Vielleicht war es jetzt an der Zeit, mein Karma zu bekommen. All die Jahre hatte ich egoistisch gelebt, hatte die Leute verspottet, die nicht in mein Konzept gepasst hatten. Vielleicht war genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, um das zu ändern. Entschlossen schritt ich an ihn heran und nahm seine Hand entgegen.
„Ja ich stimmte dem Deal zu und ich verspreche mich an seine Regeln zu halten“, brachte ich knapp über meine bebenden Lippen und war fast erleichtert, als ich realisierte, dass es nun kein Zurück mehr gab. Meine Entscheidung stand fest und sie fühlte sich wohl oder übel, wie die Richtige an.
Sein Grinsen wurde breiter und er zog mich in seine Arme. Ein vorher nie dagewesene Kraft, presste mich an ihn, sodass ich Angst bekam ersticken zu können. Hilfesuchend schaute ich mich nach Leandro um und hoffte er hätte eine rettende Idee, die mich aus dieser ausweglosen Lage befreien könnte. Hatte er sich etwa verpisst? Mich und meine Familie alleine gelassen, um sich selbst den Arsch zu retten? Ich fasse es nicht, wie konnte man nur so feige sein?
Ich wagte einen letzten Blick zu Mum, die mich mit großen Augen anstarrte und einen hysterischen Schrei losließ. Ob sie wusste, dass das ein Versprechen fürs Leben war?
Mein Gedankengang war noch nicht einmal zu Ende gewesen, da wurde sein fester Griff lockerer und er ganz schwer in meinen Armen. Erschrocken und den Fluchtgedanken nah, schritt ich zurück und sah zu, wie er unsanft zu Boden fiel. Hinter ihm stand Leandro der seine blutverschmierte Hand geschockt betrachtete.
Stöhnend wandte sich der Graf auf dem Boden hin und her. Erst jetzt entdeckte ich das silberne Messer in seinem Hals. Blut rann an ihm herunter und blieb schließlich dickflüssig an seinem Schlüsselbein kleben. Der Körper, der einst meinem Vater gehört hatte, verschwand und stattdessen verwandelte sich die Person vor unseren Füßen langsam in den abscheulichen Grafen.
Er musste furchtbare Qualen durchlebt haben. Seine Augen begannen sich feuerrot zu färben und seine Augen kniff er energisch zusammen.
Er rang mit sich selbst keinen Schrei loszulassen, doch letztendlich gewann der Schmerz und er brüllte das ganze Gewölbe zusammen. Wie angewurzelt sah ich zu, wie sich sein Körper unter den Schmerzen wand und schreckte vor dieser Grausamkeit zurück. Hatte er so einen Tod überhaupt verdient? Eigentlich sah er nicht besonders furchteinflößend aus. Er war vielleicht recht hoch gewachsen, dafür aber sehr schmächtig und zierlich. Seine Haut war bereits faltig und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Er hatte lange, schmale Finger und eine außergewöhnlich blasse Haut. Seine Lippen waren schmal und ausgetrocknet. Immer mehr trocknete sein schlanker Körper aus.
Untätig starrten wir ihn alle an, bis er schließlich aufhörte zu atmen und das Blut nur noch langsam floss. Seine Augen begannen glasig zu werden und alles was ihn je ausgemacht hatte, verschwand mit einem Mal.
Bedrohliche Schritte weckten uns aus der Starre und ließen uns unruhig werden. Panisch griff Mum an die Türklinke und versuchte sie herunterzudrücken. Doch auch nach etlichen Versuchen blieb sie erfolglos.
„Was jetzt?“, quietschte sie besorgt und lief wie eine Verrückte durch den Raum.
Als hätte sie alles mitbekommen, tauchte das Geistermädchen im richtigen Moment auf. Flink krabbelte sie auf den Tisch in der Ecke und deutete auf einem Lüftungsschacht darüber. So schnell wie sie aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder. Nicht einmal ein Wimpernschlag war vergangen, ehe sie sich in Luft aufgelöst hatte. Es fühlte sich beinahe so an, als hätte ich mir das eingebildet, aber ein Versuch war es wert.
Ich zögerte nicht lange, bis ich mich auch auf den Tisch schwang und an dem Lüftungsschacht herumwerkelte. Einen Knappen Meter über dem Tisch hing es, sodass ich das Gitter bequem einschlagen konnte. Die schweren Schritte wurden immer lauter und schneller, als wäre die Person gleich nebenan.
Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer das sein könnte, so war ich mir sicher, dass sie nur für unnötige Gefahr sorgen würde. Also überlegte ich nicht lange und hievte mich in den kleinen Schacht. Der Rest machte es mir nach, nur Leandro ließ sich viel zu lange Zeit.
„Leandro, was machst du denn da solange?“
„Warte ich hab´s gleich“, schnaufte er nur und kam dann einen Augenblick später auch zu uns rein gekrabbelt. Vorsichtig befestigte er das Gitter wieder, um alle Spuren zu verwischen.
„Was hast du denn da unten gesucht?“, flüsterte ich über die anderen Köpfe hinweg.
„Ich habe mir die geklauten Amulette wieder geholt. Eins der Werwölfe, zwei von den Panuletas und unseres, die anderen konnte ich leider nicht finden.“
„Werwölfe?“, fragte Mum verwirrt, doch noch bevor jemand von uns antworten konnte, wurde die Tür wütend aufgeschlagen und nur ein verzweifeltes Stöhnen war zu hören. Wer machte sich denn bitte um den Grafen Sorgen? Hatte ich etwas verpasst? Ich dachte alle in diesem kleinen, verlassenen Örtchen würden ihn loswerden wollen?
Mit großen Augen blickte Leandro uns alle an und hielt sich angestrengt den Finger vor den Mund. Genervt winkte ich ab. Was dachte er denn? Das ich lauthals losbrülle? Schleichend krabbelten wir den immer dünner werdenden Gang entlang. Die Luft war stickig und machte es viel schwerer, sich durch diesen schmalen Schacht zu quälen, zumal ich volle und enge Ort üblicher Weise mied. Aber jetzt hatten wir keine Zeit für Ängste und Sorgen.
Einfach Augen zu und durch, richtig?
Wir brauchten nicht lange bis wir das Ende des Schachts erreichten. Mit den Füßen zuerst robbte ich an das goldene, verschnörkelte Gitter heran und stieß es mit voller Wucht zu Boden. Lautes Scheppern folgte. Beschämt zog ich die Schultern hoch und blickte in Leandro´s strafendes Gesicht.
Vorsichtig ließ ich meine Beine den steilen Abhang aus Stein hinunterbaumeln und sprang schließlich, ohne über die folgenden Konsequenzen nachzudenken. Trotz der ziemlich großen Höhe war der Aufprall sanfter als erwartet und ich kam ungewohnt gut auf meinen Füßen auf. Trotzdem zog sich in mir alles zusammen und genau in diesem Moment fiel mir mein knurrender Magen auf. Keine Ahnung wie lange ich bewusstlos gewesen war, aber meine letzte Mahlzeit muss wohl etliche Stunden her sein.
Ich machte Platz, damit auch der Rest springe konnte. Tom und Mia fing ich weniger elegant auf und Mum und Leandro kamen ebenfalls unversehrt unten an. Der Gang sah genauso aus wie alle anderen. Obwohl es hier auch keine Fenster gab, waren die Gänge schummrig beleuchtet und die Fackeln erloschen. Auch Lampen gab es hier unten nicht, die unsere Sicht etwas klarer gemacht hätten.
Da der Gang nur in eine Richtung verlief, schlug ich diese wie selbstverständlich ein und hoffte und redete mir damit ein, dass ich einen Plan hatte. Vielleicht würden das die anderen dann auch denken. Einer musste schließlich die Führung in die Hand nehmen.
Wenn wir nur die Wand, von der wir gekommen waren, finden würden, dann wäre das Alles hier weitaus nicht so kompliziert. Ich atmete die kühle Luft ein, die von den steinernen Wänden abgegeben wurde und blieb erst wieder an einer Kreuzung stehen. Sie verlief in alle Richtungen und ich bekam das Gefühl, dass es die Selbe war wie vorhin. Jetzt blieb nur noch die Frage offen, aus welcher dieser drei Richtungen wir gekommen waren.
„Leandro weißt du noch aus welcher Richtung wir gekommen sind?“, fragte ich kleinlaut und hoffte alle könnten darüber hinwegsehen, dass auch ich die Orientierung längst verloren hatte.
Er nahm die linke Abzweigung und lief sie ein paar Meter runter, bis er stehen blieb und zu uns zurück kam.“
„Wir müssen gerade aus“, stellte er flüsternd fest und lief vor.
„Woher...“
„Wir sind vorhin rechts abgebogen und dieser Gang führt zu der Eisentür“, sagte er stolz und lief in einem schnellen Tempo vor, sodass Mum und meine Geschwister Probleme bekamen, ihm folgen zu können. Zum Glück war dieser Gang nicht allzu lang und wir kamen schneller als gedacht zur Sackgasse.
„War wohl doch nicht richtig?“, meldete sich Mum und wollte mit Mia auf dem Arm gleich wieder umdrehen.
„Nein Mum, wir sind schon richtig.“ Sorgsam zog ich sie an ihrem grünen Pulli wieder zu uns zurück und trat näher an die kalte Backsteinwand heran.
„Okay und wie machen wir das jetzt?“
„Ich würde sagen ich springe mit Tom und du mit deiner Mum und dem kleinen Mäuschen dort.“
Nickend nahm ich meine Mum an die Hand und hievte mir Mia auf meinen rechten Arm. Oh Gott wie sollte ich mit ihrem Gewicht jemals über die Treppe springen? Egal irgendwie musste ich es schaffen, meiner Mum konnte ich es jeden Falls kaum zumuten, immerhin musste sie sich erst mal dazu durchringen, wie eine verrückt Gewordene durch eine Wand springen zu wollen.
„Okay Mum auch wenn sich das völlig Irre anhört, es funktioniert. Du bekommst deine Antworten später, aber jetzt müssen wir hier erst mal weg. Denn ich glaube nicht, dass unser Verfolger so gut auf uns zu sprechen sein wird.“
„Schön wenn du meinst und wo genau willst du lang? Ich sehe hier jedenfalls nur eine Sackgasse.“
„Na ja die Sackgasse hat ein kleines Schlupfloch. Hinter dieser Wand befindet sich das Gemälde des Grafen´s und das... ist so eine Art übernatürliches Portal. Es funktioniert und hin und zurück, nur dass man zurück nirgendwo anders, als im Flur des Hotels landen kann.“ Ich machte mir keine großen Hoffnungen, dass meine Mum mir auch nur eine Sekunde lang glauben würde.
Ihr Gesicht sprach Bände. Mit kritisch hochgezogener Augenbraue und zweifelndem Kneistern der Augen, musterte sie mich und fragte sich gerade wohl, ob ich jetzt völlig den Verstand verloren hatte.
„Okay Alex ich muss zugeben, dass was dein... also was der Graf mit der Tür angestellt hat ist mir ein Rätsel, aber deshalb werde ich noch lange nicht gegen eine Wand springen.“
Die dumpfen Schritte, die wir eine Weile schon nicht mehr gehört hatten, waren nun ganz leise zu hören und hinterließen ein dumpfes Schallen in den leeren Gängen. Er musste uns gehört haben und jetzt würde er uns die Köpfe abreißen wollen. Ich wollte ihn nicht sehen und vor allem wollte ich nicht wissen was er jetzt mit uns vor hatte. Wir mussten hier so schnell es geht weg.
„Was soll schon passieren? Er hat uns bereits gehört und er ist auf dem Weg. Also entweder du springst über deinen eigenen Schatten und versuchst das Unmögliche oder er holt uns ein. Wer weiß was er mit uns vor hat, wer er überhaupt ist.“
Kurz leuchteten ihre Augen auf und schienen diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dann kam ihre Vernunft jedoch wieder und sie begann kritisch den Kopf zu schütteln.
„Miss, ich bin dort mit ihrer Tochter zusammen durch gesprungen, sonst wären wir gar nicht hier. Ich kann es nicht verantworten ihre Tochter hier zulassen. Also entweder sie kommen mit oder wir gehen alleine“, sagte Leandro hart und nahm mich an die Hand. Was sprach er eigentlich so hochsprachlich und vornehm? Wollte er die Gelegenheit gleich nutzen und sich bei meiner Mutter einschleimen? Meine Hoffnungen waren gering, aber wie durch ein Wunder ließ sie sich zögernd umstimmen und war auf einmal bereit, gegen alle ihre Prinzipien zu verstoßen.
Sie hatte noch nie an das Übernatürliche geglaubt, ihr waren Fakten und Wissenschaft die unserem Verstand nicht zu hoch waren, deutlich lieber als Mythen und Spekulationen.
„Und Mum es ist wichtig, dass du so hoch wie möglich springst. Du darfst auf keinen Fall zögern, ansonsten schaffst du´s nicht über das Geländer.“
Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben und ich konnte es Tom und ihr wohl kaum verdenken. Ich hatte wohl den leichtesten Part von allen. Immerhin war ich schon mehrere Male gesprungen und das hin und zurück. Trotzdem hatte ich Bange, sie würden zu lange zögern und es nicht über das Geländer schaffen.
„Okay das hört sich alles andere als leicht an, aber wir haben wohl wirklich keine andere Wahl. Alex tu mir bitte den Gefallen und gib mir Mia“, forderte sie und hielt mir ihre ausgestreckten Arme hin, damit ich ihr Mia gab. Ich war mit diesem Vorschlag eigentlich nicht zufrieden, aber wenn sie sich schon auf diesen Sprung einließ, dann könnte ich ihr Mia bestimmt nicht vorenthalten. Widerwillig schwang ich Mia auf ihre Arme und griff nach ihrer noch freien Hand.
„So und du Großer kommst zu mir.“ Grinsend hielt Leandro meinem Bruder seine Hand hin und wartete, dass er sie entgegen nahm.
„Nö nicht mit dir“, rief er mürrisch und verschränkte stur die Arme vor der Brust.
„Was soll das heißen?“
„Ich will nicht mit dir durch diese Wand springen, ich vertrau dir nicht.“
„Tom!“, brüllten Mum und ich gleichzeitig, als wir hörten wie die Schritte näher kamen.
„Komm schon, die Mädels sind nicht so mutig. Wir müssen denen erst mal zeigen, wie echte Männer das machen“, erklärte er geschickt und griff nach Tom´s Hand. Schwachsinn, das hatte überhaupt nichts mit dem Geschlecht zu tun. Aber ich mischte mich nicht ein, denn seine Worte schienen Eindruck bei ihm zu hinterlassen.
Tom brauchte nicht lange bis er von Leandro´s Worten überzeugt war und willigte schließlich selbstbewusst ein.
Mit Anlauf ließen wir sie durch die Wand springen, wobei Mum´s verkrampfte Hand sich erst wieder lockerte, als sie erkannte, dass ihr Kind nicht gerade gegen eine Wand gesprungen war.
„Okay Mum, jetzt wir. Du hast gesehen, dass es funktioniert. Als gibt es keinen Grund zur Sorge“, versuchte ich sie zu beruhigen und machte mich auf den Sprung gefasst. Wieder waren die Schritte lauter geworden und wir wusste, dass sie nicht mehr weit entfernt sein konnten. Höchste Zeit also, von hier zu verschwinden.
Bei drei sprangen wir gleichzeitig ab, doch schon im Flug spürte ich, dass sie etwas weiter zurück lag. Erinnerungen flogen sachte an mir vorbei und ich versuchte sie krampfhaft zu ignorieren, damit ich die Landung nicht verpasste. Im Augenwinkel erkannte ich die Familie wieder, der ich bei meinem ersten Flug auch begegnet war.
Vielleicht war das der Moment an dem ich mich an einen Zusammenhang erinnern könnte. Ich wagte einen knappen Blick dort hin, doch schon im nächsten Moment verließ mich die Kühle der dunklen Gänge und mein Körper wurde in angenehme Wärme gehüllt. Mit rudernden Armen kam ich knapp über dem Geländer an und landete mit einem lauten Rums auf den Treppenstufen. Erleichterung machte sich in breit, als ich bemerkte dass Leandro und Tom unversehrt vor mir standen und mir hoch halfen.
Erleichtert fiel mir Tom in die Arme. Seine kalten und verschwitzten Finger bohrten sich in mein Hüfte. Was er wohl alles mit ihnen angestellt hatte? Ob er sie wohl gequält hatte? Ich senkte den Kopf und blickte in Tom´s zerkratztes Gesicht. Blaue Flecke schimmerten unter seiner dunklen Haut hervor und blutige Schrammen lagen auf seinen Wangen.
Sachte löste ich mich aus seiner Umarmung und wandte mich zu Leandro um, der seine Erleichterung kaum verstecken konnte.
Mit einem lauten Grummeln machte sich mein unerträglicher Hunger wieder bemerkbar und ich spürte wie er an mir zu nagen begann.
Ein Schrei riss mich aus meinem Selbstmitleid und ließ mich für einen Moment erstarren. Verzweifelt versuchte sich eine Hand am Geländer festzukrallen, die immer wieder kurz davor war abzurutschen. Wie festgewachsen warf ich Leandro einen auffordernden Blick zu, aber der schien in Schockstarre versetzt worden zu sein.
„Alex!“
Ich löste mich aus dieser Starre und rannte auf Mum zu, die krampfhaft versuchte Mia über das Geländer zu befördern.
„Nimm sie!“, forderte sie und hievte sie mit mir zusammen auf den sicheren Boden. Ich wandte mich nur einen Augenblick von ihr ab, um Mia sicher Leandro zu übergeben. Doch als ich mich wieder zu ihr wagte, klammerten ihre schmalen Finger nicht mehr am Geländer und meine Mum war wie aus Zauberhand verschwunden.