Nachdem die vor Schadenfreude grölende Streife endlich ihres Weges zog, berührte jemand seine linke Schulter und sprach überraschend beruhigend.
Less ließ von ihm ab und wischte ihm die Rute durchs Gesicht. Zumindest der Hund schien zufrieden und so wagte er sich mühsam in gebeugte Position. Er verharrte, wartete, bis der stechende Schmerz aus den Knien wich.
»Junge, du hast mehr Glück als Verstand.«
Zögernd hob er den Kopf und musterte sein Umfeld. Als ihm gewiss war, dass sie tatsächlich weitergezogen und ihn nicht weiter behelligten, entwich ihm ein Seufzer. Erleichtert ließ er die Schultern hängen und pustete aus.
»Was machst du bloß?« Die Stimme klang fast väterlich, gut gemeint und ehrlich. »Woher kommst du, dass du dich so tollpatschig benimmst?«
Ungläubig schaute Kayden drein und schnaufte, die Mundwinkel verzogen sich ertappt. Die Dargebotene half ihn aus seiner mühseligen Position auf.
Seine Gesichtszüge vollzogen ein schieres Maß an Mimiken, als seine Zunge über die Lippe fuhr und augenscheinlich schmeckte, was nicht ganz so appetitlich wirkte. Mit der Linken wischte er sich hastig, was auch immer aus dem Gesicht und spuckte. Immer wieder spie er aus und klopfte sich den gröbsten Schmutz vom Leinen. Less sah mit wedelnder Rute zu ihm auf und schaute dem Speichel nach.
»Nun?«
»Ich bin fremd hier.«
»Ach was. Dass du weder aus Memnach noch den umliegenden Gehöften stammst, ist offensichtlich.« Die Stimme seines Gegenübers berührte ihn auf eine Weise, wie die seines Vaters es tat, wenn es ihm nicht gut ging. In ihrem Klang schwang weder Tadel noch Ermahnung. War es Mitgefühl, was er aus den Worten heraushörte? Es fühlte sich so an. Konnte es sein, nach allem was er in der kurzen Zeit hatte sehen, hören gar erleben müssen?
Nachdem sich Kayden von dem üblen Geschmack befreit wusste, richtete er sich aus seiner vornübergebeugten Haltung auf und sah dem unerwarteten Helfer direkt ins Antlitz. Seine Gesichtszüge sprachen Bände. Erstaunen und verschiedenste Mutmaßungen spiegelten sich in ihnen wieder.
Sein Gegenüber schien über seine Verwunderung erheitert. Er verkniff sich ein Lachen, die lächelnden Züge hingegen konnte er jedoch nicht vollends verbergen. Wie dem auch sei. Die tiefen Grübchen um seinen Mund und die ehrliche Ausstrahlung verliehen dem Mann etwas, was man in dieser Welt wohl nur noch selten finden würde.
»Habe ich dir und deinen Begleitern nicht gesagt, ihr sollt nicht von den Wegen abkommen und euch nicht aufdrängen?«
Der Wächter hob kopfschüttelnd eine Hand an Kaydens Kinn und hob es an. Wie bei einem Fisch schloss sich sein Mund mit einem Plop. »Damit keine Fliegen hereinkommen.«
»Ihr«, begann der Junge zu stottern und nestelte unbeholfen mit den Fingern an seiner verdreckten Hose.
»Genau. Ich bin Eberhardt.« Erneut reichte er ihm die Hand und nickte aufmunternd.
Noch bevor Kayden anstandshalber auch seinen Namen nennen konnte, hob seine neue Bekanntschaft den Zeigefinger der freien Hand an seine Lippen. »Behalte ihn für dich. Vorerst.« Sein Kopf neigte sich musternd zur Seite. »Du musst wissen, dass ich eure Geschichte nicht ansatzweise für bare Münze hielt, und bin dir gefolgt.«
Kayden wollte Aufgebähren und sich erklären, doch Eberhardt hob erneut die Hand und brachte ihn zum Schweigen. »Lass mich ausreden. Ich weiß nicht warum, aber du hast etwas, was mich neugierig macht. Sollten sich meine Sinne trügen, wären die Folgen für dich und deinen Kumpanen unvorstellbar. Aber wie heißt es doch gleich? Die Zeit eines jeden geht irgendwann einmal vorüber, nicht wahr?« Der Wachposten erwartete keinerlei Antwort und sprach sodann weiter. »Bevor wir auffallen wie bunte Hühner, will ich dir noch etwas mit auf den Weg geben. Die Taverne ›zum Silbereber‹ bietet verarmten Seelen für kleines Geld Speis und Trank. Grüß den Wirt von mir aber pass auf, wohin du dich setzt.« Er zwinkerte dem Jungen zu und lächelte schief.
Unerwartet bellte Less neben ihm und Kayden erschrak. Sein Hund begann nach etwas zu suchen, was mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen schien.
Es konnte sich um keine fünf Atemzüge gehandelt haben, aber als Kayden zurücksah, war Eberhardt verschwunden. Verwundert sah er sich um und glaubt einen blauen verschlissenen Wappenrock, um einen Mauervorsprung herum wedeln zu sehen.
Seine Gedanken rasten. Etwas an dem Mann war sonderbar und zugleich bekannt. Irgendetwas rührte sich in seinen Erinnerungen. Dessen linkes Auge war getrübt aber nicht blind. Er schien ihm mit diesem direkt in sein Innerstes blicken zu können.
Das Benehmen und die rüde Musterung waren, soweit er beurteilen konnte, schlicht Fassade.
Less schnüffelte und wedelte mit der Rute. Ein kleiner schmuddelig aussehender Junge stand bei ihnen und betrachtete die Zwei aus wachen Augen. Er fasste Mut, als Kayden sich zwang ihn nicht weiter zu beachten, um sich Gedanken darüber zu machen, was dieser Eberhardt von ihm wollte und woher er diesen wohl kennen mochte.
Der Neuankömmling zupfte an seinem geschundenen Leinenhemd und sah zu ihm auf. Verunsichert schüttelte dieser den Kopf und sah hinab. Der Junge wirkte eingeschüchtert, obwohl er mitbekommen haben musste, was kürzlich passierte. Einzig Less schien von seiner Unschuld überzeugt und schnüffelte ihm am zerschrammten Bein. Er begann an einer dieser Stellen zu lecken, was dem Schmuddel ein Lächeln auf den Lippen zauberte.
Der Knirps reichte ihm gerade einmal bis zum Bauchnabel und konnte nicht älter als sechs Jahre sein. Aufmunternd beugte er sich hinab, sodass sich beide auf Augenhöhe trafen. Es war weder Seltsames noch Besonderes an dem Jungen, er war ... wie viele andere auch. Beschmutzt, Zerrissene bis hin zu zerlumpter Bekleidung mit etlichen Prellungen und bereits verschorften Abschürfungen.
Gewaschen, in sauberer und heiler Kleidung, konnte dieser vermutlich recht manierlich wirken. Mädchen würden ihn vielleicht sogar als hübsch umschreiben. Zerwuselte, mittellange bräunliche Haare. Eine zierliche Stupsnase und leicht abstehende Ohren. Gleichwohl, man musste schon genauer hinsehen, aber da diese jenen von Kremir ähnelten, wusste Kayden, dass diese abstanden. Der Falkner erzählte selbst von sich, er sei mit Segelohren geboren und sollte ursprünglich ein Vogel werden. Zahlreiche Sommersprossen umspielten die Nase bis weit über die Wangen hinaus. Am interessantesten jedoch empfand er wie bei Eberhardt auch, die Augen. Seltsam, seine Mutter hatte stets darauf bestanden und oftmals mit seinem Vater darüber gestritten, in diesen Absicht und Ehrbarkeit eines Gegenübers ablesen zu können. Mittlerweile beurteilte Kayden diese Vorstellung gar nicht mehr so abwegig und fand häufig anfängliche Vermutungen bestätigt, befolgte er ihren Rat.
»Ich glaube, ich kann dir nicht helfen, Kleiner. Schau, wie ich aussehe und Geld habe ich auch keines.«
Er sah dem Jungen an, dass er ihm nicht glaubte, obgleich jedes seiner Worte leicht nachzuweisen war. Wäre er bettelarm, würde er vermutlich ebenso denken.
Der Jüngling blieb ihm eine Antwort schuldig, stattdessen hob er vorsichtig die rechte Hand und wollte unverkennbar seine Stirn berühren. Verunsichert zuckte Kayden zurück, zweifelnd, was der Knabe vorhatte. »Was wird das«, hielt er seine Stimme sonor und kleinlaut. Etwas regte sich in ihm. Ein vages Gefühl, welches er nicht weiter benennen konnte. Da seine Härchen auf den Armen nicht wie bei einem aufgebrachten Hahn bergan standen, zwang er sich zur Ruhe und ließ ihn gewähren. Was sollte der Kleine schon ausrichten. Wollte er ihn bestehlen, wäre es längst geschehn und auf nimmer wiedersehen verschwunden. Mutig hielt er ihm den Kopf hin.
Wie auf Geheiß trat der Junge einen winzigen Schritt vor und tat, was er zuvor versuchte.
Er lenkte ihn von etwas anderem ab.
Er fühlte sich entrückt, wie in einen Haufen weichen Heus gebettet. Gedämpft vernahm Kayden Laute eines Aufruhrs und neben sich Less, der mahnende Laue von sich gab.
»Bitte«, flehte eine männliche Stimme. »Wir haben euch nichts getan. Das ist doch mein Mädchen.« Die Worte drangen leise an sein Ohr, dennoch blieb der flehende Ton nicht zu überhören.
»Halt dein Maul«, drohte jemand anderes. Zweifelsfrei eine Person, die in Agrea heimisch ist oder zumindest mit der Zunge des Landes bestens vertraut.
»Wllst du uns vorrschrrebn, mit wem wrr Spaß haben solln«, schimpfte ein weiterer, dessen Aussprache an mahlende Mühlsteine erinnerte. Kayden war sich sicher, diese Art des Rendens, mit dem betonenden und rollenden ›r‹ wie auch dem oftmals fehlenden ›i‹ bereits gehört zu haben. Ein Landarbeiter aus Falkenau sprach ähnlich und erschreckte damit immer wieder unbeabsichtigt umhertollende Kinder.
Als diese eines Tages neugierig und mutig genug waren, sich nach dessen Sprachfehler zu erkundigen, machte dieser vorerst den Anschein sie mit Haut und Haaren verschlingen zu wollen. Nachdem derselbe Mann sich von seinem Lachanfall beruhigte, erklärte er diesen, dass er in Skucia geboren sei und dort ein jeder so zu sprechen pflegte. Hiesige Person schien allenfalls dem gleichen Land zu entstammen, paktierte jedoch mit dem Feind. Er konnte es immer noch nicht recht verstehen, wie einst Verbündete anstatt zueinander nun gegeneinanderstanden. Was machte die Herrschaft Thules aus, dass sie nach und nach so viele Landstriche einnehmen und halten konnten?
»Aber meine Tocht...«, gebar Ersterer wieder auf.
Dumpfe Geräusche, als würde man hart und kraftvoll in einen gefüllten Getreidesack boxen, schlagen oder treten. Jemand würgte.
»Deine Tochter, deine Frau. Wir nehmen, was uns gefällt.«
»Nehmen uns was gefällt«, grollte die mahlende Stimme bestätigend. Kaum das dieser das letzte Wort aussprach, erklang ein dumpfer hart geführter Aufschlag, als zerbreche eine gefüllte Tonschale. Der gequälte Aufschrei, der daraufhin folgte, war nicht mehr Leise. Jeder einzelne Muskel in Kaydens Körper wollte rebellieren.
»Tu Tarfzt ta nich hinhöre. Tu zo, alz ziehzt tu daz nich und hörzt daz nich«, sprach der Jüngling auf ihn ein. Ihm schien das Geschehene nicht zu berühren. War es ihm denn gleichgültig?
Kayden verstand nicht, er wollte, konnte sich jedoch nicht bewegen. Er strengte sich an. Schaffte es hingegen aber nicht einmal seinen Kopf von den Fingern des Knaben abwenden, die nach wie vor auf seiner Stirn ruhten.
»Tu bizt zo ankeztrenkt.«
Kayden kniff die Augen zusammen und überlegte. Seine Gedanken überwarfen sich. Less schnupperte an seiner Hand, um dies dann zu stupsen. Er zwang sich zur Ruhe und atmete tief durch.
Was würde passieren, würde er sich den Schlägern entgegenstellen? Was würde sich ändern?
Der Junge hatte recht und ganz gewiss war es auch ihm nicht gleichgültig, was um ihn herum geschah. Tag ein Tag aus, musste er hautnah miterleben, wie sein Umfeld litt. Es war nicht nur die Stadt und derer Gebäude, die nach und nach dem Zerfall anheimfielen.
Seine zu Fäuste geballten Hände schmerzten, als die Muskeln begannen zu krampfen. Bewusst ließ er los, versuchte sich zu entspannen, gleichwohl vor seinem inneren Auge Bilder entstanden, die die gegenwärtige Situation widerspiegelten.
Als er seine Lider öffnete, erkannte er seinen Irrtum. Der Junge hielt ihn weder mit einem Zauber noch hatte dieser einen Sprachfehler. Er war Gefangener seiner eigenen Fesseln und im Mund seines Gegenübers konnte man deutlich übrig Gebliebenes einer zerkauten Erdknolle erhaschen. Den Rest davon fand er in dessen freien Hand.
»Wie heißt du?«
Wiederholt blieb der Junge ihm eine Antwort schuldig, schenkte ihm, nachdem er die Finger von der Stirn nahm, sein vermutlich herzlichstes Lächeln, zu welchem er imstande war. Mit all dem Schmutz im Gesicht sah es schon bemerkenswert aus, fand er, doch es zählte die Geste.
»Magst du mir deinen Namen nicht verraten?«
Abermals schwieg der seltsame Knabe, der es wie auch immer vollbrachte Kayden an Ort und Stelle zu halten. Ohne diesen, so wurde ihm bewusst, hätte er vermutlich wieder einen Fehler begehen wollen. Den Zweiten an einem einzigen Tag und beider Male wurde er zurückgehalten.
Der Junge hob den ausgestreckten Zeigefinger.
»Was ist da?« Kayden schaute in gezeigte Richtung. Auf dem ersten Blick vermochte er nicht zu erkennen, worauf er aufmerksam gemacht wurde. Doch, irgendetwas war dort oberhalb des Türsimses. Schwer zu bestimmen, aber ja. Absichtlich verunstalteten unbekannte Verzierungen auf Holz und Wand. Bei jenem einen, auf dessen Augen sich konzentrierten, fehlte das gesamte Mittelstück.
Als Kayden wusste, worauf er zu achten hatte, sah er sich aufmerksam um und öffnete vor Erstaunen den Mund. »Das ... das ist ...«
»Ziehzt tu ez?«
»Ja«, hauchte er ehrfürchtig und nickte.
Jäh drehte er sich herum und der Jüngling zuckte erschrocken zurück. Sah sich hastig um und weitete die Augen. Er vergaß sogar, an seine was auch immer, weiter herumzukauen.
Beschwichtigend hob Kayden die Hände und zeigte auf eine Stelle an seinem Kopf. »Alles gut. Tut mir leid. Sag, warum hast du mir die Finger dorthin gelegt?«
Wiederholt deutete der Kleine in Richtung Sims und Kayden tat wie geheißen. »Tu bizt er«, schmatzte er zufrieden.
»Wie?« Unschlüssig musterte er weitere Stilisierungen und zog die Lippen kraus. Während Kayden sich verständnislos den Nacken kratzte und sich herumdrehte, hielt er mitten in der Bewegung inne. »Nicht dein Ernst. Less?«
»Kayden verflucht. Wo bist du ...«
»Serfem«, begann er und warf einen suchenden Blick hinter den Ankömmling, der sich wiederum selbst zweifelnd umsah. »Hier war gerade eben noch ein kleiner schmuddeliger Junge.«
Angesprochener verzog die Brauen, die sodann einem ›V‹ glichen. »Den einzigen schmuddeligen Jungen, den ich hier sehe, bist du. Bist du in Ordnung?«
Hoffnungsvoll sah er auf zu seinem thulenischen Begleiter, der ihm mittlerweile zu einem treuen Freund geworden war. Dieser warf ihm einen gebundenen Sack zu und nickte die Straße hinauf.
»Ich habe uns ein Zimmer in der Nähe einer günstigen Schenke besorgt.«
»Die Taverne ›zum Silbereber‹.«
Serfem, im Begriff zu gehen, blieb wie angewurzelt und hielt seinen Schützling an der Schulter.
»Woher weißt du von dieser Absteige? Ich bin mir sicher, kein Wort darüber verloren zu haben.«
Er erhielt als Antwort lediglich ein Schulterzucken, einen unbeschreiblichen Ausdruck in den Augen, als hätte der Junge Gespenster gesehen. Er warf einen Blick zu jener Stelle, die Kayden kurz zuvor aufmerksam musterte und unverständlich vor sich hin brabbelte.
Dort war nichts. Unrat, bröckelnde Mauern und modriges Holz.