Als sie am nächsten Morgen in ihr Haus zurückkehrten, schien sich die Welt auf eine geheimnisvolle Art gewandelt zu haben. So zumindest fühlte es sich für Thorstein an, als er Hand in Hand mit Rúna ins Halbdunkel des kleinen Raumes eintrat.
Nachdem sie beinahe die ganze Nacht leise miteinander geredet hatten, waren sie erst kurz vor dem Morgengrauen eng aneinander geschmiegt in einen leichten Schlaf gefallen. Einer der Stallknechte hatte sie dann durch sein fröhliches Pfeifen und Eimerklappern geweckt und während sich seine Gefährtin mit roten Wangen halb hinter ihm versteckte, hatte Thorstein gutgelaunt mit dem Mann ein paar belanglose Worte gewechselt. Dass sie im Stroh übernachtet hatten, war dem anderen zwar nicht entgangen, doch hatte er genug Respekt vor einem Krieger wie Thorstein, dass er kein Wort darüber verlauten ließ.
Dem Steuermann war es egal. Zum ersten Mal, seit er mit Rúna zusammen war, hatte er das Gefühl, etwas grundlegend richtig gemacht zu haben. Er war ehrlich gewesen und hatte sich nicht nur für seine voreiligen Entscheidungen entschuldigt, sondern ihr auch erklärt, warum er geglaubt hatte, sie wegschicken zu müssen; was er gefühlt hatte, als er erfuhr, dass es gerade Ragnar gewesen war … Wie hilflos er sich vorkam … Und sie hatte ihn verstanden!
Ja, in dieser Nacht hatten sie beide viel von sich preisgegeben. Auch Rúna war offen zu ihm gewesen, hatte mehr als jene paar dürren Worte gefunden, mit denen sie ihm das erste Mal von jener unsäglichen Nacht und der Zeit danach berichtet hatte. Obwohl es ihr wirklich schwer fiel, hatte sie ihn einen Blick auf ihre Empfindungen werfen lassen, hatte ihm gezeigt, wie sie dachte und spürte.
Danach hatte es sich für ihn so angefühlt, als hielte er ihr Herz und ihre Seele in seinen Händen. Es gab keine Mauern mehr zwischen ihnen, keine Geheimnisse. Dass sie ihm damit auch mehr Macht über sich eingeräumt hatte als je eine andere Frau zuvor - Snót eingeschlossen - erkannte er, während er im Dunkel den leisen Geräuschen der Tiere gelauscht und sie dabei fest in seinen Armen gehalten hatte. Und er war ihr gefolgt und hatte auch von sich Dinge verraten, die niemand außer ihr je von ihm wissen würde. Die lange Nacht kam ihm vor wie ein Weg nach Hause, ein paar letzte Schritte, bevor man in einem Heim ankam, nach dem man sich gesehnt hatte. Es war, als hätte Jorunn ihr Orakel geworfen und wie durch Zauberhand waren alle Schicksalsknöchelchen an den richtigen, den perfekten Ort gefallen.
Ja, er war nach wie vor zornig auf Ragnar. Wie sollte es auch anders sein? Doch der Wunsch, sich dem Jarl voller Rache zu stellen - koste es, was es wolle - war verblasst und hatte vernünftigeren Gedanken Platz gemacht. Er, Thorstein, hatte viel Wichtigeres zu tun, als Sühne für Vergangenes zu fordern. Seine Gefährtin hatte recht - ganz egal, was er tat, nichts würde die Vergangenheit ändern. Doch die Zukunft … Thorstein lächelte still.
Es galt, für seine kleine Familie ein Zuhause zu schaffen, in dem sie sich alle drei wohlfühlen würden. Rúna sollte die Möglichkeit haben, weiter in Ruhe und ohne Angst bei Jorunn zu lernen und sie sollte durch den Ort gehen können, ohne, dass sie mitleidig oder missgünstig angestarrt wurde. Auch, wenn ihm das Schweigen nicht wirklich gefiel, war es vernünftig, dabei zu bleiben. Die Götter würden ihr Blut am Julfest bekommen und danach sollte ihr Leben endlich wieder in alltägliche Bahnen gelangen.
Rúna hatte Thorstein gebeten, bei diesem Ritus zurückhaltend zu bleiben und sie hatte ihm als Gründe den kleinen Björn genannt aber auch das Wohlergehen der ganzen Siedlung. Dass auch sie selbst von Rache absehen konnte, obwohl sie den Dolch schon an Ragnars Kehle gelegt hatte, war dann das letzte, wichtigste Argument gewesen. Sie beide schafften das! Sie konnten Maß halten und sie würden sich nicht auf dieselbe Stufe mit einem Mann stellen, der sich daran ergötzt hatte, eine wehrlose Frau unter sich zu zwingen.
Bis heute war es Rúna völlig unverständlich, warum der Jarl das getan hatte. Einzig den starken Met hielt sie für eine Ursache, dass ihm so die Sinne durchgegangen waren. Sie wusste, dass sie ihm keinen Grund gegeben hatte zu glauben, sie wolle ihn. Und auch Thorstein war sich inzwischen sicher, dass es nicht an Rúna gelegen hatte. Auch, wenn die Krieger immer gern die Schuld den Frauen zuschoben, wenn etwas Derartiges geschah, so sah er doch viel zu deutlich, wie sehr sie unter der Erinnerung litt. Die Schuld lag allein bei Ragnar. Und er würde sie ihm nicht durch einen schnellen Schwerthieb abnehmen. Nein! So einfach bekam sein ehemaliger Freund keinen Freibrief von ihm. Doch er stand ihm auch nicht unwissend gegenüber - etwas, was durchaus hätte passieren können, wäre Rúna nicht mutig genug gewesen, sich ihm anzuvertrauen.
So aber war der dem Jarl gegenüber im Vorteil, als dieser ihm später am Tag gegenüberstand.
Thorstein saß nahe dem kleinen Feuer, dass die Schiffsbauer entzündet hatten, um sich zwischendurch während ihrer Arbeit zu wärmen. Die Rümpfe aller drei Kriegsschiffe waren inzwischen fein säuberlich mit dem Kiel nach oben auf grob behauenen Stämmen am Strand abgelegt worden. Muscheln und Algen waren abgeschlagen und nun begannen die Männer, die Planken auf ihre Stabilität zu untersuchen. Dort, wo sie keine Schäden fanden, überzogen sie das Holz mit einer neuen Schicht Kiefernteer. Einen ganzen Sommer lang hatten die Köhler das schwarze Harzprodukt gesammelt. Nun lag der strenge Duft nach Pech und frischem Holz über dem Strand und der Siedlung.
Tief atmete der Steuermann den geliebten Geruch ein. Trotz aller Schrecken der letzten Wochen war er auf eine neue, stille Art glücklich. Die Nornir hatten seine Schicksalsfäden neu geknüpft und Thorstein fühlte sich einfach nur vollkommen zufrieden. Heute Morgen hatte er Rúna noch zu Jorunn gebracht und die Völva hatte sie beide zu einem bescheidenen ersten Mahl eingeladen. Sie hatten über Alltägliches gesprochen und Jorunn ließ seine Gefährtin wissen, welche Pläne sie für den Tag gemacht hatte. Kleine Dinge, wie die Suche nach einem bestimmten blutstillenden Baumpilz und der Beginn des geplanten Seifensiedens zauberten seiner Frau ein Lächeln auf das Gesicht. Solvig hatte ihn angelacht und am Bart gezogen und er war begeistert gewesen, wie flink die Kleine schon durch Jorunns Behausung krabbelte. Es war ein kleines, sehr verletzliches Glück, das er da gefunden hatte. Das wusste er. Doch es war, was es war - Glück!
Erfüllt von diesen Gedanken, brauchte er einen Moment, um zu verstehen, dass der Jarl zu ihm kam, als der Mann mit großen Schritten auf die Feuerstelle zueilte. Der Weg von der Siedlung bis zu seinem Platz war lang genug, um sich auf die Ankunft von Rúnas Schänder noch ein wenig vorzubereiten. Trotz aller vernünftigen Argumente konnte Thorstein in Ragnar gerade nichts anderes sehen. Trotzig richtete er sich ein wenig auf. Er würde zu seinem Wort stehen und Ragnar am Julfest verschonen. Doch er war sich sicher, dass der Mann für ihn nie mehr ein Freund sein würde. Ja, selbst als Kampfgefährten würde er ihm immer skeptisch gegenüberstehen.
Ragnar wurde mit jedem Schritt, den er ging, langsamer. Bei Thor und allen Göttern! Wie sollte er Thorstein nur beibringen, was er ihm zu sagen hatte? Wie ließ man einen Mann wissen, dass man seine Gefährtin zum Beischlaf gezwungen hatte? Der Jarl wusste es nicht. Und der Weg bis zu den Schiffsbauplätzen war viel zu kurz, um noch ein weiteres Mal darüber nachzudenken. Schon in der Nacht, als er sich schlaflos auf seinem Lager gewälzt hatte, waren ihm keine Worte eingefallen, die diesem Gespräch gerecht wurden. Dann hatte er Lathgertha gehen lassen müssen und mit der Rückkehr in sein nun stilles, verwaistes Haus war ihm erst recht bewusst geworden, was ihm nun bevorstand. Selbst wenn Gertha mit Björn zum Julfest zurückkehrte … Es gab keine Sicherheit, dass es danach wieder so sein würde wie vor der Nacht mit Rúna. Wenn er doch seine Begierden ein wenig besser im Griff gehabt hätte … oder die kleine Braunhaarige ihm hinter ihren Mehlsäcken gar nicht aufgefallen wäre … ja, wenn sie damals gar nicht erst beigedreht hätten und an dem Dörfchen nicht Halt gemacht …
Doch was dachte er da? Hätte … wäre … wenn … die Götter hatten sicher ihren Spaß an ihm!
Längst war er dem Bauplatz am Strand nahe gekommen. Thorstein saß auf einem unbehauenen Stamm am Feuer und sah ihm entgegen. Der Blick des Mannes war fest und erwartungsvoll und je länger Ragnar ihn während seines Ganges musterte, um so sicherer war er - Thorstein wusste es. Er wusste es und er wartete nur noch darauf, dass er, Ragnar, ihm seine Tat bestätigte.
Unsicher machte der Jarl die letzten Schritte und stand dann vor seinem ehemals besten Freund, der ihn schweigend erwartet hatte.
"Ich muss mit dir reden, Thorstein", begann Ragnar zögernd. Es fiel ihm schwer, dem Älteren in die Augen zu sehen. Damals, als er ihm Hörner aufgesetzt hatte, war ihm der Steuermann schwach und angreifbar erschienen, kein Gegner, vor dem er Angst haben musste. Heute aber, wo der Krieger ganz offensichtlich die Götter auf seiner Seite hatte und wieder halbwegs genesen war … Wie hatte er nur so blauäugig handeln können?
Erleichtert sah er, dass Thorstein den Blick auf seine Hände gerichtet hatte. Der Mann hielt einen kleinen Gegenstand auf der linken Handfläche, den er mit dem Zeigefinger der Rechten nachdenklich hin und her schob. Es schien ein mittelgroßer Bernstein zu sein und wenn er es richtig sah, waren in die polierte Oberfläche feine Zeichnungen eingeritzt. Großen Wert hatte das Stück sicher nicht. Dennoch schien es für Thorstein eine Bedeutung zu haben, denn er starrte darauf, als er dem Jarl antwortete: "Es gibt nichts, was du mir noch sagen musst, Ragnar." Dabei sprach er leise und langsam, sodass keiner der nahebei arbeitenden Männer etwas von seinen Worten mitbekam. "Nachdem Jorunn euch gehört hat, gab es für Rúna keinen Grund mehr, mir deinen Namen zu verschweigen oder das, was du getan hast."
Noch einmal fuhr Thorstein liebevoll über das kleine Schmuckstück in seiner Hand. Dann sah er auf und betrachtete den vor ihm stehenden Mann, als sähe er ihn zu ersten Mal. "Es war schlau von ihr und Rollo, dass sie mir bis gestern verschwiegen haben, wer der Schänder meiner Gefährtin ist. Hätte ich dich eher erkannt, einer von uns hätte das Julfest nicht erlebt. Mein Zorn hätte das niemals zugelassen. Nun aber - und diese Erkenntnis verdanke ich einer bemerkenswerten Frau - weiß ich, dass es Wichtigeres gibt, als mich mit dir zu schlagen."
Der Steuermann senkte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das kleine Stück Bernstein in seiner Hand. Es gehörte Rúna. Jorunn hatte es ihr heute zurückgegeben, kurz bevor er nach dem Morgenmahl aufgebrochen war. Es war der einzige Besitz, den sie als Sklavin aus ihrer Heimat mitgebracht hatte. Die Völva hatte den kleinen Stein in einer Falte ihres Lagers gefunden, nachdem sie die junge Frau nach der Überfahrt behandelt hatte. Von ihrer Vision geleitet, hatte sie den Schmuck behalten und ihn für Rúna aufbewahrt.
Lächelnd fuhr Thorstein die Konturen des endlosen Knotens nach, der in das Harz geschnitten war. Spirale für Spirale wirkte das Symbol den Wunsch nach einem ewigen Leben. Seine Gefährtin hatte den kleinen Anhänger über all die Wirren ihres wechselhaften Lebens bewahrt. Sie war so glücklich gewesen, dass diese Erinnerung an ihre Mutter nicht in den Wirren der Überfahrt verloren gegangen war! Dass er ihn nun bei sich trug, schloss den Kreis, den er seit der letzten Nacht in ihrer beider Schicksal zu sehen glaubte.
Ragnar war verunsichert. Er hatte mit Zorn und Wut gerechnet, nicht aber mit diesem mangelnden Interesse, dass ihm der Steuermann gerade entgegenbrachte. Ja, er spürte, dass sich der Ältere beherrschen musste, um nicht doch laut zu werden. Dennoch verstand er ihn nicht. War es Thorstein denn wirklich egal, wer seine Gefährtin bestieg? Hatte er sich so viel Ärger eingehandelt, obwohl es dem Mann eigentlich gar nichts bedeutete? Oder sah er schon wieder nicht, was um ihn herum wirklich geschah? Wollte Thorstein ihm sagen, dass er mit seinem Tod am Julfest rechnete und sich deshalb keine Gedanken mehr um den ehemaligen Freund machte?
Aber der sitzende, nachdenkliche Krieger hatte auch darauf eine Antwort. "Wenn Rollo Rúna nicht hinterher geschwommen wäre … wenn sie tot wäre … dann hätte ich nichts mehr zu verlieren und würde dich gnadenlos jagen, Ragnar", ließ er den noch immer vor ihm stehenden Mann durch die zusammengebissenen Zähne wissen. "So aber sind sie und Solvig für mich viel wichtiger als so ein kleiner, betrügerischer Wicht wie du. Odin selbst hat dich gesehen, Ragnar. Und ganz egal, was du in Zukunft noch tun wirst, du wirst immer mit dem leben müssen, was du getan hast."
Thorstein erhob sich mühsam und stand dann dem verunsicherten Jarl auf Augenhöhe gegenüber. "Das Julopfer mag dich vor den Asen reinwaschen, Ragnar Loðbrók, Jarl von Straumfjorður. Doch auch dein Blut kann die Zeit nicht zurückdrehen. Denn wir, die du betrogen hast, werden immer wissen, wozu du fähig bist. Noch braucht dich die Siedlung und noch ist Björn nicht in der Lage, dir als Jarl nachzufolgen. Ich aber sehe dich. Und ich werde nicht zulassen, dass du einen deiner Untertanen erneut betrügst."
Der Steuermann trat einen Schritt zurück und wandte sich den Schiffen zu. Doch dann bog er sich ein letztes Mal zurück. So ließ er den Jarl noch nicht gehen. "Solltest du aber Rúna noch einmal zu nahe kommen und sei es auch nur mit Blicken oder Worten, werde ich nicht mehr auf meine Vernunft hören. Dann, Ragnar Loðbrók, wirst du dir wünschen, sie nie zu Gesicht bekommen zu haben!"