Zwiespältige Gefühle beherrschten Ginny. Der Severus Snape, der ihr gerade gegenüber saß, hatte nichts gemein mit dem eiskalten Todesser, der Hermine vergewaltigt hatte. Es war jener Snape, den sie in den vielen Wochen zuvor entdeckt zu haben glaubte, der mürrische, aber höfliche, wortkarge, aber aufmerksame Snape, der sich ihr seit dem kurzen Besuch von Hermine wieder gezeigt hatte. Er weckte Hoffnung in ihr, wo keine sein konnte. Drei große Taten sprachen gegen ihn: die Ermordung Dumbledores, die Vergewaltigung von Hermine und das Verraten des Geheimnisses um den Elderstab an Voldemort. Letzteres bereitete ihr immer noch Kopfzerbrechen.
"Darf ich eine Frage stellen?", fragte Ginny, während sie ihre Teetasse absetzte. Snape hob überrascht die Augenbraue, nickte ihr jedoch zu.
"Die Sache mit dem Elderstab, dass Harry nach Malfoy der nächste Besitzer war, wie konnten Sie das wissen? Sie waren doch bei den Ereignissen in Malfoy Manor gar nicht dabei."
Wieder verwandelte sich Snapes Miene in die ausdruckslose Maske, die Ginny nur zu gut kannte inzwischen. Stets gewann sie den Eindruck, er verberge einen grenzenlosen Hass dahinter - doch gegen wen oder warum konnte sie auch diesmal nicht sagen. Zu ihrer Verwunderung setzte Snape dennoch zu einer Antwort an: "Ich kannte die Details des Vorfalls in der Tat nicht. Erst am Tag der Schlacht um Hogwarts stieß ich durch Zufall auf die Wahrheit. Miss Granger erklärte Ihrem Bruder die Zusammenhänge, während sie gemeinsam den Zahn des Basilisken bergen wollten. Ich belauschte das Gespräch und berichtete dem Dunklen Lord davon."
Wütend ballte Ginny ihre Fäuste - Snape hatte also wirklich nicht nur das Leben von Dumbledore direkt, sondern auch das von Harry indirekt auf dem Gewissen.
"Miss Granger hat mir damit übrigens das Leben gerettet", fuhr Snape fort und Ginny meinte, sein Tonfall wäre plötzlich bitter geworden, "denn es stellte sich heraus, dass der Dunkle Lord dachte, ich sei der Besitzer des Elderstabes und er müsse mich töten."
"Das haben Sie ihr ja großartig gedankt!", flüsterte Ginny erschlagen. Es passte einfach nicht zusammen. Er trat ihr gegenüber auf eine Art und Weise auf, die ihn beinahe sympathisch machte - und gleichzeitig war er so ein Monster. Sie wünschte, sie hätte die Chance, noch einmal mit Hermine zu sprechen, um ihre Gedanken zu diesem Mann und seiner neuesten Eröffnung zu erfahren. Vielleicht konnte sie ihn ja irgendwann dazu überreden, mit ihr zusammen einige Tage bei den Malfoys zu verbringen.
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Er war tatsächlich wahnsinnig geworden. Nur Wahnsinn konnte erklären, warum er ausgerechnet ihr vorwarf, Harry verraten zu haben. Und überhaupt - warum störte es ihn?
"Wolltest du, dass Harry gewinnt?", fragte sie vorsichtig, nachdem Draco von ihr abgelassen und sich auf die Kante des Bettes gesetzt hatte, den Rücken ihr zugewandt.
"Wirst du es meinem Vater erzählen?", kamen scharfe, aber resigniert klingende Worte zurück.
"Was?"
"Ob du ihm von dem hier ... was ich gerade gesagt habe, erzählen wirst!"
"Nein, warum sollte ich?", fragte Hermine verwirrt zurück.
"Du spionierst für ihn!", fauchte er, während er sich ihr wieder zudrehte, "Und er für ... für du-weißt-schon-wen!"
"Ich bin nicht auf seiner Seite!", sagte Hermine fest, "Denk nach, Malfoy! Glaubst du wirklich, irgendetwas, das ich tun könnte, ich, das Schlammblut, würde dazu führen, dass er mich akzeptiert?"
"Er hat auch Muggel in seinen Diensten."
"Als Bauern in seinem Schachspiel, dazu da, ihre Aufgabe zu erledigen und dann entsorgt zu werden!", gab Hermine zurück, "Glaubst du wirklich, ich bin so dumm, so eine Rolle zu akzeptieren?"
Lange schwieg Draco, dann sagte er: "Aber Snape hat gesagt, er habe das Wissen über den Elderstab von dir! Ich habe gehört, wie er das gesagt hat!"
"Was weiß ich, was der erzählt! Snape wäre der letzte, dem ich so eine wichtige Information gebe!", schnaubte Hermine, "Und nun mach mich endlich los, du hast doch eh nicht vor, mich anzufassen!"
Für einen weiteren Moment zögerte Draco, ehe er aufstand, zu seinem Stab griff und die Fesseln verschwinden ließ. Augenblicklich setzte Hermine sich auf und zog die Decke bis unter ihr Kinn. Draco stand vor dem Bett, unschlüssig, was er nun tun sollte, und schaute auf sie hinab. Es war schließlich Hermine, die als erste an das ursprüngliche Thema anknüpfte: "Ich spioniere nicht für deinen Vater. Und wenn du wirklich für ... für Harrys Sache eintrittst, wäre ich überglücklich."
"Versteh mich nicht falsch, Granger", erwiderte Draco, während er auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz nahm, "ich gebe einen Scheiß auf Potters Tod. Ich weine ihm keine Träne nach. Aber das, was jetzt los ist, dieses Leben, das habe ich nie gewollt."
Es schien, als brächen plötzlich lange aufgestaute Gefühle aus Dracp heraus, denn ohne Hermine zu Wort kommen zu lassen, erzählte er seine Geschichte.
"Kannst du dir vorstellen, wie das ist? All das Gerede deines Vaters über vergangene goldene Zeiten - und dann kommt der Mann zurück, der für den Glanz angeblich verantwortlich war, und deine Familie sinkt Schlag auf Schlag in den Abgrund.
Als er damals in unserem vierten Jahr von den Toten zurückkehrte, war ich begeistert. Ich weiß bis heute nicht, wie er das gemacht hat, aber es erschien mir, als hätten all die Lobeshymnen meines Vaters nicht annähernd seine Macht beschrieben. Es war lustig mitanzusehen, wie Potter im fünften Jahr von allen verspottet wurde, weil niemand glaubte, dass der Dunkle Lord zurück war. Selbst der von allen geliebte Dumbledore wurde nur noch als verwirrter Spinner wahrgenommen.
Ich gebe zu, die Umbridge war durchgeknallt, aber sie gab mir die Chance, endlich mal Gerechtigkeit walten zu lassen. Immer wurdet ihr Gryffindors bevorzugt, aber jetzt saß ich am Drücker! Und wieder habt ihr euch über Regeln hinweggesetzt, habt diese Armee von Dumbeldore gegründet und uns ewig zum Narren gehalten. Und das schlimmste war, dass ich wusste, dass er zurück war, aber meine Eltern mir nichts sagen wollten. Ich musste mit ansehen, wie ihr unter Potters Anleitung einen Kampf vorbereitet ... und selbst wusste ich nichts darüber, was wirklich los war.
Bis zu dem Tag, als ihr in die Falle mit der Prophezeiung getappt seid. Mein Vater schrieb mir damals einen Brief, dass der Dunkle Lord einen Plan hatte, Potter rauszulocken, ohne dass seine Beschützer was merken. Ich sollte euch bewachen und eine Eule schicken, sobald Potter abhaut. Und trotzdem ... mein Vater hat versagt, was auch immer es mit der Prophezeiung auf sich hatte, er konnte die Aufgabe vom Dunklen Lord nicht erfüllen. Stattdessen wurde er zum Sündenbock für alles, was schief ging. Dass ihr fliehen konntet, dass das Ministerium endlich zugeben musste, dass er zurück war ... alles wurde meinem Vater zugeschrieben.
Als ich in diesem Jahr in den Sommerferien heim fuhr, dachte ich, stolze Eltern zu finden, treue Anhänger, die glücklich waren, endlich offen zum Dunklen Lord stehen zu können. Stattdessen ... meine Mutter hatte Angst. Mein Vater auch, aber er tat so, als sei nichts passiert. Aber ich wusste, dass etwas nicht in Ordnung war, spätestens, als meine Mutter immer öfter davon redete, ich solle das Dunkle Mal annehmen. Ich hätte gedacht, dass mein Vater das unterstützen würde, aber er war dagegen.
Sie haben ständig gestritten. 'Du bist ein Versager', hat Mutter oft zu ihm gesagt, 'wegen dir sind wir beim Dunklen Lord in Ungnade gefallen und nun willst du unsere einzige Chance auf Wiedergutmachung wegwerfen?' Die Antwort meines Vaters war immer dieselbe: 'Du weißt so gut wie ich, dass es hier nicht um Wiedergutmachung geht. Es ist eine Strafe! Er tut so, als reiche er uns gnädig seine Hand, aber in Wirklichkeit weiß er so gut wie wir, dass Draco die Aufgabe niemals erfüllen kann. Wenn wir akzeptieren, bedeutet das seinen Tod!'
Als ich das erste Mal dieses Gespräch belauschte, wurde mir klar, dass der Mann, den mein Vater so glänzend beschrieben hatte, einfach nur grausam war. Ich hatte keine Ahnung, welche Aufgabe ich übernehmen sollte, aber ich glaubte meinem Vater. Mutter hingegen ...
'Ich werde Snape um Hilfe bitten', meinte sie nur, 'wenn Draco versagt, muss er es tun. Keiner wird es wissen und dann muss der Dunkle Lord akzeptieren, dass Draco es geschafft hat ... und alles ist wieder gut!'
Ich erinnere mich noch heute an das freudlose Lachen meines Vaters: 'Närrin! Er wird wissen, dass Snape und nicht Draco ihn getötet hat! Es wird alles nur schlimmer machen! Wenn Draco akzeptiert, muss er das alleine durchziehen. Jede Hilfe würde dem Dunklen Lord einen Grund geben, ihn zu töten!'
Der Gedanke, dass ich jemanden töten sollte, bereitete mir Übelkeit, aber die Tatsache, dass ich es tun musste, weil ich sonst sterben würde, war noch viel, viel schlimmer. Seit dem Tag hatte ich Angst, Granger! Kannst du dir das vorstellen? Seit über zwei Jahren lebe ich täglich mit Todesangst. Meine Eltern haben mich an den Dunklen Lord verkauft. Mein Vater hat nachgegeben und mich auch gedrängt, das Dunkle Mal anzunehmen. Seit ich es habe, wünsche ich mir, dass du-weißt-schon-wer stirbt. So sehr, dass ich euch geholfen habe damals, als ihr hier gefangen wart. Ich hätte euch verraten können, habe ich aber nicht. Ich habe mein Leben riskiert für euch! Ich dachte wirklich, ihr könnt es schaffen!
Und jetzt ... jetzt lebe ich in einem Haus mit einer Mutter, die Tante Bella immer ähnlicher wird, und einem Vater, der nicht sieht, dass es seine Loyalität in Frage stellt, wenn er ein Schlammblut fickt und gleichzeitig seine Frau behandelt wie Dreck. Meine Eltern haben mich schon einmal an den Dunklen Lord verkauft, darum spiele ich den guten Sohn. Ich wette, sie würden mich bei dem kleinsten Verdacht an ihn verraten. Und dann du ... statt Potter zu helfen, verrätst du ihn an Snape. Und machst dich dann an meinen Vater ran. Warum? Mit dir an seiner Seite hätte Potter niemals verlieren können! Warum habt ihr versagt? Mein Leben ist vollkommen im Arsch ... wegen euch! Wegen dir!"
Der Hass, der aus den letzten Sätzen von Draco quoll, ließ Hermine für einen Moment vefürchten, dass er sie erneut schlagen würde. Stattdessen sank Draco erschöpft in sich zusammen und schloss die Augen. Erschlagen von den unerwarteten Eröffnungen von Draco saß Hermine einfach nur stumm da. Der zuvor unerklärliche Hass gegen sie, der immer dann besonders stark hervortrat, wenn Lucius Malfoy sie gut behandelte, ergab plötzlich Sinn. Ebenso verstand Hermine, dass seine Angst Ursache für seine Aggressivität war. Wie ein in die Enge getriebenes Tier fauchte Draco und gab seiner Angst in Form von Hass ein Ventil - Hass auf sie, die sich nicht wehren konnte, sie, die in seiner verdrehten Welt gut als Sündenbock funktionierte.
Nachdem Hermine verdaut hatte, dass Draco kein Anhänger Voldemorts war, ja ihn sogar tot sehen wollte, begann es fieberhaft in ihr zu arbeiten. Unerwartet bot sich hier die Möglichkeit, mit einem von der anderen Seite zu paktieren, einer, der kein Sklave war und als Mitglied einer ehemals respektierten Todesser-Familie eventuell sogar Zugang zu Voldemorts innerem Kreis hatte.
Doch der Draco, der jetzt vor ihr saß, wirkte so zerbrechlich, so resigniert und erschöpft, dass sie bezweifelte, dass er auch nur einen Gedanken an Aufstand oder Intrige verschwendete. Die seit zwei Jahren währende Todesangst, von der er gesprochen hatte, schien inzwischen einer stumpfen Resignation gewichen zu sein und brach nur noch vereinzelt in Form von Hass und Gewalt gegen sie hervor. Bevor sie mit ihm zusammen am Tod von Voldemort arbeiten konnte, musste sie ihn zunächst aufbauen, ihm Mut zusprechen, ihm Hoffnung schenken.
Es stellte sich nun nur noch die Frage, wie das ausgerechnet ihr in ihrer Position als Sklavin gelingen sollte.