Stumm lief ich weiter, als hätte ich nichts mitbekommen. Der Junge kam aus dem Zimmer neben Unserem gestürmt und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was hast du gehört?“, fragte er besorgt und rannte panisch auf mich zu.
„Nichts, was sollte ich schon gehört haben? Ich bin gerade erst rein.“
„Hör auf mich anzulügen!“, befahl er mir und stieß mich gegen die Wand. Prüfend starrte er mir in die Augen und versuchte jede einzelne Lüge aus ihnen ablesen zu können. Verzweifelt versuchte ich seinen Augen auszuweichen, doch es wollte mir einfach nicht gelingen Es war als wäre er überall, als könnte ich seinen drohenden Blicken nicht mehr entkommen. Der Druck an meinen Schulterblättern wurde immer stärker und ich biss die Zähne zusammen, um einen Schrei zu unterdrücken.
„Sag das du es gehört hast!“, befahl er mir erneut. Aus Angst, was er mit mir machen würde, schwieg ich und schüttelte immer wieder den Kopf. Mein Puls raste und seine lauten Schreie hinterließen einen Schweißfilm auf meiner Haut.
„Tue bloß nicht auf unschuldig, ich weiß genau, dass du gelauscht hast. Deine Augen flehen mich an und deine Lippen beben.“
Er machte mir Angst, was war los mit ihm? Ich kannte ihn nicht, aber er hatte nicht den Eindruck auf mich gemacht, als wäre er gefährlich. Sein plötzlicher Sinneswandel erschreckte mich. Er wurde immer wütender und stieß mich mehrere Male gegen die Wand. Er lehnte sich mit seinem kompletten Körpergewicht gegen mich und nahm mir damit die Luft zum Atmen.
„Ich habe nichts gehört“, keuchte ich mit versagender Stimme. Langsam wurden seine Augen immer enger und finsterer, seine Miene beängstigender und seine Geduld weniger. Ohne Vorwarnung ließ er meine Schultern los, aber nur um mich noch im selben Moment am Hals zu packen und mich erneut gegen die Wand zu stoßen. Er hielt mich nur noch mit einer Hand fest, doch diese war so stark, dass ich nicht mal versuchen musste, mich zu währen. Seine linke Hand riss er nun erschreckend entschlossen weit nach oben und ließ sie für einen Augenblick dort. Mein Herzschlag setzte aus und ich hielt die Luft an.
Schon in der nächsten Sekunde, kam sie mit voller Wucht auf mich zugerast und prallte nur ganz knapp neben meinem Kopf, in die Wand. Von der Wand war plötzlich ein wenig Wandfarbe abgebröckelt und seine Handknöchel bluteten stark.
„Warum funktioniert es bei dir nicht?“, fragte er nervös, versuchte mir noch intensiverer in die Augen zu starren und stieß einen lauten, verzweifelten Schrei aus. Endlich ließ er ab von mir, als seine Blicke zu seiner blutenden Hand wanderten und er sie auf ein mal vor mir zu verstecken versuchte. Endgültig hatte ich meine Freiheit wieder und schnappte nach Luft. Er schenkte mir keinen weiteren Blick und machten sich wortlos auf den Weg nach unten. Natürlich hatte ich gewollt, dass er mich endlich loslässt, aber jetzt, wo er einfach ging ohne sich um mich zu sorgen, fühlte ich mich plötzlich verlassen. Verlassen von jemanden der mir hatte weh tun wollen. Wieso dachte ich nur so? Was machte ihn so besonders, dass er nicht aus meinem Kopf verschwinden wollte?
„Ich habe keine Angst vor dir!“
„Ich habe keine Angst!“, schrie ich ihm hinterher, doch da war schon längst nach draußen verschwunden. Einsam stand ich im Flur und starrte erschrocken, fassungslos und enttäuscht die Treppe hinunter. Wie konnte er mich so anschreien? Mir weh tun? Dieser Umgang mit mir verletzte mich, obwohl ich nicht mal einen Grund dazu hatte.
Seufzend lief ich wieder in mein Zimmer und warf mich ins frisch bezogene Bett. Mein Handy hatte ich endlich komplett aufgeladen aus der Steckdose ziehen können, doch genau jetzt interessierten mich die ganzen Leute einen Scheißdreck. Warum machte es mich nur so fertig, dass er sich mir gegenüber so gemein verhielt? Ich kannte ihn verdammt noch mal nicht und ich sollte ihn wohl besser auch nie kennenlernen, aber ich wollte es so unbedingt.
Was hatte er auch so blöd gefragt? Natürlich hatte ich es mitbekommen, wer hätte das bei diesem Geschrei nicht? Oder wollte er mich nur verunsichern? Wissen ob ich schwach war? Wenn er nicht gewollt hätte, dass irgendjemand von diesem Gespräch erfährt, hätte er und der Kutschfahrer geflüstert, aber das hatten sie nicht.
Und warum war er so empört aufgesprungen? War es ihm wirklich so peinlich mit mir gesehen zu werden? Was auch immer er vorhatte oder was er dachte sich auf sein Aussehen einbilden zu können, so hatte er das letzte Mal mit mir geredet. Er würde schon sehen was er davon hat. Ich war nicht schwach und auf den Mund gefallen war ich erst recht nicht! Fest entschlossen nahm ich mir vor beim nächsten Mal die Taffe zu spielen, unnahbar und unerreichbar für ihn zu sein. Das hatte er eben davon.
Eine Weile hing ich doch noch am Handy und beantwortete einige Whatsapp Nachrichten. Doch Annes Chat ließ ich getrost aus. Sie hatte mir unzählige Fotos geschickt, auf denen sie wohl im Bikini in der Sonne saß und es sich gut gehen ließ. Auf diesen Anblick könnte ich gut verzichten. Irgendwann, so gegen 23 Uhr, schaltete ich es aus und legte mich schlafen. Mit meiner Familie hatte ich kein Wort mehr gewechselt, denn immer wenn sie wieder ins Zimmer gelugt hatten, hatte ich so getan als würde ich schlafen. Die Nacht über konnte ich wieder nur schlecht schlafen. Immer wieder schreckte ich auf, wenn helle Blitze durch den Himmel zuckten und heftiges Donnergrollen zu hören war. Als ich dann Nachts 4 Uhr schon über eine Stunde wach lag und vergebens versucht hatte, den großen Hunger zu ignorieren, gab ich es auf und beschloss im Essenssaal nach etwas Essbarem zu suchen. Eigentlich graute es mir davor um diese Zeit durch das Schloss zu schleichen, aber ich konnte mich einfach nicht mehr zurückhalten. Also huschte ich durch unser Apartment nach unten und öffnete die edle Glastür des Essensaals.
Es war alles dunkel um mich herum und ich tastete nach dem Lichtschalter. Endlich fand ich ihn und konnte der Dunkelheit ein Ende setzen.
Das Licht flackerte und erhellte den Raum nur für den Bruchteil einer Sekunde, bis es wieder ausging. Beim ersten Flackern sah ich in der hinteren Ecke eine Gestalt. Beim zweiten Flackern kam sie näher. Angst durchzuckte meinen Körper und versetzte ihn in eine Art Starre. Wieder fiel das Licht aus und ich konnte nichts mehr erkennen. Wo war sie? Wer war sie? Endlich, das Licht kam wieder und jetzt erkannte ich genau wer mir da gegenüber stand. Es war das Mädchen, kaputt wie zuvor. Wieder hatte sie ein Messer bei sich und schnürte nur bei ihrem Anblick meine Kehle so sehr zu, dass ich die Luft für einen Augenblick anhielt. Mir wurde heiß und kalt zu gleich, ich wurde nervös und meine Hände schwitzig... und beim vierten Flackern stand sie dann direkt vor mir.
Sie hatte lange, durchnässte, blonde Haare und ihr Gesicht war angeschwollen, geziert von tausend blauen Flecken.
Ich schrie, beziehungsweise wollte ich schreien. Aber sie legte ihre kalten, nein eiskalten Hände auf meinen Mund. Ihre schwarzen, langen Nägel bohrten sich in meine Lippen und ließen mich verstummen. Sie grinste mich fies an und hielt mir ein Messer unter die Kehle, sodass ich erschwert atmen konnte. Sie nahm langsam die Hand von meinem Mund und hielt den Zeigefinger vor ihren eigenen. Das Licht ging wieder aus und ich spürte wie das Messer sich weiter in meine Kehle bohrte. Ich stöhnte leise auf und merkte wie Tränen meine Wangen hinunter kullerten. Vorsichtig löste ich mich aus meiner Starre, als mir bewusst wurde, dass mir niemand helfen würde. Jetzt konnte nur ich mir helfen.
Fest entschlossen ballte ich meine Hand zu einer Faust und schlug gerade aus, mit dem Ziel ihr perfektes Gesicht zu treffen. Unerwarteter Weise merkte ich Widerstand an meiner Hand und der stechende Druck an meiner Kehle wurde weniger. Erleichtert schnappte ich nach Luft. Das Mädchen schaute mir hasserfüllt entgegen und hörte auf so furchtbar unecht zu lächeln.
Das Licht flackerte noch ein einziges Mal, dann wurden wir in Dunkelheit gehüllt. Was wollte sie nur von mir? Warum wollte sie mich so unbedingt töten? Meine Kehle brannte und ich strich dort mit meinen Fingern lang. Ich bemerkte wie sich etwas nasses auf meine Haut legte. Es musste mein Blut gewesen sein! Endlich hörte ich das lang ersehnte Knacken und das Licht ging endgültig an.
In dieser Sekunde war ihr Gesicht plötzlich Meinem so nah, dass sich ihre feurigen Augen direkt vor meinen befanden und ich ihren fauligen Atem riechen musste. Wütend schrie sie mich an und verschwand mit einem lauten Knall durch die Tür.
Wieder japste ich nach Luft und rutschte die Wand entlang zu Boden. Zitternd schaute ich auf meine Hände und fiel fast in Ohnmacht, als ich erkannte, dass sie komplett mit Blut beschmiert waren. Erschrocken fasste ich mir an den Hals, dort lief immer mehr warmes Blut hinunter. Ich spürte meinen Puls deutlich und merkte wie mich ein schwindeliges Gefühl überkam. Es war nun schon so viel, dass es meinen blauen Pullover bis zu den Armen rot gefärbt hatte. Eine Mischung aus Verzweiflung und Angst machte sich in mir breit und brachte mich dazu einfach nur zu schreien. Was anderes konnte ich nicht mehr tun und so sehr ich mir auch vorgenommen hatte, taff zu sein, meine Probleme selbst zu lösen, ich konnte es nicht. Immer noch war ich das hilflose Mädchen, was jetzt verängstigt auf dem Boden saß und um Hilfe bettelte. Das war eine Nummer zu krass!
Als hätte er meinen Schrei gehört, kam genau im richtigen Moment der Junge reingestürzt und warf sich vor mich auf die Knie. Erleichtert jemanden zu haben, warf ich mich in seine Arme und mit seiner Hilfe kam ich wieder in einen, einiger maßen sicheren, Stand. Doch ich verharrte nicht lange so vertrauend in seinen Armen, denn als mir wieder einfiel, wie er eben zu mir gewesen war, befreite ich mich aus seinem Schutz und wich ängstlich einen Schritt zurück.
„Nein!“, versuchte ich zu schreien und ihn von mir fern zu halten. Doch ich merkte wie schwach ich geworden war und so langsam fing alles an sich um mich herum zu drehen.
„Nein!“, keuchte ich erneut. Seine Arme schlangen sich um meine und zwängten mich zu Boden. „Lass mich los!“, flehte ich und weinte in seinen grünen Pulli hinein.
„Blut, überall Blut“, schniefte ich und wollte die tropfende Ader an meinem Hals zudrücken, doch seine starken Arme hielten mich davon ab.
„Ist okay, ich bin da.“ Ich schüttelte den Kopf und strampelte mit den Beinen. Ich wollte und konnte ihm nicht vertrauen.
„Über all Blut“, flüsterte ich und strampelte mit den Armen, versuchte mich vergebens aus seinen Griffen zu befreien. Vorsichtig hielt er mich am Hinterkopf fest und lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter, während er mir beruhigend über den Rücken streichelte. Ängstlich drehte ich meinen Kopf zur Seite und lugte zwischen seinem Arm hindurch, um nachzusehen ob sie noch da war. Sie war weg, es war vorbei, richtig?
Ein paar Minuten saßen wir einfach nur auf dem kalten Küchenboden und schwiegen. Ohne es eigentlich zu wollen schmiegte ich mich immer näher an ihn und atmete sein schönes Parfum ein. Auch wenn er wohl genau das Gegenteil verkörperte, so fühlte ich mich sicher bei ihm und konnte aufatmen.
Dann aber hielt er diese Stille nicht mehr aus, stand auf und lief zum Kühlschrank, der am Ende des Raumes stand. Ich schloss für kurze Zeit die Augen, doch als ich sie nach Sekunden wieder öffnete, saß er plötzlich neben mir und reichte mir eine Schüssel mit kalter Suppe. Ohne ein Wort nahm ich sie entgegen, stellte sie auf meine angewinkelten Beine und wischte meine verschmierte Schminke ab. Langsam warf ich einen Blick auf meine Hände und stellte erleichtert fest, dass sie normal waren, kein Blut, kein gar nichts.
Warum war er hier? Warum? Woher wusste er das ich hier unten war? Im schweigen aßen wir, trotzdem ließ ich meine Blicke immer wieder unruhig in der Gegend umher wandern. Wir wurden gleichzeitig fertig, sodass er meine Schüssel wieder nahm und sie auf eine Theke stellte. Ich schaute ihm nach und musste schließlich erschrocken feststellen, dass sie mir eine blutige Botschaft hinterlassen hatte...