Shanora rieb sich die fröstelnden Arme. Die Worte des Buches hallten noch durch ihren Kopf. Lunachildren. Geister. Verfluchte Kinder. Was bedeutete das alles? Sie schüttelte heftig den Kopf und klappte das Buch zu. Legenden und Mythen. Sie konnten auch nicht helfen. Mit einem Aufseufzen, warf sie sich auf den Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt und sah an die Decke ihres Zimmers. Die Muster im Holz zu betrachten, hatte ihr immer ein wenig Ruhe geschenkt.
"Shanora"
Ein Flüstern erklang wie aus weiter Ferne. Ihre Katzenohren zuckten.
"Shanora. Die Zeit ist bald da."
"Wer ist da?", die junge Prinzessin setzte sich auf und blickte sich suchend um. Irgendwie kam ihr die Stimme bekannt vor.
"Komm zu mir kleine Shanora. Komm zu mir ..."
"Wer bist du?!", beunruhigt huschten die türkisen Seelenspiegel durch das Zimmer und sie drehte sich mit.
Die Tür öffnete sich und Marilee erschien in der Öffnung: "Das Mittagessen ist bald fertig und ich soll dich daran erinnern, dass der Unterricht danach anfängt."
Shanora zuckte erschrocken zusammen. Die Kälte war verschwunden. Mit klopfendem Herzen starrte sie auf Marilee, als wäre diese ein Geist und nicht eine junge Frau, etwa so groß wie Vanessa, mit weinrotem Haar und wasserblauen Augen mit der Ausstrahlung eines vollkommenen Engels und sanfter Stimme.
"Alles in Ordnung mit dir?", die engelsgleiche Gestalt schwebte schier herein und legte sanft eine Hand auf Shanoras Wange, wo unterhalb ihrer Augen je zwei feine Narben parallel zueinander verliefen und wie Grübchen wirkten.
"Du bist so blass, du Arme. Was hast du angestellt?"
"Gar nichts", beeilte sich Shanora zu antworten und zuckte von der Hand zurück. Irgendetwas an der Berührung war seltsam.
Mit einem Satz schwang sie die Beine aus dem Bett, klappte das Buch zu, das noch auf ihrem Kissen lag und presste es an die Brust, während sie aus dem Zimmer und die Treppe hinunter in den großen Wohnraum eilte.
Es war still dort unten. Ganz anders als noch vor ein paar Jahren, als so viele Kinder dieses Haus belebt hatten, die über den Fluss und über die Insel in andere Teile Elensars flohen. Fort von der Festung des dunklen Königs. Fort von dem Ort, an dem die Finsternis regierte. Entweder waren alle nun geflohen oder gefangen, denn der Dunkle hatte einen Bannzauber gewirkt, damit keiner seiner Untertanen mehr die Grenze seines Reiches überschreiten konnte.
Sie wusste es nicht.
Sie hörte nur die Stille und die Stimme, die sie rief.
"Komm zu mir ... Shanora ... Komm zu mir"
Bloßen Fußes lief sie weiter, drehte eine Piourette und tanzte regelrecht die zweite Treppe, die in den Keller führte, hinab. Dort unten befanden sich nicht nur die Vorratskammern und allerlei anderes Gerümpel, das sich im Laufe der Jahre, in denen dieses Landhaus Sitz verschiedener Hüterinnen des Waldes war, angestammelt hatte, sondern auch der Zugang zur Bibliothek durch ein Portal.
Noch immer schlug ihr das Herz so hart gegen die Brust, dass sie Angst hatte, es könnte herausspringen. Ihre Finger strichen zitternd über die Türklinke. Im Unterschied zu ihren Ziehschwestern und ihrem Bruder hatte Shanora nie einen Schlüssel benötigt, um in die Bibliothek zu kommen. Das hatte sie herausgefunden als sie acht war. Ein paar Monate bevor Mari gestorben war und ein Jahr nachdem Ladira die Außenwelt besucht und sie, Shanora, abgehauen war. Eine Achtjährige, die einfach von Zuhause fortgelaufen war. Keiner der anderen wusste, dass sie die Außenwelt gesehen hatte und dort ihre Mutter suchte. Shanora war überzeugt gewesen, dass ihre Mutter sie nur hergegeben hatte. Es war ein Schock gewesen, als sie herausfand, dass sie die Prinzessin des weißen Throns von Elensar war. Ausgerechnet sie. Ein Mädchen, das es noch immer nicht schaffte, eine vollkommen menschliche Gestalt anzunehmen. Stets lugten ihre Katzenohren und der Schwanz hervor. Sie trug dieses Gen der Gestaltwandlung in sich, wie alle aus der Familie der weißen Königin. Wie auch Zephyr und seine drei Kinder, denn sie waren Blutsverwandte. Finn schien den Bogen schnell raus gehabt zu haben. Er lief, solange sie denken konnte, als vollwertiger Mensch herum. Jedenfalls dem Aussehen nach.
Nach ihrer Rückkehr, die wie ihre Abwesenheit relativ unspektakulär war, war sie durch Zufall den anderen in den Keller gefolgt und durch eben diese unscheinbare Holztür getreten, dessen Klinke sie nun hinunterdrückte.
"Und ich sage euch, wir sollten das ganze noch mal überdenken."
"Warum? Bist du feige? Er hat unsre Schwester umgebracht!"
"Erstens wissen wir das nicht mit Bestimmtheit. Zweitens ist er noch immer unser" - ein würgendes Geräusch erklang - "Vater und drittens wie willst du das anstellen? Nur weil du gerade für fünf Sekunden Wasser kontrollieren konntest, heißt das nicht, dass wir jetzt gut genug sind, um ihn im Schloss Livol zu ertränken.", Saphira schaukelte leicht vor und zurück, die Arme vor der Brust verschränkt und ihre Schwester mit den wasserblauen Augen fixiert. Ihr entgegen funkelten die rubinroten Celles'. So gleich sich Körperbau, Gesicht, Nasen und sogar die Frisuren der Zwillinge waren, so verschieden waren die beiden, was die Farbe von Haar und Augen betraf und auch ihr Temperament.
"Finden wirs raus", mischte sich Finn ins Gespräch ein und warf sich quer über die Kissen am Boden, "Ihr seid doch dort aufgewachsen, warum gehen wir also nicht mal hin und starten eurem Daddy einen netten Besuch ab?"
"Vielleicht, weil Mum durchdrehen würde, wenn wir dorthin gehen? Vor allem du", entgegnete Vanessa schnippisch und streckte ihre Hand aus, um die Fingernägel zu begutachten, "Sie würde ausrasten, wenn wir dahin gehen. Denkt doch mal dran: Ihr Leister wurde vor sieben Jahren umgebracht, Tante Pyrofera verschwand vor fünf Jahren spurlos. Kurz danach gab es eine Explosion in der Tempelbibliothek, wo keiner weiß, wer sie auslöste und Zephyr haut mit seiner Familie ab in die Welt der Sterblichen."
"Nach Griechenland", maulte Celles und stützte das Kinn auf die Hände, "Da soll es schön sein und neu und jung und die Menschen sollen ihn als Gott verehren oder irgendsowas hat er gesagt."
"Aber die gesundheitlichen Zustände sind dementsprechend. Kein fließend Warmwasser", es erschauderte Finn, als er das sagte, "Kein Schwarzpulver für Sprengstoff oder Bomben." Sein Blick wurde verträumt.
"Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, DU hättest die Bibliothek in die Luft gejagt. Eines deiner missglückten Experimente und lass das Buch in Ruhe!", funkelte Saphira ihn an.
"Aber hier sind Pläne der schwarzen Festung", er schnappte sich das Buch, rollte sich geschickt unter Saphiras Gegenangriff weg und lehnte sich gegen ein Regal, um darin zu blättern, "Wenn wir dem Plan hier folgen, können wir ganz leicht in die Festung einbrechen und uns umsehen. Er wird uns schon nicht bemerken. Euch drei Teufel am allerwenigsten. Ihr seid Kinder von ihm. Ihr könntet den Vordereingang nehmen."
"Ich gehe sicher nicht hin und bitte ihn um eine Taschengelderhöhung..."
"Sei still, Cel! Seht euch mal die Gänge da an. Ich frage mich, ob er weiß, wie durchlöchert seine Festung ist."
"Das weiß er bestimmt. Er ist dort schon länger als Cel und ich je dort lebten.", Saphira beugte sich dennoch neugierig über den Plan, den Finn auf dem Tisch ausbreitete.
Celles schüttelte den Kopf: "Zu riskant. Er ist der dunkle König, der Schrecken des Landes, der Dämon der Finsternis! Gegen den kommen wir doch nie an, wenn wir einfach reinspazieren. Und wir haben Halbbrüder so viel ich weiß. Halbbrüder, die aber mehr Dämonenblut in sich tragen als wir."
Mit den Händen übers Gesicht reibend, murrte Finn: "Ihr seid so starrköpfig. Rache: Ja. Kein Thema. Wie? Keine Ahnung. Ich tüftle einen Plan aus und ihr macht nicht mit, weil oh Risiko!"
"He Prinzilein! Es ist dir vielleicht entgangen, aber wir könnten ein ganzes Land in den Untergang stürzen. So ganz ausversehen, wenn wir das tun", entgegnete Saphira schnippisch und fuhr sich durch die blauschwarzen Haare, "Wie wäre es, wenn wir uns den alten Taurnil vorknöpfen? Der Ratsherr ist doch Maris Vater und so wie er immer schaut, hat er sicher ein paar Leichen im Keller."
"Igitt", Vanessa rümpfte die Nase, "Ohne mich."
"Im übertragenen Sinn! Wobei eine gibt es sicher: Maris Mutter. Alles, was wir wissen, ist, dass sie entführt wurde und man Experimente mit ihr machte. Zusammen mit einem Jungen namens Aerandir. Aber über ihre Mutter sagte sie nur, dass sie mit ihr im Garten war zum Zeitpunkt der Entführung.", Celles tippte sich mit einem Stift nachdenklich auf die Lippen und linste zu Finn hinüber, "Wie wäre es mit dem Anwesen der Familie Mondenschein?"
"Dafür finden sich hier sicher auch Pläne", er zog wahllos ein Buch aus einem Obsidianregal und begann darin zu blättern. Er stutzte und seine Augenbrauen wanderten hinauf. Die Buchstaben auf der Buchseite begannen zu tanzen und formten ein Bild. Das Gesicht einer Frau blickte ihn an, zwinkerte und verschwand wieder. Stattdessen formulierte sich ein Satz auf der Seite: "Sucht nach dem Keller in der Villa Mondenschein."