Große, schwarze Wolken zogen langsam dahin und verhüllten den Himmel. Es dauerte nicht lang bis sie sich von ihrer Last befreiten und dicke Tropfen auf die Erde herabfielen. Manche zerplatzten auf dem Asphalt und dem Beton der Straße. Andere trommelten gegen Fensterscheiben und liefen schwerfällig am Glas herunter. Es war ein herrliches Wetter um es sich daheim gemütlich zu machen. Die meisten Menschen zogen sich mit einer warmen Decke auf das Sofa zurück, schauten fern, lasen ein Buch oder lauschten den Klängen der Musik.
Die Kreativen jedoch fühlten sich vom Regen angezogen. Sie zogen sich in ihre Studios, Werkstätten und Arbeitszimmer zurück und schufen unterschiedliche Werke. Musiker versuchten mit ihren Melodien den Weg der Tropfen vom Himmel zur Erde zu beschreiben, Maler hielten den Blick aus ihrem Fenster fest, Bildhauer schufen Figuren, die den Regen priesen und Autoren bannten unheimliche und traurige Geschichten auf Papier. Zumindest sollte dem so sein. Aber manchmal bleibt der Kuss der Muse trotz nahezu greifbarer Inspiration aus.
So erging es auch Walter. Schweigend stand er an der Tür, die zu seinem Balkon führte, und starrte hinaus. Seit Tagen saß er schon an einem neuen Manuskript, bisher waren jedoch alle Versuche, die angefangene Geschichte fortzuführen, erfolglos geblieben. Entweder war die Handlung zu komplex oder zu einfach. Er schaffte es nicht den goldenen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen zu finden. Seufzend drehte er sich um und ging zu seinem Schreibtisch. Es herrschte reinstes Chaos. Primär- und Sekundärliteratur seiner Idole türmten sich zu wackeligen Stapeln auf. Dazwischen fanden nur einige wenige andere Gegenstände Platz. Ein überquellender Aschenbecher, eine Tasse, der man den extremen Kaffeekonsum ihres Besitzers ansehen konnte, die alte Schreibmaschine, von der Walter sich einfach nicht trennen konnte und eine kleine Lampe, die das Chaos weiter in Licht und Schatten unterteilte. Ein melancholisches Lächeln huschte über Walters Lippen. Dieser Schreibtisch war für ihn nicht nur ein Arbeitsplatz, sondern auch ein Selbstbildnis. Er kannte genug andere Autoren, die einen aufgeräumten Arbeitsplatz hatten und die alles Notwendige für die Geschichte entwickelten, ehe sie mit dem Schreiben anfingen. Seine Arbeitsweise war das Gegenteil. Hatte er erst einen Einfall, setzte er sich unverzüglich an seine Schreibmaschine und arbeitete so lange daran, wie es ihm möglich war. Leider kam dann auch immer der Moment, wo er sein Pulver verschossen hatte und tagelang kein einziges Wort zu Papier brachte. Nachdem Walter sich gesetzt hatte, holte er ein kleines Etui, auf dem seine Initialen eingraviert waren, aus der Brusttasche seines Hemds, klappte es auf und nahm eine Zigarette heraus. Nein, heute würde er keinen Satz mehr zu Papier bringen. Es wäre besser, er würde seine abendliche Zigarette rauchen und dann ins Bett gehen.
Sein Schlaf war tief und in seinen Träumen wandelte er auf verworrenen Pfaden, die ihm seine Geschichte klar und deutlich vor Augen führte. Als er erwachte, wusste er, was er zu tun hatte. Er sprang aus dem Bett, rannte zum Schreibtisch und fing an zu tippen. Seine Finger flogen über die Tasten und für die nächsten Stunden durchbrachen nur das Tickern, Klingeln und Ratschen der Maschine die Stille in seiner Wohnung. Erst als die Schmerzen hinter seiner Stirn unerträglich wurden und sein Körper den Tribut für die harte Arbeit forderte, löste er sich von seiner Schreibmaschine und lehnte sich erschöpft im Stuhl zurück. Er atmete schwer und versuchte seine verkrampften Muskeln zu lockern. Ächzend stand er auf und verließ das Schreibzimmer. Im Hausflur hielt er kurz inne um sich in einem großen Spiegel, der an einer Wand stand, zu betrachten. Sein Haar stand in alle Richtungen ab und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er brauchte wirklich eine Pause, immerhin konnte er es sich nach über hundert geschriebenen Seiten auch erlauben. In der Küche nahm er sich eine Flasche Wasser und leerte sie gierig in großen Zügen, ehe er ins Bad ging und die Wanne mit heißem Wasser füllte. Entspannt lehnte er sich zurück und genoss die Wärme. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf seine Lippen als er an seine Geschichte dachte. Sie war wirklich ein Meisterwerk und wandelte genau auf dem schmalen Grat zwischen subtilem Grauens und brutaler Gewalt. Er war schon auf die Stimmen der Kritiker gespannt, die sein Werk sicherlich genauestens unter die Lupe nehmen würden. Ja er konnte die Spaltung der Literaturwelt bereits vor sich sehen. Aber bis dahin war noch etwas Zeit, er beschloss sich erst mal selbst zu belohnen und nach dem Bad einen langen, ausgedehnten, abendlichen Spaziergang zu unternehmen.
Braune, vergilbte Blätter bedeckten den Boden des kleinen Waldstücks, in das es ihn verschlagen hatte. Ein leichtes Rascheln begleitete seine Schritte. Die letzten Sonnenstrahlen schienen zwischen den Bäumen hindurch und färbten den aufziehenden Nebel rosa. Beim Spazierengehen blieb er immer wieder stehen um die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Es war fast so wie in seiner Geschichte. Seine Schritte führten ihn auf eine kleine Lichtung, die von Birken umrandet war. Auf dieser Lichtung stand ein Stein, und er kam regelmäßig hierher, um sich vorzustellen, wie vor vielen Jahrhunderten Druiden zusammenkamen, um hier auf dieser Lichtung ihre Rituale zu vollziehen. Ein alternativer Heilpraktiker hatte ihm geraten sich mit dem Stein zu verbinden, da er einen Knotenpunkt der Kraft bildete. Walter hatte zwar ungläubig gelächelt, insgeheim glaubte er hingegen an ein ähnliches System. Jedes Mal, wenn er den Stein berührte, durchströmte ihn eine Art von Energie und brachte ihn auf neue Ideen, die er in seinen Geschichten verarbeitete. Er wollte dieses Ritual auch dieses Mal vollführen. Langsam fuhren seine Finger über die warme Oberfläche und folgten den Linien.
Er schmunzelte, als er bemerkte, dass er anscheinend unwillkürlich ein Muster zeichnete. Das Muster würde sicherlich gut in seine Geschichte passen, ja es könnte sogar ein wichtiges Element zur Lösung der Geschichte sein. Sein Finger fuhr in eine Vertiefung und umstrich sie mehrmals langsam. Fast wirkte es, als wenn er sie mit seinem Finger liebkosen würde. In seinem Kopf kamen immer neue Ideen zustande, die er in seiner aktuellen Geschichte einbauen oder verarbeiten könnte, aber plötzlich durchfuhr ihn ein gleißender Schmerz. Bunte Punkte führten einen wirren Tanz vor seinen Augen auf, verzerrten seine Sicht und seine Beine fühlten sich an als bestünden sie aus Pudding. Mit auf den Knien gestützten Händen atmete er mehrmals tief durch und blinzelte.
Als er wieder klar sehen konnte und sicher war nicht sofort umzukippen, hob er seinen Blick. Er stand am Rand der Lichtung und blickte auf den Stein. Verwirrt schüttelte er seinen Kopf und wollte sich abwenden, als er merkte, dass seine Beine ihm nicht gehorchten. Es schien als wäre er festgewachsen. Er drehte seinen Oberkörper soweit es ging nach links und rechts, aber es half nichts. Fast hätte er gelacht. Die Situation war wirklich absurd. Er war allein im Wald und konnte seine Beine nicht mehr bewegen. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Weder in seinen Träumen noch in anderen Zuständen, die er ausprobiert hatte. Als er sich wieder zurückdrehte, sah er wie sich auf der anderen Seite der Lichtung eine schattenhafte Gestalt aus dem Nebel löste und langsam auf ihn zukam. Erneut versuchte er zu fliehen, aber er konnte sich nicht bewegen. Sein Herz raste vor Angst, während der Schatten immer näher kam. Seine Augen fuhren über die Gestalt, aber er konnte keine Einzelheiten ausmachen. Seine Bemühungen, sich aus seiner Paralyse zu befreien, wurden immer stärker. Vielleicht konnte er davonkriechen. Er musste nur fallen. Panisch warf er seinen Oberkörper hin und her. Ohne Erfolg. Als er sich wieder zur Lichtung drehte, stand die Schattengestalt direkt vor ihm. Der Schrei, den er ausstoßen wollte, blieb ihm im Halse stecken. Das was ihm gegenüberstand war kein Mensch! Die Gestalt hatte keinerlei Konturen, es schien als würde sie nur aus Dunkelheit bestehen. Einer Dunkelheit, aus der ihn zwei pupillenlose, weiße Augen anstarrten. Nach einiger Zeit hob die Gestalt einen Arm und fuhr über sein Gesicht. Als die Spitzen der spinnenbeinartigen Finger seine Haut berührten, hinterließen sie ein kaltes, brennendes Gefühl. Walter murmelte leise vor sich hin und flehte um seine Unversehrtheit, aber er verstummte als sich ein Finger auf seine Lippen legte. Die Gestalt umfasste seinen Kopf und beugte sich wie zum Kuss vor. Walter meinte eine bösartige Häme in den Augen zu sehen, ehe er einen Schrei des Entsetzens ausstieß und in seinem Stuhl hochfuhr.
Verwirrt blickte er sich um. Er war nicht mehr im Wald. Er saß immer noch an seinem Schreibtisch. Während sein Herzschlag sich beruhigte, fügte sich alles zusammen. Die Erschöpfung hatte Überhand gewonnen, und er war eingeschlafen, nachdem er die Seite fertig getippt hatte. Ein Schaudern durchlief ihn, als er noch mal die Szene überflog. Der Protagonist fand ein weiteres Opfer des Mörders in einer alten Druidenstätte und fing an zu begreifen, dass sein Gegenspieler nicht aus dieser Welt kam. Schnell nahm Walter das Papier aus der Maschine und legte es mit dem Gesicht nach unten auf den Stapel der anderen Seiten. Nach diesem Albtraum wollte er sich nicht weiter damit beschäftigen. Dafür gab es morgen noch genug Zeit, wenn er weiter schreiben würde. Er stand auf, streckte sich, nahm das Zigarettenetui vom Tisch und ging auf seinen Balkon. Frische Luft war das, was er jetzt, neben einer Zigarette, am ehesten brauchte.
Von seinem Balkon aus konnte er direkt in das kleine Waldstück sehen, das an sein Wohngebiet grenzte. Noch war es ruhig. Jedoch würden in ein paar Stunden die nachtaktiven Waldbewohner aus ihren Bauten kommen. In aller Seelenruhe zündete er sich seine Zigarette an und sog den Tabakqualm genüsslich ein. Die kalte Abendluft trocknete den Angstschweiß, der sich auf seiner Haut gebildet hatte und das Zwitschern der Vögel hatte etwas Beruhigendes. Er fühlte wie er sich entspannte und sich der Griff seines Albtraums langsam löste. Sich selbst so zu erschrecken, das hatte er noch nicht geschafft. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen für die Intensität seines momentanen Werks. Er lachte amüsiert, vielleicht sollte er diese Tatsache ins Vorwort einbauen. Nein, das wäre zu viel des guten, was sollten die Leute von ihm halten, wenn er dem Schattenmann aus seinen Albträumen dankte? Kopfschüttelnd drückte er den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und ging ins Bett. Die schattenhafte Gestalt bemerkte er nicht. Sie stand am Rande des Lichtkreises und sah ihn aus großen pupillenlosen Augen an. Als er die Balkontür schloss, drehte sie sich um und verschwand im Dunkel der Nacht.
Am nächsten Tag nahm er sich frei. Wie es weitergehen würde wusste er schon, aber er brauchte jetzt einen Tapetenwechsel und musste unter die Leute kommen. Er schlenderte durch die Straßen der Stadt, bummelte durch die Einkaufspassage und ließ sich in einem Straßencafé nieder. Es war immerhin Zeit für ein Frühstück, das aus einem Café au Lait und einem Buttercroissant bestand. Während er auf seine Bestellung wartete, blätterte er durch eine Ausgabe der Tageszeitung, die jemand am Platz liegen gelassen hatte. Mehr gelangweilt als interessiert überflog er die Überschriften der jeweiligen Artikel, da er sich um das Zeitgeschehen wenig bis gar nicht kümmerte. Der einzig interessante Artikel war der über die neue Spur im Falle eines verschwundenen Kindes. Nachdem er sich gestärkt hatte, würde er diesen Artikel genauer Lesen.
Er konnte sich noch vage an den Fall erinnern. Das Kind war eines Nachmittags vom Spielen nicht heimgekehrt. Danach wurde eine großangelegte Suchaktion von Polizei und freiwilligen Helfern gestartet, die ergebnislos blieb. Man fand nur einen Schuh, der dem Kind gehörte. Eine Sonderkommission wurde eingerichtet, aber nach etwa zwei Wochen war das öffentliche Interesse abgeschwächt. Nun, etwa anderthalb Monate nach Verschwinden des Kindes, wurden neue Spuren gefunden und die Medien wurden wieder hellhörig. Ein Spaziergänger hatte eine Jacke im Wald gefunden, an der Blut haftete. Laut der Pressemitteilung der Polizei handelte es sich um die Jacke des Kindes und ein Gewaltverbrechen konnte nicht mehr ausgeschlossen werden. Walter musste schlucken, als er las wo die Jacke gefunden wurde. Es war die Lichtung im Wald, auf dem der alte Druidenaltar stand. Irgendwie war ihm die Sache nicht geheuer, besonders nach seinem Albtraum. Der Artikel war jedoch noch nicht zu Ende. Die Polizei ging von einem Serientäter aus, da bei den Ermittlungen Ähnlichkeiten von anderen Fällen, in denen Kinder als vermisst gemeldet worden waren, aufgedeckt wurden. Zu guter Letzt wurden die Eltern gebeten, ihre Kinder beim Spielen nicht aus den Augen zu lassen und sie auch nicht mit in den Wald zu nehmen. Spaziergänger sollten besonders aufmerksam sein und alle Hinweise an die Polizei weiterleiten, die sie dann in ihre Ermittlungen mit einbeziehen würde. Walter hatte genug gelesen. Da war es wieder, dieses kribbelnde Gefühl in seinem Rücken. Wider Erwarten war der Zeitungsartikel sehr inspirierend gewesen, und er hatte eine Idee, wie er seiner Geschichte noch den Feinschliff verpassen konnte. Der freie Tag musste leider aufgegeben werden, da Arbeit auf ihn wartete. Langsam faltete er die Zeitung wieder zusammen, legte sie auf den Platz, trank seine Tasse aus, zahlte und verließ das Café.
Die Nacht war schon längst hereingebrochen, als er endlich sein Werk vollendete. Er hatte nicht nur sein Manuskript fertiggestellt, sondern auch schon die ersten Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen. Immerhin verhinderte er damit ein unnötig ausgedehntes Lektorat, denn seine Leser warteten auf Nachschub von ihm. Außerdem wollte er den Fall der verschwundenen Kinder nutzen, um zusätzliche Aufmerksamkeit für sein Buch zu erregen. Natürlich würden ihn manche Kritiker dafür angreifen und ihn takt- und gefühllos schimpfen, das war ihm herzlich egal. Ein berühmter Autor konnte sich so etwas leisten. Ebenso wie eine Zigarette als Belohnung. Instinktiv steckte er seine Hand in die Brusttasche seines Hemdes. Verwundert runzelte er die Stirn, als er erfolglos in dem Chaos seines Schreibtisches nach seinem Zigarettenetui tastete. Hatte er es verlegt? Eventuell zwischendurch eine geraucht? Auf dem Balkon liegengelassen? Auch nachdem er seine Wohnung durchsucht hatte, fand er es nicht wieder, vermutlich hatte er es verloren. Seufzend zuckte er mit den Schultern. Dann musste er wohl auf seine Gute-Nacht-Zigarette verzichten. Müde ging er in sein Schlafzimmer und fiel aufs Bett, wo er auch prompt einschlief.
Als er die Augen aufschlug, blickte er auf den vollen Mond, der zwischen dem Blätterdach des Waldes herabschien. Vorsichtig richtete er sich in eine sitzende Position auf und zuckte zusammen, als ein beißender Schmerz durch seinen Kopf schoss. Er wartete bis sich die bunten Kreise vor seinen Augen verflüchtigt hatten und das Pochen in seinem Schädel auf ein erträgliches Maß abgeklungen war. Wie war er hierhergekommen? Er wusste zwar, dass sein Schlaf sehr unruhig war und er sich oft bewegt, dass er schlafwandelte, war ihm allerdings neu. Verwirrt blickte er sich um. Er war wieder auf der Lichtung mit dem alten Steinaltar. Neben ihm hatte jemand eine Grube ausgehoben, aus der ihm ein süßer, fauliger Geruch in die Nase stieg. Was mochte wohl darin liegen? Neugierig beugte er sich vor und stieß einen Schrei aus. Gebrochene Augen starrten ihn anklagend an. Münder waren zu stummen Schreien geöffnet. Plötzlich kam Bewegung in die Leiber. Unendlich langsam hob sich ein Arm und ein verwester Finger deutete auf ihn. Er sprang auf, drehte sich um und rannte in blinder Panik davon.
Als er in seiner Wohnung angekommen war, warf er die Tür ins Schloss und verriegelte sie. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und atmete tief durch. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Seine Beine gaben unter ihm nach und er sank zu Boden. Während er da saß, den Kopf in den Händen vergraben, kamen die Bilder aus dem Wald wieder in seine Erinnerung. Der faulige Geruch des Grabes. Sein Fund. Die Blicke. Die Faust eines Riesen fuhr in seinen Magen und stülpte ihn um. Er rappelte sich auf, eilte ins Bad und übergab sich in sein Waschbecken. Sein Magen zuckte immer noch unter den Krämpfen, obwohl er nichts mehr beinhaltete. Walter drehte das Wasser auf, wusch sich den Mund aus und benetzte sein Gesicht um einen klaren Kopf zu bekommen.
Als er den Kopf hob, erschrak er. Sein Spiegelbild lächelte bösartig und zwinkerte ihm zu. Mit einem Schrei prallte Walter zurück, während sich das Lächeln seines Konterfeis zu einem Grinsen ausdehnte.
»Überrascht mich zu sehen?«, fragte es ihn.
»Du!«, begann Walter. »Was bist du?«
»Ich? Ich bin du. Oder besser gesagt, ich bin das, was du verbirgst. Dein Inneres nach außen gekehrt. Deine dunkle Seite sozusagen.«
»Hast du mich in den Wald gebracht? Hast du diese Grube ausgehoben? Hast du… «, Walter konnte es nicht aussprechen. Wollte es nicht!
»Nein, das warst du ganz allein. Ich habe nur etwas nachgeholfen.«
»Warum?«, flüsterte Walter heiser.
»Weil du es so wolltest. Oder hast du das Versprechen vergessen, dass du all denen gegeben hast, die dich damals gedemütigt haben? Du hast ihnen versprochen, dass du sie allesamt zerbrechen wirst, sobald du die Kraft dazu hast. Sie würden weinend vor dir knien und um Vergebung betteln, die du ihnen nicht geben würdest.«
»Aber nicht so!«
»Das sagst du jetzt. Tief in deinem Innern empfindest du jedoch Befriedigung. Und wage es nicht zu leugnen, ich kenne dein Inneres besser als du dir vorstellen kannst.«
Etwas schlug gegen die Wohnungstür. Walter reagierte nicht darauf.
»Was hast du nur getan?«, wollte Walter wissen.
»Du solltest dich lieber fragen, was du getan hast.«
Das Schlagen gegen die Wohnungstür wurde stärker. Walter schüttelte den Kopf.
»Nein!«, flüsterte er.
Das Holz der Wohnungstür splitterte. Walter fing an zu schreien.
»Nein! Das war ich nicht! Das warst du! Du warst das, du elender Bastard!«
Er bemerkte nicht die Polizisten, die in seine Wohnung stürmten und ihn zu Boden rissen.
»Du hast diese kranke Scheiße verzapft! Ich bin unschuldig! Das warst du! Du krankes, perverses Schwein! Du hast das zu verantworten!«
Insgesamt waren sechs Beamte nötig, um den Tobenden zu bändigen, der lauthals schreiend seine Unschuld beteuerte. Sie achteten nicht auf sein Rufen und folgten auch nicht seiner Aufforderung in den Spiegel zu sehen; sie waren zu sehr damit beschäftigt, den sich wehrenden Verdächtigen aus der Wohnung zu tragen. Hätte einer der Beamten beim Rausgehen einen Blick zurückgeworfen, hätte er gesehen wie Walters Ebenbild unbehelligt im großen Spiegel stand, hämisch grinste und zum Abschied winkte.