Der Alte zog eine Augenbraue hoch und musterte Ben mit aufmerksamen Blick, während dieser sich den Staub von der Kleidung klopfte. Ben erschauderte bei den durchdringenden, hellen Augen und der Art, wie sie ihn zu durchleuchten schienen. Erstmals hatte er die Gelegenheit Herrn Bree aus der Nähe zu begutachten. Vielleicht würde er jetzt einsehen, dass der Alte nur ein Langweiler, wie all die anderen Erwachsenen war. Tatsächlich war an ihm nichts Außergewöhnliches zu erkennen. Sein Haar war silbrig grau, wie das vieler Greise. Seine Haut durchzogen von zahllosen Fältchen und eine feine Narbe zog sich aus seinem Hemdkragen bis zum Kinn hinauf. Wie üblich trug er seinen grauen Filzhut, an dem, wie Ben erst jetzt bemerkte, ein kleiner Büschel gelber Federn befestigt war. Lediglich Brees Augen gaben ihm etwas Besondres. Sie waren hell, fast schon durchdringend weiß mit einem grauen Kranz um die Pupille und stellten so manchen an Jungend in den Schatten.
„Soso“, brummte Herr Bree und verschränkte die Arme vor der hageren Brust, „Wen haben wie denn da? Ein Junge auf Abenteuersuche?“ Ben schrak bei der dunklen, grollenden Stimme zusammen und zuckte entschuldigend mit den Achseln, den Blick wieder fest auf den Boden gerichtet. Erwachsene mochten es seiner Erfahrung nach nicht, wenn man ihnen direkt in die Augen sah. Noch weniger mochten sie es, wenn man ihnen widersprach. „Ich habe dich etwas gefragt Junge.“
„Tut mir Leid“, nuschelte Ben in seinen Kragen, vermied noch immer den Blick von Brees durchdringenden Augen. Er neigte leicht den Kopf, zum Zeichen seines Respekts und der Entschuldigung, und trat zögerlich einen Schritt von dem Fremden zurück. Wenn seine Tante hiervon erführe…
Bree legte den Kopf schräg und erneut erschien das spöttische Lächeln auf seinen Zügen. „Komm rein.“ Ben sah erschrocken auf und wich einen weiteren Schritt zurück. Der Alte war vielleicht nicht Außergewöhnlich aber sicher unheimlich.
„Tut mir leid“; widerholte er tonlos und schüttelte den Kopf, „Aber ich muss zurück in die Küche. Meine Tante…“
„Wird sicher auch ohne deine halbherzige Hilfe zurechtkommen, du bist doch nicht grundlos hier, oder etwa doch?“
„Ich muss jetzt wirklich zurück!“
„Ben!“ Sein eigener Name ließ ihn erstarren und misstrauisch zu Herrn Bree aufschauen. Woher kannte der Alte seinen Namen? „Wenn man Abenteuer sucht, sollte man ihnen nicht bei jeder Gelegenheit ausweichen.“
„Abenteuer?“ fragte Ben zögernd und zog die Stirn in Falten. „Was soll ein alter Mann wie Sie von Abenteuern wissen?“
„Komm rein und ich erzähle dir ein Paar. Ich habe das Gefühl, dass ich damit nur auf dich gewartet habe.“ Erneut deutete er auffordernd in sein kleines Zimmer und lächelte Ben verschwörerisch an.
„Sie wollen ein Abenteurer sein?“, fragte Ben argwöhnisch und mit hochgezogenen Brauen. Er wusste selbst nicht, weshalb er der Aufforderung des Alten nachgekommen war, aber nun da er in seinem Zimmer stand, konnte er seinem eigenartigen Gefühl auch auf den Grund gehen. „Verzeihen Sie meine Worte, aber Sie sehen definitiv nicht wie jemand aus, der durch die Welt streift und die Gefahren sucht.“ Er sah erneut zu Bree zurück und musterte dessen hagere Gestalt abschätzig.
Der Alte lachte auf und murmelte ein paar unverständliche Worte, bevor er sich auf einen Sessel fallen ließ und wieder Ben widmete. „Ein Held der die Gefahr sucht? Nein, das bin ich tatsächlich nicht, oder nicht mehr. Die Gefahren und Probleme haben meist mich gefunden, ohne, dass ich es verhindern konnte. Nun ja, wenn ich ehrlich bin, habe ich das auch nie versucht.“ Erneut brach er in schallendes Gelächter aus.
„Dann sind sie ein einfacher Pechvogel?“, hakte Ben spöttisch nach, „Wie langweilig.“
„Ich würde mich viel lieber als Reisender unter widrigen Umständen beschreiben“; berichtigte Bree ihn noch immer schmunzelnd. „Auch, wenn mich so manch einer meiner Gefährten als eigensinniger Narr bezeichnet.“
„Wo sind ihre Gefährten?“, erkundigte sich Ben. Es schien ihm ohnehin eigenartig, dass ein solch alter Greis alleine reiste. „Wohin wollen sie?“
„Ich ziehe momentan nach Süden, wohin auch immer meine Füße mich tragen wollen, aber momentan muss ich das allein tun. Meine Freunde… ich schätze es reicht zu sagen, dass sie sich nicht mehr jung genug fühlen, um ihr trautes Heim zu verlassen.“ Ben nickte verständnisvoll und sah sich in Brees Zimmer um. Der Alte hatte vermutlich auf seinen Reisen zu viele Schläge auf den Kopf bekommen, dass er dachte ein großer Abenteurer zu sein.
„Was ist das?“, fragte er schließlich, um die peinliche Stille zu durchbrechen und deutete auf einen langen, dunklen Holzstab der in der Ecke lehnte. Komplizierte und fremdartige Muster waren in die Oberfläche geschnitzt und eine schmale Metallspitze zierte das Ende.
„Ein Kampfstab der Narbenmänner, den sie mir nach meinem Sieg gegen ihren Schamanen überreicht haben. Er ist ein Zeichen der Ehre und Willensstärke“, erklärte Bree nüchtern und lächelte beim Anblick des fremdartigen Gegenstands. Ben zog ungläubig die Brauen hoch und trat einen Schritt von dem Gegenstand zurück.
„Ein Kampfstab der Narbenmänner? Der Narbenmänner?“ wiederholte er skeptisch und schüttelte ungläubig den Kopf. „Den Bären lasse ich mir nicht aufbinden. Glauben Sie ja nicht, dass ich ein kleiner, dumme Junge bin, der jede absurde Geschichte glaubt.“
„Geschichten…“, Bree lachte, „Es ist so einfach sie zu erfinden und so schwer zu schreiben. Glaub mir Junge, ich war nie ein großer Erfinder, dafür aber immer bereit der Welt und ihren Wundern ohne Angst entgegen zu treten. Ist es nicht das, was einen Abenteurer ausmacht?“ Der Alte sah Ben abwartend an.
„Vielleicht, aber dafür müsste man zuerst an Wunder glauben… und an das Besondere“ Ben verschränkte die Arme vor der Brust. Der ‚Kampfstab‘ kam ihm mit einem Mal bedrohlich real vor.
„Und das glaubst du nicht? Du, der einen Fremden über Stunden beobachtet und ihm schließlich nachspioniert hat? Glaubst du nicht, dass so manches in der Welt mehr ist, als es den Anschein hat? Hast du nicht deswegen eine meiner Federn behalten?“
„Das mit dem Spionieren tut mir wirklich leid“, gab Ben kleinlaut zu. „Ich weiß auch nicht welcher Teufel mich da geritten hat.“ Unwillkürlich tastete er nach seiner Westentasche, in der sich noch immer das kleine, nutzlose Wunder verbarg.
„Ich schon. Du warst neugierig, du wolltest wissen was es mit mir auf sich hat und bist deinem Herzen gefolgt, anstatt der kalten Vernunft. Das ist etwas Besonderes.“ Bree musterte Ben erneut und deutete auf den Sessel zu seiner Linken. „Setzt dich mein Junge. Ich werde dir erzählen, wie vieles in der Welt besonders und außergewöhnlich ist. Von Dingen und Orten weit entfernt in Raum und Zeit, von einer Welt, die für Menschen wie uns erschaffen wurde. Für jene, die mit offenen Augen und Herzen leben.“