„Lass mich in Ruhe!“, schrie ich ängstlich und vergrub mein Gesicht hinter meinen Händen. Im Raum war es eiskalt geworden und plötzlich konnte ich ihre Anwesenheit ganz deutlich spüren, obwohl ich sie nicht sah.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich eine leichte Berührung an meinem Rücken bemerkte. Warum spielte sie so mit mir? Wenn sie mich doch so unbedingt tot sehen wollte, warum brachte sie mich dann nicht einfach um? Schnell stieß ich ihre Hand weg, doch nachdem sie ihre Hand immer wieder auf meinen Rücken gelegt hatte und mir näher gekommen war, nahm ich meine Hand vom Gesicht und schaute auf.
Beruhigend sah er mich an und kniete sich neben mich.
„Alles gut?“ Sprachlos schüttelte ich den Kopf und zeigte mit meiner Hand auf die Wand über dem Kühlschrank. Was war das für eine blöde Frage? Natürlich war nicht alles gut! Seufzend stand er auf und lief zu der beschmierten Wand.
„Verschwinde oder ich reiße Dir und all Deinen Liebsten, das Herz aus euren schwachen Körpern!“ Laut hatte er ihre Worte vorgelesen und mir damit eine fette Gänsehaut verpasst. Eigentlich hatte ich gar nicht wissen wollen was dort stand. Kurze Zeit schwiegen wir und in meinem Kopf spielten sich unzählige Szenarien ab, wie ich meine Familie tot auffinden würde. Diese grausamen Gedanken wurden erst wieder durch seine ruhige Stimme verdrängt.
„Lass dich davon nicht erschrecken, das waren doch nur irgendwelche Kinder.“
„Willst du mich verarschen? Irgendwelche Kinder? Außer uns ist niemand hier, sie muss es gewesen sein!“, zischte ich empört von dieser schlechten Ausrede und sprang plötzlich vollgepumpt von Adrenalin und Energie auf.
„Wen meinst du?“
„Niemand“, antwortete ich schnell und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Sieht aus wie Blut“, stellt er fest, während er mit dem Finger über das Geschriebene ging und es verschmierte. Das frische Blut klebte nun an seinem Finger und neugierig hielt er es sich unter die Nase. Bei diesem Anblick schüttelte ich mich und spürte wie mich etwas Übelkeit überkam.
„Es ist frisch.“
„Gut erkannt Sherlock, das sehe ich selbst.“
„Trotzdem frage ich mich wer sich diesen geschmacklosen Scherz erlaubt haben soll“, erklärte er nachdenklich und musterte weiterhin die Wand, als wartete er darauf sie würde ihm eine Antwort geben.
„Ich glaube nicht, dass das ein Scherz sein soll.“
„Hm ich denke schon, wer sollte dich denn umbringen wollen?“ Oh wenn er nur wüsste! Aber ich konnte ihm einfach nicht von dem Mädchen erzählen, sonst würde er mich ganz schnell für verrückt erklären, wenn er das nicht ohnehin schon tat. Abgesehen davon fragte ich mich, ob er diese Frage überhaupt ernst gemeint hatte. Immerhin hatte sein Vater von einem „er“ gesprochen, der besonders mich im Auge haben sollte.
„Lass uns gehen, ich finde es unheimlich hier“, erklärte ich und verließ den Raum, ohne auf seine Antwort zu warten. Doch zustimmen folgte er mir und brachte mich bis zu meinem Zimmer. Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, dass er sich nicht verabschieden würde, also wollte ich stumm meine Tür öffnen und einfach verschwinden. Doch noch bevor ich dazu kam, brachte er mich mit einer Frage zum stehen.
„Warum hast du eigentlich geschrien?“ Verlegen schaute ich zu Boden. Ich wollte nicht darüber reden.
„Ist egal, nicht wichtig ...“, stotterte ich und versuchte nicht einmal eine gute Ausrede zu finden.
„Natürlich ist es wichtig! Du warst völlig verängstigt!“, antwortete er mit Nachdruck und schon wieder hatte er diesen drohenden Touch in seinen Augen. Super, aus irgendeinen Grund war es mir unheimlich wichtig, dass es mich nicht für schwach hielt. Doch mit diesem Vorfall hatte ich wohl das komplette Gegenteil erreicht.
„Wer ist Emy?“, fragte ich stattdessen und hoffte so aus der ganzen Nummer rauskommen zu können, doch da hatte ich die Rechnung wohl ohne ihn gemacht.
„Antworte nicht mit einer Gegenfrage!“, befahl er mir streng. Ich schluckte. Hatte ich eine andere Wahl, als ihm die Wahrheit zu sagen? Wahrscheinlich nicht. Die Dinge waren verrückt und er wohl der einzige der sie erklären könnte.
„Ich habe das Mädchen wieder gesehen und sie hat mich mit einem Messer bedroht“ , sagte ich schnell und schaute wieder auf den Boden. Es war wohl dumm zu hoffen, er würde die wichtigen Details überhören.
„Und wer ist jetzt Emy?“, fragte ich erneut und versuchte seine Blicke zu fangen, denn bei dieser Frage ging er meinen jedes Mal gekonnt aus dem Weg.
„Das ist egal, ähm.. ich muss dann auch los“, verabschiedete er sich und verschwand die Treppe runter. Besser hätte es nicht laufen können!
Klasse, jetzt hielt er mich mit Sicherheit für verrückt! Das Dumme war nur, dass ich das Gleiche an seiner Stelle tun würde.
Seufzend ging ich wieder in meine Zimmer und legte mich hin. Wieder war ich die Dumme! Seinen Namen kannte ich nicht und so langsam bekam ich das Gefühl, er wollte ihn mir nicht einmal verraten. Außerdem hatte er mich so hilflos gesehen, erneut! Es war verdammt schwer diese Hilflosigkeit und Angst zu verstecken. Ich musste mich wirklich ändern!
Mürrisch zog ich mir die Decke wieder über den Kopf, als es draußen langsam hell wurde und ich eigentlich nicht mal ansatzweise ausgeschlafen war.
Aber irgendetwas war anders als sonst. Misstrauisch schlug ich meine Decke wieder nach hinten und schaute mich im Zimmer um.
Von der einen Schrecksekunde fiel ich in die Andere. Verzweifelt starrte ich meine heruntergekommen Wände an. Unzählige, mit Bleistift gezeichnete Bilder hingen an ihnen und starrten mich an. Wieder bildeten sie den Grafen und mich ab. Mich, tot auf dem Boden liegend.
Ich atmete einmal tief durch, um nicht in einem völlig hysterischen Schreikrampf zu enden, der auch noch die anderen wecken würde. Von Sekunde zu Sekunde vergaß ich meine Müdigkeit und versuchte einen klaren Verstand zu bekommen.
Die Bilder mussten weg, bevor sie die Aufmerksamkeit meiner Eltern auf sich ziehen würden. Ohne länger drüber nachdenken zu können, machte ich mich an die Arbeit und riss sie von den Wänden. Es waren nur Bilder, sie könnten mir also nicht viel anhaben, richtig? Wer hatte so verdammt viel Langeweile und zeichnete ein Dutzend perfekter Bilder?
Schnaufend hatte ich endlich alle Zeichnungen eingesammelt und sie kurzerhand unter mein Bett gesteckt, da ich hörte, dass meine Mutter bereits auf den Weg in mein Zimmer war und mich wecken wollte.
„Alexandra? Bist du wach?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schlug sie die Tür auf und musterte mich kritisch, wie ich auf dem Boden hockte und vergeblich versuchte die Blätter vor ihr zu verheimlichen.
„Was machst du unter deinem Bett?“, fragte sie neugierig.
„Ich.. phe ähm... ich“, stotterte ich und entdeckte einen Cent unter meinem Bett, der mir das Leben rettete.
„Ich habe meinen... Cent gesucht?“, sagte ich fragend und richtete mich mit dem Cent zwischen Zeigefinger und Mittelfinger wieder auf. Meine Mutter nickte verständnislos, zog ihre Augenbrauen kritisch hoch und drehte sich schließlich langsam um. Das war knapp. Sie schloss die Tür hinter sich ohne ein weiteres Wort über ihre breiten Lippen zu bringen. Und was genau hatte sie in meinem Zimmer gesucht? Sie war doch wohl nicht reingekommen, um mich grundlos zu nerven oder?
Jetzt war ich erst recht wach und dank meiner lauten Familie wäre es sinnlos gewesen, zu versuchen wieder einschlafen zu können. Also rappelte ich mich auf und öffnete den morschen Kleiderschrank, in den ich meine Sachen fein säuberlich einsortiert hatte. Im kompletten Schloss war es eiskalt, weswegen ich mich nur für eine schwarze Jeans und einen molligen, orangen Pullover entschied. In Gedanken versunken kratzte ich Unterwäsche und Socken zusammen, schnappte mir mein Waschzeug und war dann bereit ins Badezimmer zu verschwinden.
Sollte sie doch kommen! Ich hatte kein Angst mehr vor ihr. Wenn sie mich wirklich zur Strecke bringen wollte, dann hätte sie das längst getan. Also machte sie sich nur einen Spaß daraus und genau das musste endlich aufhören, wenn ich hier schon zwei Wochen festsaß.
Schnell putzte ich mir die Zähne und wollte danach duschen gehen. Leider stellte ich fest, dass es keine Duschen gab und die Badewanne, das einzige war mit dem ich Vorlieb nehmen sollte.
Ohne jegliche Hoffnung lief ich zu ihr und drehte angewidert den Wasserhahn auf. An Seiten und Boden hatte sich jede Menge Rost gebildet, der mich an meinem Vorhaben stark zweifeln ließ. Die Badewanne war schon mehrmals mit Silikon beklebt worden, sodass es nun schon wieder abzubröckeln drohte.
Wie erwartet trat zu aller erst braunes Wasser aus dem Wasserhahn der Wanne. Angeekelt starrte ich es an und fragte mich, wie ich es hier nur zwei Wochen aushalten sollte. Bei diesem Anblick hätte sich wahrscheinlich schon längst jeder übergeben!
Nach einiger Zeit aber wurde das Wasser klarer und ich betrat die Badewanne mit Vorsicht. Nachdem ich mich in ihr geduscht hatte, zog ich mich schnell um, wusch meine Füße noch einmal extra und begann meine gelockten, roten Haare zu kämmen. Doch sie wollten wieder einmal anders als ich und so machte ich sie einfach zu einem strengen Dutt zusammen.
Ich begann meine Augen zu schminken und auf einmal stachen mir zwei Katzen grüne Augen entgegen. Eine Weile betrachtete ich sie, bis ich realisierte, dass es wirklich meine waren. Warum hatte ich mich immer nach blauen gesehnt? Wenn ich diese wunderschönen Augen mit mir durch die Gegend tragen durfte? Warum es mir ausgerechnet hier auffiel? Nun ja diese blauen, mysteriösen Augen gingen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Lange blieb ich nicht mehr im Badezimmer. Nachdem ich fertig geworden war, brachte ich meine Sachen zurück und gesellte mich zu meiner Familie in den Essensaal. Auf den Weg dort hin hatte ich natürlich Ausschau nach dem Jungen gehalten, aber das Glück war heute nicht auf meiner Seite und so blieb die Rezeption leer.
Wenig hungrig setzte ich mich neben meinen Bruder und knabberte an einem Nuteller Brötchen. Irgendwann schaltete ich bei ihren Gesprächen ab und versank wieder in meinen eigenen Gedanken. Ich hasste es hier und deshalb startete ich die Diskussion über das nach Hause fahren erneut. Es war scheiße, dass meine Eltern auf der gleichen Seite standen. Doch so sehr ich sie auch anschrie und rummotzte, sie änderten ihre Meinung nicht. Blöder Weise war ich auf sie und ein Taxi angewiesen, denn Auto fahren konnte ich nicht und nach Hause zu laufen, fiel schon mal ganz schnell flach.
„Wir gehen heute in den Wald und du wirst mitkommen.“
„Einen Scheiß werde ich tun. Ich habe nicht mal die richtigen Sachen dafür eingepackt“, entgegnete ich meiner Mum empört und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das ist nicht mein Problem. Du wusstest wo wir hinfahren und was wir machen würden. Außerdem kannst du dir warme Sachen von mir leihen.“
„Nein danke. Ich kann auch einfach hier bleiben und mir alleine einen Bunten machen!“
„Das hast du gestern schon tun können“, erklärte sie siegessicher und nahm einen Schluck von ihrem Orangensaft.
„Gestern habe ich eure Sachen einsortiert, falls es euch nicht aufgefallen ist. Also lasst mich doch einfach in Frieden“, zischte ich und stand auf.
„Vergiss es! Du kommst mit. Ansonsten nehmen wir dir dein Handy weg und dann wirst du umkommen vor Langeweile.“ Sie hatte ein Machtwort gesprochen, an dem ich nichts mehr ändern konnte. Ich hätte mich von Anfang an gegen sie stellen müssen und verweigernd Zuhause bleiben sollen. Es war mir ein wenig zu riskant den Abzug meines Handys zu riskieren, weswegen ich schließlich doch mürrisch einwilligte und mich mit ihnen auf den Weg in den finsteren Wald machte.
Vielleicht war es eine gute Möglichkeit mich von dem ganzen Scheiß ablenken zu können. Da ich viel Wert auf mein Äußeres legte, zog ich mir nur eine leichte Jeansjacke über. Sie passte einfach am besten zu meinem Outfit. Das bereute ich jedoch schnell wieder. Trotz des dicken Schals fror ich und hoffte inständig, dass wir uns einfach bald wieder auf den Rückweg machen würden.
Wir liefen ein schnelles Tempo, dass es mir schwer machte mithalten zu können. Ich war erstaunt, dass sich Mia und Tom bisher noch nicht beschwert hatten. Für gewöhnlich hassten auch sie die ewigen Wanderungen meiner Eltern und nörgelten bereits nach wenigen Minuten rum.
Na gut, Mia hatte es gut und wurde auf den Schultern meines Dad's getragen. Tomi hingegen hatte in sich den versteckten Abenteurer gefunden und sah nun in jedem Baum ein Monster, zerschlug ihn und fühlte sich dann wie ein großer Held. Das war allerdings gut, denn dann schlief er immerhin Nachts und störte mich nicht mit seiner liebreizenden Stimme oder er schlief wenigstens mal bis um sieben Uhr durch.
Wir stapften durch den Wald und bei jeden meiner Schritte hatte ich das Gefühl, dass meine schwarzen Turnschuhe ein wenig weiter in den tiefen Matsch einsanken. Es lag bereits angetauter Schnee, sodass meine Fußspitzen schon völlig nass und dementsprechend eingefroren waren. Hätte ich sie nicht sehen können, wäre ich fest davon überzeugt gewesen, sie wären fette Eisklumpen.
Auch der kalte Wind, der uns umgab, brachte nicht gerade Wärme zu mir. So langsam spürte ich meine Fußspitzen gar nicht mehr und hatte Mühe vorwärts zu kommen.
Er hatte sich wie ein verdammtes Arschloch aufgeführt und trotzdem wollte er mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Warum musste ich überhaupt noch an ihn denken? Selbst gestern nach diesem eigenartigen Vorfall, war er plötzlich wieder so merkwürdig gewesen und hatte mich einfach stehen lassen. Gott, manchmal hasste ich meine Gedanken einfach. Sie wollten ihn nicht loslassen und das schon jetzt, wo ich nicht einmal seinen Namen kannte.
Kopfschüttelnd versuchte ich mich wieder zusammenzureißen. Immerhin war ich mitgekommen, um das ganze Zeug hier vergessen zu können und damit auch ihn. Er wäre sowieso keine Option für mich. Schließlich waren wir in England und ich hatte einen Freund.
Seufzend hielt ich wieder Ausschau nach meinen Eltern und stellte fest, dass sie bereits einige Meter weiter vorne waren. Da ich in diesen endlosen Weiten nicht verloren gehen wollte, nahm ich Anlauf und joggte etwas näher an sie heran. Dabei rutschte ich auf den nassen Blättern aus und fiel mit der Nase vor einen bleichen Arm... warte mal. Ein Arm?!