Unruhig warf Hannes einen Blick auf seine Armbanduhr. Noch hatte er etwas Zeit, bis seine Verabredung zum Essen kommen würde. Er war wieder einmal viel zu früh erschienen. Typisch für ihn. Nervös trommelte er mit seinen Fingern auf den Tisch. Wie immer wusste er nicht, was ihn erwartete, und Ungewissheit war etwas, das er nicht ausstehen konnte. Aber er musste sich damit abfinden. Im Kopf ging er noch einmal alle möglichen Gesprächsverläufe durch, mit denen er im Verlauf des Abends rechnete: Fragen, Antworten, Vorschläge, Kompromisse, Einigung. Das war sein Ziel, und hoffentlich würde er es erreichen. Erneut warf er einen Blick auf seine Uhr. Es waren gerade einmal drei Minuten verstrichen. Seine Haut am Hals fing an zu jucken. Sicherlich kam das vom Rasieren, aber so etwas musste ja sein. Er konnte schließlich nicht zu einem Geschäftsessen mit Stoppelbart erscheinen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, wurde ihm noch unangenehm warm. Es half nichts, er musste sich bewegen. Mit einem letzten Blick auf die Uhr stand er auf und verließ den Tisch.
Das Licht der Deckenlampen spiegelte sich auf der schwarzen Oberfläche der Waschbecken in der Herrentoilette. Hannes kniff die Augen zusammen, er sollte sich abgewöhnen, immer so lange im Labor zu arbeiten. Aber es würde sich lohnen, da war er sich ganz sicher. Er drehte den Wasserhahn auf, beugte sich vor und benetzte sein Gesicht mit dem kühlen Nass. Nach ein paar weiteren Spritzern fühlte er, wie sich sein Puls langsam wieder beruhigte. Auch das Jucken seiner Haut war abgeklungen. Er richtete sich auf und warf einen kontrollierenden Blick in den Spiegel. Dank sehr großer Geheimratsecken trug er sein Haar kurzgeschnitten, weswegen er sich um seine Frisur keine Sorgen machen musste. Die Krawatte musste neu gebunden werden und auch das Hemd war aus der Hose gerutscht. Hannes kehrte zum Tisch zurück, nachdem diese kleinen Verbesserungen durchgeführt waren. Während er auf seine Verabredung wartete, ging er sicherheitshalber noch einmal alle Möglichkeiten im Kopf durch. Scheitern war keine Option für ihn, das stand fest. Das Leben eines Kleinunternehmers im Pharmabereich war nicht einfach, und seine Kostenkalkulation für das neue Medikament ging nicht auf. Ganz im Gegenteil, das verfügbare Budget für Forschung und Entwicklung war nicht nur aufgefressen, er stand auch am Rand des wirtschaftlichen Ruins. Würde sich kein Abnehmer für das Medikament finden, wäre sein gesamtes Lebenswerk verloren. Dieses Gespräch war seine letzte Hoffnung, denn alle anderen Kaufinteressenten hatten das Angebot abgelehnt. Hannes versuchte es dennoch positiv zu sehen, immerhin wusste er ja nun, was der Kunde hören wollte. Er musste nur die richtigen Worte finden.
»Guten Abend, Doktor Brunner, schön Sie zu sehen. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten?«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Hannes stand auf und sah sich einem Mittdreißiger gegenüber, der ihm die Hand entgegenstreckte.
»Guten Abend, Herr Schmitz. Nein, ich bin kurz vor Ihnen eingetroffen«, antwortete Hannes, während er die dargebotene Hand schüttelte.
Sein Gegenüber setzte sich, und nach dem üblichen Geplänkel sowie der Bestellung des Essens konzentrierte sich das Gespräch der beiden auf das Wesentliche. Im Gegensatz zu den vorherigen Interessenten stellte Schmitz wenige Fragen, sondern ließ sich von Hannes alles schildern: Hintergrund der Entwicklung, biochemische Eigenschaften, Unterscheidungen von anderen Produkten, Wirkungsgrad, Anwendungsbereich und Erfolgschancen.
All diese Fakten führte Hannes so ausführlich wie nötig aus, beschränkte sich jedoch auf die wichtigsten Informationen und Resultate. Die Probleme, die bei der Entwicklung aufgetreten waren, ließ er dabei unter den Tisch fallen.
Schmitz nickte nur und fragte an einigen Stellen wenige Details nach. Bisher schien er zufrieden zu sein. »Vielen Dank, Doktor Brunner. Wie Sie ja wissen, waren wir ja schon vorher an Ihrem Produkt interessiert. Ein Medikament, mit dem sich Alzheimer behandeln lässt, würde unsere Marktposition als alleiniger Hersteller extrem verbessern. Jedoch habe ich noch eine sehr wichtige Frage: Die Dokumentation, die Sie uns übermittelt haben, war da nicht aussagekräftig genug, um uns zu überzeugen. Welche Nebenwirkungen hat das Produkt?«
Das war die Frage, vor der Hannes sich fürchtete. Bei den Teststudien berichteten mehrere Patienten über Herzrasen und Kopfschmerzen. Die Mediziner meinten sogar, dass die regelmäßige Einnahme des Medikaments das Risiko von Schlaganfällen und Herzinfarkten erhöhen würde. Wenn man Alter und den gesundheitlichen Zustand der Zielgruppe berücksichtigte, war ein Scheitern abzusehen. Zum Glück blieben diese Informationen noch unter Verschluss, und somit konnte Schmitz nichts davon wissen. Die Dokumentation wurde von Hannes dementsprechend beschönigt, nun musste er jedoch mit der Wahrheit herausrücken. Er war sich ziemlich sicher, dass seine Lüge irgendwann ans Licht kam.
»Die Nebenwirkungen sind noch nicht vollends erforscht«, gestand er offen. »Es gibt sehr viele Fälle von Herz-Kreislauf-Problemen, wie erhöhter Blutdruck oder Bildung von Thromben sowie ein vermehrtes Auftreten von Gefäßaneurysmen.«
Schmitz zog eine Braue hoch. »Sie wissen schon, was das bedeutet, oder?« Seine Stimme war bar jeder Freundlichkeit und hatte einen lauernden Unterton angenommen.
Hannes’ Haut am Hals fing wieder an zu jucken, und er fühlte sich eingeengt. »Mir ist durchaus bewusst, was es bedeutet, aber ich kann Sie beruhigen. Es ist eindeutig erwiesen, dass bei einer kombinierten Einnahme mit den üblichen Medikamenten keine Komplikationen auftreten.« Am liebsten hätte er sich die Krawatte abgenommen und den obersten Hemdknopf geöffnet.
»Was wollen Sie mir damit sagen?«, fragte Schmitz.
Hannes leckte sich über seine trockenen Lippen. »Nun, in der Anfangsphase können Sie ja eine Empfehlung herausgeben, dass eine kombinierte Einnahme des neuen Medikaments mit einem Ihrer bestehenden Produkte sinnvoll sei, um eventuellen Nebenwirkungen vorzubeugen. Den Gewinn, den Sie aus dem Verkauf erzielen, können Sie bei Bedarf in die Forschung investieren und somit, trotz möglicher Nebenwirkungen, Ihre Marktposition ausbauen. Betrachten Sie die Situation unter diesem Aspekt: Sie bringen zwar wissentlich ein Produkt mit riskanten Nebenwirkungen auf den Markt, die jedoch mit der Einnahme eines anderen Medikaments aus Ihrem Sortiment kompensiert werden können. So bleiben Sie Ihren Kunden gegenüber ehrlich und haben dennoch einen Marktvorsprung.« Hannes versuchte, sich ein lockeres Lächeln abzuringen und hoffte, dass Schmitz nicht merkte, wie nervös er war.
Sein Gegenüber lehnte sich zurück und strich sich nachdenklich übers Kinn. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte er auf den Tisch vor ihm. Nach einer kleinen Zeitspanne, die Hannes wie eine Ewigkeit vorkam, begann Schmitz leicht zu lächeln. Die Rechnung ging anscheinend auf. »Chapeau, Herr Doktor! Sie haben es geschafft, mich zu überzeugen. Der Mehrgewinn, den wir erzielen können, sollte die Kosten der Forschung decken, und ich persönlich rechne mit einer kurzen Amortisationszeit. Wir kaufen Ihr Medikament.«
Hannes konnte es nicht fassen. Er hatte es tatsächlich geschafft, einen Abnehmer zu finden.
Schmitz holte derweil seine Aktentasche unter dem Tisch hervor und entnahm ihr zwei Blankoverträge. Ein Exemplar reichte er Hannes, während er das andere vor sich legte und in die Innentasche seines Jacketts griff, um einen Kugelschreiber hervorzuholen.
»Wie war noch mal der Name?«, fragte er nach.
»Dystopal.«
Schmitz nickte wieder, während er den Namen des Medikaments in die Vorlage eintrug und das Dokument unterschrieb.
Auch Hannes unterschrieb sein Vertragsexemplar und reichte es Schmitz.
Nachdem die Dokumente ausgetauscht waren, bestellten sich die beiden Männer noch einen Whisky.
»Auf Dystopal!«, sprach Schmitz den Toast aus.
Hannes sagte nichts, sondern stieß nur an. Ein großer Stein fiel von seinem Herzen, während der Alkohol seine Kehle hinabfloss. Ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Auch wenn seine Lüge aufgedeckt wurde, so war seine berufliche Existenz vorerst gesichert. Alles Weitere würde sich im Laufe der Zeit ergeben.