"Rauchen ist ungesund!", die Stimme des einzigen Jungen in Ladiras Haus ließ Sassy herumfahren. Ihre Schwester hielt in der Bewegung inne, das Feuerzug schnippen zu lassen.
"Klugscheißer! Was willst du denn?", fauchte sie ihn an. Argwöhnisch musterte sie den blonden Jungen und seinen Begleiter.
"Wow, die Tussis sind ja grauenhaft", der verhüllte Mann neben Finn schien nicht besonders viel von ihnen zu halten.
"Und du bist ... Bah! Hier stinkt es ja widerlich nach...", Sassy hielt sich die Nase zu.
Finn deutete ihr leiser zu sprechen. Hier im Garten waren sie vor möglichen Lauschangriffen nicht sicher. "Nach Dämon", flüsterte er Sassy zu, "Flipp jetzt bloß nicht aus!"
Der verhüllte Mann lachte. Sie konnten unter der Schwärze der Kapuze des langen Mantels nichts ausmachen.
"Finn, sag mir bitte nicht, dass du ... Was zum?", zischte Sassy ihm zu, „Wer ist das?“
"Das ist Church", antwortete Finn, "Ein Dämon aus den Unterlanden. Er kam aus Silberfall hierher und er muss mit Pyrofera reden."
Sessy starrte die beiden misstrauisch an und tauschte einen kurzen Blick mit ihrer Schwester: "Weil? Will er sie töten?" Ihre Stimme klang spöttisch.
Church schnaubte ungehalten: "Ihr stinkt nach Blutsauger. Ihr tötet doch Leute, um sie zu verspeisen! Pack dich an der eigenen Nase, wenn du jemand verachten willst!"
Finn rollte die Augen und hob die Hände, um die Streiterei zu beenden: "Seid mal still! Es geht um Ladira! Sie schwebt in Gefahr und wir haben keine Zeit für so etwas Lächerliches. Meine Schwester ist auch verschwunden, falls euch das in eurer tollen Übernachtungspartystimmung gestern Abend aus dem Hirn entwichen ist!"
Sassy verdrehte die Augen: "Sagte der vertrauenswürdige Dämon! Ladira kann auf sich selbst aufpassen. Sie ist doch Odins Schülerin gewesen. Und warum sollte ich dir, Pickelfresse, helfen deine Schwester zu suchen? Ich weiß immer wo meine ist! Vielleicht solltest du besser auf sie achten, wenn du so an ihr hängst."
Was keiner der vier in ihrer hitzigen Diskussion bemerkt hatte, war, dass hinter einem der Obstbäume im Garten des Landhauses ein kleines Mädchen gelauscht hatte.
Shanora war Finn nachgeschlichen und hatte sich vor ihm versteckt, weil er sie einfach nicht zu seinen abendlichen Spaziergängen mitnehmen wollte. Der Plan war eigentlich gewesen, ein paar Tage unterzutauchen und zu warten, bis er sich totale Sorgen machte, um dann aufzutauchen. Dann hätte er sie bestimmt mitgenommen. Aber das, was bei Einbruch der Dunkelheit im Garten diskutiert wurde, weckte ihre Aufmerksamkeit stärker.
"Verdammt", murmelte sie, "Ich muss einen Weg finden, Ladira zu helfen. Die werden noch bis zum Morgengrauen diskutieren und doch wieder nichts hinkriegen!“ Shanora ballte entschlossen die Fäuste: „Wenn ich das schaffe, dann sieht Finn, dass er mich nicht wie ein rohes Ei behandeln muss. Ja, ich werde sie retten!“
Auf leisen Sohlen schlich sie, absolut überzeugt von ihrer Idee eine Heldentat zu begehen, an den drei Streithähnen vorbei, zurück ins Haus und dort direkt in Finns Zimmer. Dieses war wie üblich eine Katastrophe: unordentlich und das pure Chaos. Es würde kaum auffallen, wenn sie hier ein wenig Umdekorierte. Auf seinem Schreibtisch fand sie allerlei Kram: Bücher, Zettel und wirres Gekritzel. Sie seufzte. Selbst, wenn sie nicht so lese faul wäre, so dass sie meist länger brauchte, merkte sie, dass sie wohl nie Finns Sauklaue entziffern werden könnte. Ihr Gefühl ließ sie schließlich mit dem Brieföffner die verschlossene Schublade des Tisches aufbrechen. Das Schloss brach bereitwillig aus dem alten Holz und Shanora war sicher, dass Finn böse auf sie sein würde. Darin lag ein geöffneter Brief. Die Augen angestrengt zusammengekniffen, bemühte sie sich, den Inhalt zu lesen:
Lieber Finn,
hier ist der Schlüssel, den du wolltest. Das Verschwinden dieses Relikts wird früher oder später auffallen. Ich möchte dann nichts damit zu tun haben! Ich hoffe, du weißt, was du tust und wohin du gehen willst. Das, was du vorhast, ist gefährlich! Nimm dich vor den Dämonen in Acht! Yuna wird dir in den nächsten Tagen ein Päckchen bringen. Der Inhalt wird dir helfen sie zu bändigen!
Alles Liebe,
Kyra
Shanora sah sich die Schublade genauer an und nahm einen rostigen Schlüssel an sich, der darin lag. Ein suchender Blick durch das Zimmer, ließ sie tatsächlich ein ungeöffnetes Päckchen auf dem Bett entdecken. Schnell riss sie es auf und starrte enttäuscht auf den Inhalt. Es war nichts, als ein silberner Armreif in der Form einer Schlange. Die Augen mimten zwei komische Steine. "Nicht mal hübsch ist das Ding", stellte sie fest, "Warum sollte mein Bruder so etwas Hässliches tragen? Er ist doch sonst so eine Prinzessin." Plötzlich schien der Armreif zum Leben zu erwachen und noch ehe sie ihn fallen lassen konnte, schlang er sich um ihr Handgelenk. Erschrocken versuchte Shanora, ihn wieder abzustreifen, aber er war zu eng dafür. "Verdammt! Jetzt werde ich richtig Ärger bekommen", seufzte sie.
"Benutze den Schlüssel!"
Shanora blickte sich erschrocken um. Die Stimme schien von ihrem Handgelenk zu kommen. "Hast du mit mir geredet?", verdutzt hob sie ihre Hand und betrachtete den Armreif. Nichts daran schien auf Leben hin zu deuten, bis auf die Bewegung am Anfang. Sie zuckte mit den Schultern und ging zu Finns Zimmertüre. Der Schlüssel passte zu ihrer Überraschung, als sie ihn herumdrehte. Für einen Moment begann die Tür eigenartig zu schimmern und als Shanora sie öffnete, erschrak sie ob dem Bild, das sich ihr bot: Ein seltsam leuchtender See, düstere Wälder rund herum, verschwindend im Nebel. Sie wollte die Türe schon wieder zuschlagen, hörte aber wie jemand die Treppe zum oberen Stock emporstieg und Stimmen, die sich näherten. Eine davon war klar die ihres Bruders. Vor Angst erwischt zu werden, sprang sie auf die andere Seite und schlug die Türe zu. Diese verschwand im selben Moment und so stand sie mutterseelenalleine vor dem unheimlichen See.
"Dummes Ding, du hast den Schlüssel vergessen", hörte sie wieder die eigenartige Stimme. Shanora schluckte. Sie wusste nicht, was schlimmer war: Die Tatsache Stimmen zu hören oder, dass sie nun irgendwo an einem See mitten in einem gruseligen Nebelwald stand, ohne jede Chance wieder zurück in Finns Zimmer zu gelangen.
"Bist du glücklich? Zufrieden?"
Shanora fuhr herum. Eine männliche Stimme war an ihre Katzenohren gedrungen und sie duckte sich gerade noch rechtzeitig hinter einen Baum am Rand der Lichtung.
Ein Mann mit Federhut und eine Frau mit blauem Zopf näherten sich der Stelle, an der sie stand. Ihre türkisen Augen weiteten sich. Ihre Ziehmutter schlenderte langsam, scheinbar gestützt von dem Fremden, am Ufer entlang. Ein eigenartiges Leuchten umgab sie und ein violetter Schein den Mann, in dessen Zügen ein hochmütiges Lächeln lag.
Elijah warf Ladira einen fragenden Blick zu. Sie starrte apathisch auf den See. Irgendetwas hatte sich verändert, aber ohne Erinnerungen, war es schwer festzustellen, was es war.
"Ja", antwortete sie fast mechanisch, "Ich glaube schon. Oder?"
Elijah grinste überlegen: "Natürlich ist es das. Solange du hier bist, werden wir eine wunderschöne Zeit haben und das ist eine sehr, sehr lange Zeit."
Ladira kniff sie Augen zusammen. Sie brannten, als hätte sie Sand hineinbekommen. Das Bild des leuchtenden Sees schien zu verschwimmen. Wieder tauchte ein kurzes Wirrwarr an Stimmen in ihrem Kopf auf, dann ein Augenpaar, ungleiche Farben, ein Auge gelb, das andere rot. Rot wie Blut. Erschrocken, mit einer schnell ansteigenden Herzfrequenz und Panik stolperte sie zurück und landete unsanft auf dem Boden. Elijah verdrehte die Augen. "Wie viel kann in einem Kopf vorgehen?“, fluchte er leiser, ehe er lauter sprach, „Du solltest noch ein wenig schlafen und dich ausruhen, dann wird es dir besser gehen!" Er reichte ihr die Hand, um sie wieder auf die Beine zu ziehen.
„Ladira?!“, Shanora schlug die Hände auf den Mund. Sie hatte das nicht laut sagen wollen, doch ihr Schrecken ob der Szene vor ihren Augen, hatte den Weg für ihre Stimme geöffnet.
Elijah fuhr herum und hob die Hand. Der Nebel rückte zurück und Shanora wurde von einer unsichtbaren Kraft aus ihrem Versteck gezogen.
„Wen haben wir denn da?“, flüsterte er und seine Augen hatten sich ein wenig verengt, „Bist du eine Katze oder ein Mädchen?“
Shanora zog den Kopf ein. Die Blicke, die er ihr gab, waren ihr unangenehm und ihre Hände zogen den Saum des oftmals geflickten Kleides nach unten.
„Was habt Ihr mit Ladira gemacht?“, entgegnete sie ihm, bemüht tapfer zu klingen.
„Ich habe ihr geholfen, zu vergessen, was sie vergessen wollte.“
„Ach ja? Sie sieht nicht gut aus!“
„Wer bist du denn, Kleine, dass du dich da einmischen darfst?“, Elijah rümpfte die Nase.
„Ich bin ihr Ziehkind!“
Er lachte trocken auf: „Ihr Ziehkind? Ladira, meine Rose, erkennst du dieses kleine Mädchen? Sie behauptet, sie würde zu dir gehören.“
Ladira hob den Blick und ließ ihn einen Augenblick auf Shanora ruhen, die sie mit hoffnungsvollen Augen ansah. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Kopf wie ein Blitz und Ladira krallte die Hände in ihr Haar. Stimmen und Bilder schossen hindurch. Alle unklar, verschwommen, aber so viele, so drängend. Ihr wurden die Knie weich.
„Nein!“, ihre Stimme qualerfüllt, „Nein! Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Hört auf! Seid still!!“ Sie riss die Augen auf und Shanora japste nach Luft. Wahn lag in den Augen ihrer Ziehmutter und dann … Leere, als Elijah ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter legte. Leer wie die Augen einer Puppe.
„Verschwinde, Mädchen!“, zischte er ihr zu und zog Ladira in eine Umarmung, „Ich habe keine Verwendung für dich und sie erkennt dich offenbar nicht.“
Shanora schluckte schwer. Der Mann hob eine Hand und fixierte sie.
„Lauf, Dummkopf!“
Überrascht, riss die Stimme sie los und sie hastete ohne weiteres Zögern los. Stürmte an Elijah und Ladira vorbei und an der nächstbesten Stelle in den Wald hinein, so schnell sie ihre Füße tragen konnten. Es war nicht einmal Zeit, darüber nachzudenken, wie sehr Nadeln, Dornen der Büsche, Wurzeln und kleine Steine in ihre Füße stachen, da sie, wie die meiste Zeit über, barfuß war. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was sie gesehen hatte und Angst vor allem anderen. Shanora lief immer weiter, ohne stehen zu bleiben. Der Wald lichtete sich nach einer Weile und ihre Beine wurden mit jedem Schritt schwerer. Ihre Seiten schmerzten.
Ein breiter Weg offenbarte sich ihr, als der Wald endete. Erschöpft, verschwitzt und mit hochroten Wangen, taumelte sie nun mehr und brach auf die Knie. Mit einem Stöhnen stellte sie fest, dass diese wieder bluteten. Wunde Knie waren ihr Markenzeichen wie ihre Katzenohren, solange sie denken konnte.
„Oha! Was tust du denn hier?“, sanft drang eine Stimme an ihre Ohren, die pochten und rauschten vom Blut und ihrem eigenen, viel zu schnell gehenden Atem.
Shanora hob den Kopf, erblickte eine Frau und kroch zurück. Ihre Beine zitterten und weigerten sich, sie aufstehen zu lassen.
„Warte, warte“, die Frau kam hastig näher und ging vor ihr auf die Knie, „Alles ist gut. Ich will dir nichts tun. Ich bin Madras. Bitte hab keine Angst.“ Eine warme Hand berührte Shanora am Arm und sie traute sich, wieder aufzusehen. Die Frau vor ihr hatte langes blondes Haar und dunkle Augen. Spitze Ohren lugten aus den Haaren heraus und ihr Gesicht war gebräunt und sanft. „Hab keine Angst“, flüsterte sie mit einem warmen Lächeln, „Du kannst deiner Madras alles erzählen.“
Ladira zitterte. Ihre jüngste Erinnerung, an das Mädchen mit dem dunklen Haar, verschwamm gerade. Seine Finger streichelten zärtlich über ihre Schläfen und sie ließ sich, verstört wie sie war, von ihm zurück in seine Hütte am See geleiten, wo sie sich bereitwillig auf das Bett legte.
"Ich werde dir helfen", säuselte er und begann leuchtende Steine aus dem See auf ihre Brust zu legen. Elijah streichelte ihr noch einmal über den Kopf: "Keine Sorge, meine Rose, du wirst schlafen und dann wird alles vergessen sein! Alles wird gut."