrankte. Ich, der ich gar nicht wusste, was Krankheit ist.
Natürlich hatte ich mich über das nässende Muttermal gewundert, aber nachdem es wieder abgeheilt war, ging ich davon aus, es wäre alles in Ordnung...
Ein halbes Jahr später wunderte ich mich über Appetitlosigkeit, Übelkeit, hatte einfach keine Kraft und keinen Antrieb mehr. Schließlich brachte mich Bertie nach einem seiner Besuche eher gegen meinen Willen zum Arzt. Ich musste danach mehrere Tage im Krankenhaus bleiben und erlangte dann die Gewissheit: Krebs im fortgeschrittenen Stadium! Überall Metastasen! Zu spät erkannt, nicht mehr behandelbar. Man könne mir den Weg zum Ende erleichtern, Heilung gäbe es keine mehr.
Bertie besuchte mich oft im Krankenhaus und später auch zu Hause, hatte auch immer sein Laptop mit, mit dem er bei unserer "Forschungsarbeit" an den alten Schriften immer schnell und trefflich recherchierte. Bei einer dieser Gelegenheiten stieß ich auf ein Pergament aus der Ziegenledermappe.
"Der inerte Menschenfrasz", hieß es da und und darin waren die Symtome meines Leidens fast eins zu eins aufgezählt.
In den Worten jener Zeit wurde erklärt, dass es in seltenen Fällen zu einer Heilung gekommen sei, wenn der Heiler zwei Salben darreichte, welche er selbst hergestellt, an verschiedenen Stellen seiner Wahl einzeln auftrug und diese Stellen mit einem sauberen in Essig getränkten Leinen abdeckte.
Dabei sollte die "gekrenkte Pherson hundert Käfer sphiren". Sowie dieses nicht mehr gespürt wurde musste das Leinen abgenommen und verbrannt werden. Dieser Vorgang wurde zweimal wiederholt. So kam man in drei Tagen auf 9 Anwendungen. Neben der Essigkur sollte man jedesmal das Pulver von je drei zerstossenen Kirschenkernen, nicht älter als 10 Monde, mit sauberem Qellwasser zu sich nehmen. Wenn danach keine Besserung eintrat, war die gekrenkte Pherson zur Beute des Sensenmannes bestimmt, welcher sich dieser alsbald bemächtigen sollte...
"Onkel Herbert, Du solltest der Realität ins Auge sehn." meinte Robert, der erkannt hatte, dass mich das Gelesene aus dem Konzept brachte. Selbst wenn es dir gelänge, die Zutaten für die Salben in Erfahrung zu bringen, ist das viel zu gefährlich!
"Robert! Was soll für einen Mann, der den Tod erwartet, noch gefährlich sein?" entgegnete ich und suchte nach weiteren Zusammenhängen in der Ziegenledermappe. Bertie schüttelte leicht den Kopf und meinte: "Wir sollten den Rest deines Lebens genauso gestalten, wie du das möchtest."
Schliesslich fand ich eine Aufzeichnung in der die Fertigung der beiden Salben beschrieben war. Man brauchte feines Eisenpulver, etwas Schweinefett und geriebene Schwarzwurzeln für eine davon, die andere beinhaltete unter Anderem Kupfer statt Eisen. Als Techniker fiel mir sofort auf, dass diese Kombination in Verbindung mit Essig eine Potetialdifferenz von ca. 0,8 erreichen würde. Das heißt: Diese beiden Salben kamen in Verbindung mit Essig einer streichbaren Batterie mit 0,8 Volt Spannung gleich! Die Kirschkerne haben eine ganz kleine Menge an Blausäure in sich. Dass solches von diversen Heilpraktikern empfohlen wird, hatte ich schon das eine oder andere Mal gehört. Das menschliche Zellmembranpotential liegt bei 70 Millivolt. Sinkt es zu weit ab, stirbt die Zelle oder verändert sich... Krebs entsteht...
Es war gar nicht so einfach, die Zutaten zu bekommen und es wäre auch hilfreich gewesen eine genauere Aufstellung der Zusammensetzung zu haben, aber es war ohnehin ein Experiment.
Jetzt, nachdem ich die Kur angewendet habe, verfasse ich mein Testament und füge mich in mein Schicksal. Darin verfüge ich, dass mein Vermögen und meine gesamte Bibliothek meinem lieben Neffen Robert gehören sollen, der es wie ich versteht, in alten Schriften, sowie der Bibel, auch mal zwischen den Zeilen zu lesen.
Nach meinem Tode sollst du auch die Ziegenledermappe erhalten. Ich habe mein Leben gelebt und warte auf den Tod, wann immer er mich holen mag. Leb wohl, Bertie!
EPILOG
Tief berührt lege ich die letzten Zeilen meines Onkels zur Seite. Er ist gestern Nacht für immer von uns gegangen. Im Alter von 84 Jahren. Ein namenloser Heiler aus dem 16. Jahrhundert hatte ihm weitere 26 Lebensjahre geschenkt...