„Was um Himmels Willen ist los?“ fragte dieser und drückte seine Frau tröstend an sich. Lea erzählte ihm alles was sie erlebt und gesehen hatte. Nathaniels Augen drückten Verständnis, aber auch Erschütterung aus. „Dein Vater ist tatsächlich gekommen und du… hast ihn weggejagt?“ „Ja, ich weiss ja ich bin einfach zu dumm! Ich hätte doch anders reagieren sollen, ruhiger. Ich mache einfach immer alles falsch! Aber… ich war auf einmal so wütend. Auch weil er sagte, ich sei sensibel. Das habe ich irgendwie so verstanden, dass er mich als schwach ansieht. Ich bin wohl auch schwach, er hat ja eigentlich Recht, sonst hätte ich doch niemals sterben wollen. Ich habe einfach alles hinschmeissen wollen damals und habe allen die mich liebten, so viel Leid zugefügt. Ich mache einfach immer alles, alles falsch!“ Sie weinte nun noch bitterlicher und wiegte ihren Oberkörper hin und her, um den inneren Druck loszuwerden, das Gefühl des Selbsthasses, das Gefühl einfach nichts auf die Reihe kriegen zu können, welches sie schon so lange begleitete. Nathaniel konnte sie beinahe nicht mehr beruhigen und streichelte ihr über den Rücken
„Lea… das ist eben dein Problem… du siehst deinen eigenen Wert nicht ein, du gehst immer so hart mit dir ins Gericht und das löst dann so vieles aus. So viel an Elend, so viel an Verzweiflung. Dein Vater hat dich einst tief verletzt und du hast das alles einfach noch nicht verarbeitet. Jetzt kommt er einfach so und will wieder, dass du ihm vergibst, dabei hätte die Versöhnung schon viel früher passieren sollen. Ich verstehe darum deine Wut und auch irgendwie deine emotionale Reaktion, aber auf der anderen Seite, ist dir hier etwas Wundervolles widerfahren! Ich glaube dieser dunkle Mann in der Welt der Pferdefrau, hindert dich irgendwie daran, dir selbst Wertschätzung entgegenzubringen.“ Das wollte dir dein Vater vermutlich sagen und er nimmt seinen Teil der Schuld nun auf sich, das ist ein wundervoller Schritt.“ „Aber wenn das alles gar nicht real war, wenn ich mir das einfach schlicht nur eingebildet habe, Nathaniel?“ Langsam beruhigte sich Lea wieder etwas. „Was oder wer das auch immer war, er hat dir eine wichtige Botschaft gebracht Lea, sieh es doch einfach so! Sieh es als eine Botschaft von der göttlichen Welt, dass du dir einfach mehr Wertschätzung zuteilwerden lassen solltest. Ob es nun dein Vater war oder nicht, spielt das wirklich eine so grosser Rolle?“ „Ja… irgendwie schon,“ schniefte Lea und holte sich ein Taschentuch aus der Nachttischschublade. Sie schneuzte kräftig hinein und brachte nun sogar ein leichtes Lächeln zustande. „Was sagt dir denn dein Herz Lea? Höre auf dein Herz, du weisst dass es dir die Wahrheit sagt.“ Lea überlegte und besann sich auf ihr Herz. Einen Moment lang, sah sie den leuchtenden Greif vor sich, der ihr schon oft beigestanden hatte und dieser schaute sie nur an und… er nickte.“ Lea lächelte nun noch mehr und auf einmal kehrte wunderbare Ruhe in sie ein. „Ja… ich glaube, es war schon Papi. Eigentlich wirklich wunderbar!“ Nathaniel lächelte auch und küsste sie „So gefällst du mir schon besser. Dein Leuchten kehrt langsam zurück, meine Liebste. Freue dich doch an all dem Wundervollen, dass dir die letzten Wochen widerfahren ist und vergiss endlich deine Selbstvorwürfe! Du hast damals unter schweren Depressionen gelitten und warst nicht mehr du selbst. Jetzt jedoch, bist du auf den besten Weg immer mehr dich selbst zu werden. Vertraue auf all das, was dir begegnet und sieh es als wichtige Lernschritte an. So nun müssen wir aber wieder schlafen!“ „Ja, du hast Recht!“ lächelte Lea voller Dankbarkeit und Liebe und schmiegte sich eng in Nathaniels Arme. Gleich darauf, schlief sie selig ein…
Und ein wunderschöner Traum wurde ihr zuteil: Sie sah noch einmal ihren Vater vor sich und sie ging zu ihm hin und umarmte ihn. War sie wohl schon auf dem Weg ihm und auch sich selbst mehr zu vergeben…?
5. Kapitel
Das Mausoleum
Zwei Tage vergingen und Lea musste immer noch an das Erlebnis mit ihrem Vater zurück denken. So entschloss sie sich spontan, auf den Friedhof zu gehen, um sein Grab wieder einmal zu besuchen. Das Wetter war heute besonders schön und warm. Ausserdem unternahm Nathaniel jeden Samstagnachmittag etwas allein mit seinem Sohn und da konnte Lea ihre Zeit frei einteilen. Sie musste eine gute halbe Stunde fahren, bis sie bei dem doch recht idyllischen Friedhof ankam. Wie die meisten Friedhöfe, war er mit einer Mauer umgeben und ein schmiede-eisernes Tor bildete den Eingang. Die hellen Kies-Wege waren sehr sauber und ordentlich, die Grabreihen grösstenteils frisch mit Frühsommer- Flor, bepflanzt. Einige Grabsteine waren sehr prunkvoll, andere von schlichter Eleganz, andere wiederum sehr einfach.
Langsam, fast meditativ ging Lea den Weg entlang. Schöne, grosse Bäume, boten etwas Schatten, Bänke standen da und dort, wo man sich hinsetzen konnte. Eigentlich war Lea gerne auf Friedhöfen. Diese hatten meist eine sehr friedvolle, stille Ausstrahlung. Es gruselte sie nicht. Sie fühlte sie sich hier stets besonders verbunden mit der Anderswelt. Der Tod an sich, hatte ihr eigentlich nie Angst gemacht. Sie wusste, dass er nur ein Übergang in eine neue Dimension war. Sie fand das Tamtam, welches oft um den Tod gemacht wurde, deshalb eher lächerlich. Es gab so viele Filme und Geschichten, welche die Angst der Menschen vor dieser Thematik noch schürten. Doch besonders wenn man, wie sie, schon mal mit einem Bein im Grab gestanden hatte, verlor das Ganze zusehends an Bedrohlichkeit und Schrecken.
Sie erinnerte sich an den Moment zurück, als sie hinabgeglitten war, in diese geborgene, weiche Dunkelheit… als der Tod sie bereits mit seinem Mantel umhüllt und beinahe fortgetragen hatte. Doch es war ihr noch nicht bestimmt gewesen zu gehen. Darum war sie wiedergekehrt. Sie hatte noch eine Aufgabe auf dieser Erde zu erledigen und deshalb war sie sehr froh, hatte sie den Weg zurück gefunden. Jeden neuen Tag eroberte sie sich nun wieder ein Stück ihres Lebens zurück. Auch Stücke ihres Lebens, von welchen sie teilweise noch gar nicht gewusst hatte, dass sie ihr einst abhandengekommen waren.
All diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie das Grab ihres verstorbenen Vaters aufsuchte. Es befand sich in der zweithintersten, linken Reihe. Einen Augenblick lang hielt sie inne und setze sich auf eine der steinernen Bänke, welche sie irgendwie etwas an die Bänke, im unterirdischen Reich der Pferdefrau, erinnerten. Irgendwie sehnte sie sich sehr nach dieser Welt zurück. Einen Augenblick lang, hatte sie sich dort vollkommen sicher gefühlt, vollkommen im Einklang mit sich und allem Lebendigen . Doch dann war wieder dieser dunkle Mann gekommen und hatte alles verdorben. Das nahm sie ihm sehr übel und sie war davon überzeugt, dass sie ihm das nächste Mal etwas mutiger und entschlossener begegnen würde. Sie liess ihren Blick über die Umgebung streifen, lauschte auf das Zwitschern der Vögel, im nahen Geäst und zog den Duft der verschiedenen Blumen und Pflanzen tief durch ihre Nase ein. Es war sonst ganz still, keine anderen Geräusche drangen gerade an ihr Ohr. Friedhöfe waren wahrlich stille Orte. Auch Besucher hatte es gerade keine. Lea war ganz allein mit sich und den vielen akkurat angeordneten Gräber, mit ihren schon längst verstummten Insassen; von denen nicht viel mehr als Asche, oder Knochen übrig geblieben waren. Man huldigte hier den leeren Hüllen, von einst lebenden, atmenden Menschen, dabei waren deren Seelen schon längst weitergezogen. Lea stimmte sich auf die einzigartige Friedhofsatmosphäre ein und es gab hier tatsächlich nichts, dass irgendwie darauf hindeutete, dass irgendeine Seele noch an ihr Grab gefesselt geblieben war, oder böse Absichten hegte.
Sie schloss ihre Augen und atmete erneut tief ein. Auf einmal fühlte sie sich seltsam leicht, sie konzentrierte sich auf dieses Gefühl der Leichtigkeit, auf dieses Gefühl, dass entstand, wenn die Seele sich erhob und man den Körper immer weniger spürte. Ja… es war eigentlich ganz ähnlich, wie das Sterben! Doch Lea starb nicht, sie fühlte das Leben sogar ganz intensiv und mit jeder, noch so winzigen Faser ihres Daseins. Die irdische Schwere fiel von ihr ab und als sie schliesslich die Augen wieder öffnete, schien ein wogender Schleier, hinter welchem seltsames Licht hin und her waberte, über allem zu liegen. Irgendwie musste Lea automatisch daran denken, was die Buddhisten über den Schleier der Illusionen lehrten, welche die irdische Welt umhüllen sollte. Sie nannten diese Illusionen Maya. Einst hatte Mara, der Herr des Leidens, Buddha versucht und ihn davon abhalten wollen, hinter diese Illusionen zu blicken.
Seltsamerweise… erinnerte der dunkle Mann, dem Lea bei ihrer letzten Zwischenweltreise begegnet war, sie an diesen Mara. Vielleicht würde sie diesem Mann doch noch schneller auf die Spur kommen, als angenommen…
Das Licht, welches hinter dem seltsamen Schleier wogte, wurde nun immer klarer und heller und konzentrierte sich schliesslich auf eine besondere Stelle: Es war das nahe gelegene Grab, von Leas Vater, auf dessen Grabstein eine Sonne eingemeisselt war. Diese Sonne begann nun mehr und mehr zu strahlen und Lea wurde von ihr angezogen, wie von einem Magneten. Aus diesem Licht… trat nun erneut die Gestalt ihres verstorbenen Vaters! „Papi...“ flüsterte sie „Du hier, was… bedeutet das?“ Er gab jedoch keine Antwort, sondern bedeutete ihr schweigend, ihm zu folgen. Er brachte sie zu einem kleinen Familienmausoleum, dass es auf dem Friedhof gab. Noch einmal winkte er ihr zu. Die Tür des Mausoleums ging auf… und dahinter, lag absolute Schwärze! Ihr Vater trat ins Innere, sie folgte ihm und dann… auf einmal, verschwand das Licht und Lea fand sich allein in einem kleinen, dunklen Raum wieder.
Sie schaute hinter sich, doch der etwas hellere Eingang, schien bereits meilenweit entfernt zu sein. Wie in einem Traum ging sie vorwärts, tastete die Wände und den Bereich vor ihr ab. Sie sah absolut nichts mehr und einen Moment lang, ergriff sie Panik. Was geschah da mit ihr? Verschiedenste Horrorgeschichten, schossen ihr auf einmal durch den Kopf, Filme die sie schon mal gesehen, Bücher die sie schon mal gelesen hatte. War sie möglicherweise in eine Falle getappt? Doch wenn, warum bloss und… was erwartete sie hier, in diesen dunklen Gemäuern? Wo war sie überhaupt!
Die Grenzen zwischen der Irdischen und der Anderswelt, schienen einmal mehr zu verschwimmen und sie konnte nichts dagegen tun, aber… wollte sie denn überhaupt etwas dagegen tun? Immerhin war sie schon sehr gespannt, wohin sie ihr Weg diesmal führen würde…
Ihr Fuss, tastete auf einmal ins Leere! Sie schrie auf und verlor den Halt. Und dann fiel sie, fiel sie immer weiter hinunter, in einen scheinbar bodenlosen Abgrund…