…How sad it is!
I shall grow old, and horrible, and dreadful.
But this portrait will
remain always young…
[Oscar Wilde- Das Bildnis des Dorian Gray]
Das Buch steht, eingeklemmt zwischen Michael Endes Unendlicher Geschichte und der Bibel, im obersten Fach von Mums weißem Bücherregal. Der Einband fühlt sich unter meinen Fingern angenehm kühl an, als ich es vorsichtig zwischen den beiden anderen Werken herausziehe. Das Bildnis des Dorian Gray steht in geschwungenen Buchstaben auf dem grau-grün verschnörkelten Buchcover. Ein Bildnis ziert den Umschlag. Das Bildnis eines Mannes von ehemals anmutender Schönheit.
Ich lösche hinter mir das Licht, als ich das Wohnzimmer verlasse und durch das nächtlich dunkle Haus, die Treppe nach oben, zurück in mein Zimmer schleiche. Darauf bedacht, Mum nicht zu wecken. Sie hatte einen anstrengenden Tag und ist früh zu Bett gegangen. Ich weiß gar nicht, um wie viel Uhr morgens sie aufgestanden ist. Als ich aufgewacht bin, war sie schon längst weg.
Durch das Dachfenster fällt Sternenlicht. Ich lege mich auf mein Bett und blicke empor in den nachtblauen Himmel. Wenn man lange genug ruhig daliegt und zu den Sternen hinaufsieht, hat man irgendwann das Gefühl zu fliegen.
Ich weiß, dass ich eigentlich schon längst schlafen sollte, aber ich kann nicht. Auf meiner Brust liegt ein Felsbrocken und drückt mir die Luft aus den Lungenflügeln, sodass mir das Atmen schwerfällt und ich mit jedem Atemzug das Gewicht spüren kann, das auf meinem Brustkorb lastet. Mir ist klar, dass das so nicht stimmt. Dass es nichts mit meinem Körper zu tun hat, dass ich jeden Atemzug gezielt nehmen muss, um nicht zu ersticken. Ich weiß, dass das kein reales Gewicht ist, das auf meine Lunge drückt. Es ist das schmerzhaft-süßlich ziehende Brennen hinter meinen Rippen und das verräterisch unruhige Kribbeln in meiner Magengegend, wenn ich die letzten Stunden Revue passieren lasse, das meinen Körper glauben lässt, dass ich an Atemnot leide. Und es ist dieses beklemmende Gefühl der Melancholie, das meine Gedanken immer und immer wieder rotieren lässt.
Ich richte mich auf und greife nach der Taschenlampe, um mir Licht zum Lesen zu machen. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal im Bett gesessen und mit der Taschenlampe bis weit nach Mitternacht ein Buch nach dem Anderen verschlungen habe. Das muss vor dem Krebs gewesen sein. Ich kann mich wage daran erinnern. Ich schlage das Buch auf und das vertraute Knistern der Seiten und der Geruch nach Papier, versetzen mich den Bruchteil einer Sekunde zurück in meine Kindheit. Ich streiche mit den Fingern die Seiten glatt und beginne zu lesen.
„Das Atelier war von starkem Rosenduft erfüllt, und wenn der leichte Sommerwind die Bäume des Gartens hin und her wiegte, strömte durch die offene Tür das schwere Aroma des Flieders oder das zarte Parfüm des Rotdorns.“ Plötzlich bin ich nicht länger Teil meiner Welt, sondern gefangen in einer ganz anderen. Die nächtliche Stille des Hauses, der Schein der Taschenlampe und die Sterne dort oben am Himmel, verstärken dieses Gefühl noch und machen meinen Verstand glauben, dass ich ein seltsamen Wachtraum durchlebe.
Es ist wie das Gefühl zwischen Wachsein und Schlafen. Du machst die Augen auf. Du bist noch da. Die Welt ist noch da. Alles ist gut und in Ordnung. Und dann trifft dich die Wirklichkeit mit voller Wucht.
Plötzlich ist mir nach Weinen zumute. Ich weiß nicht woher die Tränen kommen, die meine Wangen hinablaufen. Die Taschenlampe flackert und geht aus. Die Batterien sind leer. Ich rolle mich auf meinem Bett zusammen und schlinge beide Arme um meine angewinkelten Beine. Mache mich ganz klein. Ich spüre den Herzschlag in meiner Brust. Langsam und gleichmäßig. Und es fühlt sich an, wie aus einem wunderschönen Traum zu erwachen und plötzlich mit der Realität konfrontiert zu werden. Und auf einmal habe ich Angst. Weil sich in meinem Kopf ein Gedanke geformt hat, der mich nicht mehr loslässt. Und ich mich davor fürchte, dass dieser Gedanke Wirklichkeit wird und der Krebs wieder da ist.
Ich wünsche mir, dass Tyler hier ist. Und ich verabscheue mich dafür, aus der Straßenbahn ausgestiegen zu sein. Und ich bereue, nichts gesagt zu haben. Manche Dinge passieren einfach, Josh.
Hör auf, so kindisch zu sein, Will! Was ist bloß los mit dir?! Ich richte mich vorsichtig auf und fahre mir mit der Hand über das Gesicht, um die Tränenspuren zu verwischen. Alles wird gut. Das ist es bis jetzt immer. Es macht keinen Sinn, sich die schlimmsten Situationen auszumalen, wenn es im Endeffekt niemals so kommt, wie man annimmt. Ich lege das Buch auf meinen Nachttisch und stelle die Taschenlampe daneben. In der Hoffnung, dass ich mich morgen daran erinnere, die Batterien auszutauschen. Und ich lege mich mit der Gewissheit schlafen, dass ich morgen aufwachen werde. Und dass ich dann immer noch da bin. Und die Welt immer noch da ist. Und alles in Ordnung sein wird.