Ich ging, nicht weil ich mich nicht widersetzen konnte, nein ich ging einfach, weil mir so viel Stress am Morgen doch zu anstrengend war. Außerdem waren meine Füße Eisblöcke und mussten definitiv aufgetaut werden.
Seufzend machte ich mich auf den Heimweg und drehte mich nicht einmal mehr zu ihm um. Schon jetzt wusste ich, dass er mir mit dieser Art tierisch auf die Nerven gehen würde, Hauptsache er würde sich irgendwann wieder einkriegen. Es ging mir gehörig gegen den Strich, dass er sich mit dieser Aktion wieder wie der größte Held fühlen konnte, aber auf weiteren Stress hatte ich einfach keine Lust. Wahrscheinlich würde er mir diese Aktion noch ewig vorhalten.
Stumm öffnete ich das quietschende Gartentor und verschwand im Haus. Angenehme Wärme strömte mir entgegen, als ich die Haustür öffnete und meine nackten Füße lustlos auf der Matte säuberte. Verwirrt starrte ich meinen Winterstiefeln entgegen, die an dem Ort standen, wo ich sie gestern zu hundert Prozent weggenommen hatte. Okay was zur Hölle ging hier ab?
Es war eigenartig still im Haus, was mich wunderte. Streckend trotte ich in die hell erleuchte Küche und starrte die Uhr verwundert an. Es war gerade Mal sechs Uhr. Deswegen war es draußen immer noch schummrig. Für meine Familie jedoch war es ungewöhnlich still, selbst um diese Zeit machten sie normaler Weise Lärm. Ob sie alle noch schliefen?
Und warum war ausgerechnet Leandro schon wach gewesen und hatte genau jetzt das Bedürfnis gehabt, vor die Tür zu gehen?
Leise schlich ich die Treppe nach oben und wollte mich wieder in mein Bett legen, um wenigstens ein paar Minuten in Frieden verbringen zu können, bevor er mich mit Fragen durchlöchern würde. Doch da hörte ich die piepsige Stimme meiner Schwester, die ganz fröhlich irgendetwas vor sich her brabbelte. Bevor ich mich auf den Weg zu ihr machte, verschwand ich zu erst im Bad, um meine verdreckten Hände, Füße und das Gesicht zu reinigen.
Schmunzelnd öffnete ich dann ihre Zimmertür und schaute direkt in funkelnde Augen. Da ich meine Mutter nicht wecken wollte, hielt ich mir den Finger vor den Mund und brachte Mia damit zum Verstummen. Ich suchte ihr ein paar Sachen zum anziehen raus und verschwand dann mit ihr, an der Hand, im Bad.
Nachdem ich ihr geholfen hatte sich fertig zu machen, nahm ich sie mit nach unten in die Küche und ließ mir von ihr beim Tischdecken helfen.
„Mia trägst du die Teller rüber?“ Nickend kam sie auf mich zu gesprungen und hielt mir ihre kleinen Patschehändchen hin, damit ich auf ihnen den Stapel von Plastiktellern platzieren konnte. So lange wie ich denken kann, gab es bei uns im Haushalt noch nie Geschirr, das nicht aus Plastik bestand. Zu recht vielleicht, sonst wären schon einige Scherben auf den weißen Fliesen gelandet.
„Aber sei vorsichtig, ja?“ Trällernd nahm sie die fünf Teller entgegen und brachte sie dann in den Nebenraum. Obwohl unsere Küche genügend Platz für einen Tisch und Stühle geboten hätte, bestand mein Vater damals darauf, dass Esszimmer getrennt von der Küche zu halten. Er hatte gemeint, es habe so mehr Stil, doch mittlerweile sehe ich darin eher die Platzverschwendung.
Flink huschte Mia zwischen dem hellen Esszimmer, neben an und der Küche hin und her, während sie die, von mir bereit gestellten, Sachen entgegen nahm.
Ihre sonst eher verhaltende Motivation, nutzte ich dieses Mal gnadenlos aus und begann mit ihr ein Spiel aus dem Tischdecken zu machen. Während ich die nächstens Sachen runter holte, schnappte sie sich schnell die bereits für sie hingestellten Dinge und verschwand im Nebenraum.
Wenn sie wieder kam funkelte sie mich ganz lachend an und forderte mich dazu auf, nach den verschwundenen Sachen zu fragen und jedes Mal kam die gleiche Antwort:
„Ich weiß nicht, vielleicht hat das ein Troll geklaut?“ Nachdem Mia auch die letzten Tassen rüber getragen hatte, griff sie nach meiner Hand und zog mich ins Esszimmer.
„Schau Mal, die Trolle haben den Tisch gedeckt“, quietschte sie lachend und sprang mir in die Arme.
„Da haben wir aber Glück gehabt. Ich dachte schon all unsere Sachen wären weg.“
„Nein, das sind doch nette Trolle.“
„Ach wenn das so ist, vielleicht wollen die Trolle das nächste Mal auch beim Putzen helfen?“
„Nein, so was machen die nicht. Das sind nur Tischdecktrolle“, erklärte sie und schaute den gedeckten Tisch stolz an.
„Das ist aber schade. Willst du dann Mama wecken gehen?“ Flink sprang sie von meinen Armen und rannte nach oben in das Zimmer meiner Mutter. Ich hatte bereits gehört wie Leandro reingekommen war und konnte gut darauf verzichten, Mia bei der Diskussion zusehen zu lassen. Am Ende würde sie nur irgendwelche Worte aufschnappen und sie bei meiner Mutter aus plappern. Schon jetzt konnte ich mir gut vorstellen, mit welchen Fragen Leandro ankommen würde. Noch tat ich so, als hätte ich seine Anwesenheit nicht bemerkt und kontrollierte den Fortschritt der Brötchen im Ofen. Stur zwang ich mich zu Boden zu starren, als ich die Kaffeemaschine ansteuerte und Kaffee aufsetzte. Doch ich konnte ihn nicht Ewigkeiten ignorieren.
„Ist was?“, fragte ich, als er nach fünf Minuten immer noch an der Wand lehnte und mir beim herum Wuseln, in der Küche, zusah.
„Willst du nicht wissen wie es ausgegangen ist?“ Zögernd drehte ich mich zu ihm und schwang mich auf die Arbeitstheke.
„Dann erzähl mal.“
„Vielleicht noch mit einem Bitte? Oder einem Danke, für die Rettung?“
„Danke für die Einmischung in mein Leben, schon wieder. Ich habe weder nach deiner Hilfe gefragt, noch sie gebraucht, also tue jetzt bitte nicht so, als hättest du mir den Arsch gerettet.“
„Gerne.“ Ich seufzte und vergrub mein Gesicht in den Händen, während ich mit den Beinen zu wackeln begann. Er konnte es echt nicht lassen oder?
„Also?“
„Die Klären das gerade mit der Polizei.“
„Was? Und dafür hast du fast ne Stunde gebraucht?“
„Ja“, sagte er knapp, stieß sich von der Wand weg und kam auf mich zu stolziert.
„Aber du bist mir noch eine Rechenschaft schuldig.“ Ich begann zu lachen und richtete mich auf.
„Ich schulde dir gar nichts.“
„Ich hab dir geholfen und dafür will ich jetzt eine Antwort haben.“
„Wie oft soll ich´s dir noch sagen? Ich wollte deine Hilfe nicht!“
„Du hast sie aber gebraucht, also?“
„Ich weiß nicht mal wo von du redest. Keine Ahnung was für eine Rechenschaft das sein soll“, stellte ich mich dumm und mied jeden Blickkontakt.
„Natürlich.“
„Nein, wirklich keine Ahnung“, entgegnete ich, sprang von der Theke und streifte ihn im Vorbeigehen.
„Was hast du da draußen gemacht?“
„Das geht dich nichts an, verstanden?“, zischte ich und versuchte seinen Blicken zu entkommen.
„Du sahst aus, als wärst du in einer Schlammschlacht gelandet. Und wo hast du deine Schuhe gelassen?“
„Na im Flur, so wie jeder andere auch.“
„Draußen hast du aber auch keine Schuhe angehabt.“
„Na und? Was geht dich das an?“
„Komm her.“
„Was?“
„Du hast noch ein bisschen Schlamm an der Wange“, erklärte er und lief selbstsicher auf mich zu. Ruhig schaute er mir in die Augen und lächelte mich an. Mein Körper versetzte sich in eine Schockstarre, als er mir plötzlich so nah war, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Wie angewurzelt stand ich vor ihm und konnte nicht aufhören in diese wunderschönen Augen zu starren. Ob ich es wollte oder nicht, sie ließen mich meine Umgebung vergessen und das, was eigentlich immer noch zwischen uns stand. Sachte kam er mir immer näher und strich seine rechte Hand zärtlich über meine Wange. Immer noch war er mir so nah, dass ich die Luft anhielt und mich nicht zu bewegen wagte. Lächelnd verrieb er den Schlamm in zwischen seinen Fingern und brachte sein Gesicht, für den Bruchteil einer Sekunde, noch dichter an meins. Erst dann ließ er wieder von mir ab. Erleichtert atmete ich ein und hörte endlich auf, diese blauen Augen anzustarren.
„Danke“, murmelte ich leise und konnte mich erst wieder bewegen, als meine Mum, Tom und Mia in die Küche traten. Ertappt räusperte ich mich und ließ den Abstand zwischen ihm und mir immer größer werden.
„Der Tisch ist ja schon gedeckt und die Brötchen...“, sagte ich stolz, doch unterbrach mich noch im selben Moment, als ich mich daran erinnerte, die Brötchen im Ofen vergessen zu haben. Schnell stürzte ich mich auf sie und konnte sie gerade noch rechtzeitig rausholen, bevor es zu spät gewesen wäre.
„Die sind auch fertig.“ Mit Brötchen und Kaffee folgten mir alle ins Esszimmer und setzten sich. Die Gespräche waren in vollem Gange, nur Leandro starrte nachdenklich seinen Teller an und zwang sich zum Essen. Ich redete viel und so fiel es gar nicht auf, dass ich kaum etwas aß. Ich hatte keinen Hunger und ehrlich gesagt ekelte mich der Geschmack von normalen Essen an. Hoffentlich würde das wieder vergehen.
„Was zur Hölle war das?“, rissen mich sanfte Töne aus dem Gespräch, die ich niemanden zuordnen konnte.
„Und ja“, brachte ich meinen begonnenen Satz zu Ende und trank einen Schluck meines Kaffees. In der linken Ecke stand Lynn und kam mich nachdenklichen Gesicht auf mich zu.
„War das eine Vision oder ein Traum?“, platze es aus ihr heraus. Verwirrt schaute ich sie an und fragte mich, wie zur Hölle sie darauf kam. Unauffällig zuckte ich mit den Schultern. Doch Leandro hatte mich genau beobachtet und so war der Versuch es unbemerkt zu machen, kläglich gescheitert.
„Gymnastikübungen? Solltest du auch mal versuchen“, erklärte ich mich und begann meine Arme durch die Luft zu schwingen, um meine Aussage zu unterstützen. Lynn interessierte sich in keinster Weise für meine Bemühungen, nicht als verrückt erklärt zu werden und so begann sie immer mehr Fragen zu stellen und Vermutungen in den Raum zu werfen. Irgendwann war ich von ihren Fragen so genervt, dass ich meine Hand hob und sie mit ausdrücklicher Miene versuchte zu verscheuchen.
„Alles okay bei dir Alexandra?”
„Ja, ja... da war nur ne Fliege”
„Ja genau“, lachte Tom und schob sich das letzte große Stück seines Brotes in den Mund.
„Ist heute nicht ein schöner Tag? Die Sonne scheint sogar”, begann meine Mutter und nippte an ihren immer noch dampfenden Kaffee. Zweifelnd kniff ich die Augen zusammen, denn ich konnte erahnen, dass sie etwas von mir wollte. Das tat sie immer, wenn sie plötzlich über das Wetter zu reden begann. Das war für sie die perfekte Überleitung, um mir zu sagen dass ich irgendetwas einkaufen oder abholen sollte.
„Was willst du Mum?“
„Nichts ich dachte nur ihr könntet heute in die Stadt fahren.“
„Ihr?“
„Na Leandro und du. Er braucht doch noch ein paar Schulsachen.“
„Echt jetzt? Ne nicht heute.“
„Warum?“
„Heute ist der erste Tag Zuhause, da will ich einfach nur in meinem Bett liegen und irgendwelche Serien schauen.“
„Ihr könnt auch gerne morgen einkaufen gehen, wenn ihr dann Mia und Tom mitnehmen wollt.“
„Hä warum sollten wir die mitnehmen?“
„Weil ich Morgen bei Oma und Opa bin? Das habe ich dir doch schon vor dem Urlaub gesagt.“
„Richtig, vor dem Urlaub. Dann gehen wir halt Samstag, wo ist da das Problem?“
„Nirgends, aber da wird die Hölle los sein. Immerhin gibt es fast fünfzig Prozent auf alles.“ Ich seufzte und zwang mich dazu, dass letzte Bisschen meines Brotes zu verschlingen.
„Und was ist mit den Büchern? Die müssen doch noch bestellt werden.“
„Ein paar haben sie immer auf Lager.“
Nur schwer konnte ich mich zu einem „Ja“ durchringen und stand vom Tisch auf. Schleunigst leerte ich den letzten Schluck meines Kaffees und verschwand dann nach oben in mein Zimmer. Nachdenklich starrte ich mein Handy an, das ich achtlos auf den Nachttisch gelegt hatte und steckte es dann nach kurzer Überlegung in meine Tasche. Dann suchte ich noch nach meinem Portmonee, Schlüssel und etwas zu trinken, das ich mitnehmen konnte und was in meine kleine Tasche reinpasste. Schnell verschwand ich im Bad und machte mich frisch. Heute traf ich sicherlich auf ein paar meiner Freunde, darauf konnte ich gut verzichten, aber am Samstag würde es wohl nur noch schlimmer werden.
„Kommst du?“, brüllte ich durch den Flur und zog mir meinen Mantel über. Mit warmen Socken an den Füßen schlüpfte ich in meine Schuhe und wartete. Wenig später kam Leandro mit meiner Mum um die Ecke und musterte mich.
„Na los, ich will heute noch ankommen.“
„Ihr könnt auch erst gegen Mittag gehen.“ Sie wollte unbedingt, dass wir auf ein paar meiner Leute treffen würden. Am besten sollte ich ihn gleich mit allen bekannt machen, doch darauf hatte ich ganz sicher keine Lust. Schon bei dem Gedanken Anne wiederzusehen, bekam ich schlechte Laune.
„Jetzt sind die Geschäfte vielleicht noch nicht so voll“, erklärte ich und öffnete die Tür. Leandro zog sich schnell seine Jacke über und ein paar Schuhe an, ehe er zu mir kam.
„Hier, vielleicht findet ihr ja noch ein paar andere schöne Dinge“, sagte Mum schmunzelnd und drückte mir zwei Fünfziger in die Hand. Dankend nahm ich sie an und verstaute sie in meinem Portmonee.
„Bis später Mum.“ Mit diesen Worten verließen wir das Haus und machten uns auf den Weg zur nächsten Haltestelle. Für einen goldenen Herbst, war es draußen viel zu kalt und bewölkt. Kalter Wind zog durch die Stadt und ließ die bunten Blätter von den Bäumen fallen.
„Ich dachte du hast meiner Mutter erzählt, dass du mein Bruder bist.“
„Ja. Habe ich auch.“
„Und warum will sie dann, dass wir Schulbücher holen? Ich dachte sie würde glauben du wärst schon die ganze Zeit bei uns gewesen.“
„Ich habe ihr einfach erzählt, dass ich damals abgehauen und eben in England gelandet bin.“
„Umständlicher ging es nicht oder? Sie kann dir niemals geglaubt haben, dass du alleine nach England gegangen bist.“
„Ich hatte Hilfe.“
„Hm“, brummte ich unzufrieden und beschleunigte meine Schritte. Der nächste Bus würde bald kommen und ich wollte ihn ungern verpassen.
„Alex?“
„Hm?“
„Es tut mir leid.“ Perplex blieb ich stehen und starrte ihn ungläubig an. Es tat ihm leid? Ja und jetzt? Was erwartete er bitte von mir? Was sollte das überhaupt werden?
„Ja und jetzt?“
„Ich hätte nicht so reagieren sollen.“
„Bei was?“
„Du weißt, dass es mir schwer fällt...“, antwortete er und verstummte. Es fiel ihm schwer? Ja und was sollte ich jetzt damit anfangen? Was versprach er sich von dieser begonnen Konversation?
„Wobei hättest du nicht so reagieren sollen?“
„Bei allem“, flüsterte er und schaute mir direkt in die Augen. Ging das schon wieder los? Die Situation eben in der Küche war schon so eigenartig gewesen und nur der Blick in seine Augen ließ mich alles vergessen. Das wollte ich nicht oder viel mehr wäre es schlecht gewesen, es direkt wieder zu vergessen und ihm zu verzeihen. Dieses Lächeln, seine strahlenden Augen und verdammt noch mal, dieses unwiderstehliche Parfum raubten mir einfach den Verstand. Ich hatte Angst vor dem was als nächstes passieren würde, doch gleichzeitig wünschte und sehnte ich mich nach einem Kuss von ihm. Ich wollte unbedingt seine Lippen berühren und sie auf meinen spüren, auch wenn es so verdammt falsch war.
Immer wieder wechselten meine Blicke zwischen seinen Augen und seinen Lippen hin und her und nahmen mir meinen klaren Verstand. Das ist nicht richtig! Meine Gedanken hatten recht, aber das Gegenteil von dem zu tun, was richtig war, war einfach so verlockend.
Schnell schloss ich die Augen und bekam meinen Verstand zurück. Es war falsch und ich war mir sicher, er würde mir nur wieder wehtun, wenn ich mich darauf einlassen würde. Ich hatte eine Entscheidung getroffen, ich musste ihn zurückstoßen! Entschlossen öffnete ich die Augen und wollte ein klares Statement setzten, doch da war er mir bereits so nah, dass es gar unmöglich war, nicht in diese wunderschönen Augen zu starren. Ich zögerte, ja ich zögerte sogar sehr lange, zu lange und verstand dann, dass ich ihn nicht wegstoßen würde. Nicht wenn er mich küssen würde und das störte mich. Ich wusste genau, dass es die einzig vernünftige Entscheidung war, doch das war mir egal. Ob ich es zugeben mochte oder nicht, ich wollte ihn.
Seine Lippen kamen näher und seine Augen begannen zu strahlen. Es ist ein Fehler! Kribbeln durchflutete meinen Körper und machte mich nervös. Mit jeder Sekunde wurde es stärker und nahm mir die Luft. Hoffnungsvoll schaute ich ihn an und bereite mich auf den Kuss vor, den ich so sehr wollte. Langsam legte ich meine Hände auf seine Schulter und gab mich dem Verlangen hin. Ich weiß nicht ob er unsicher war oder mich leiden lassen wollte, doch es dauerte eine Ewigkeit, bis er mir endlich so nah war, dass sich unsere Lippen jede Sekunde treffen mussten. Lächelnd schloss ich die Augen und wartete auf diese magische Berührung. Ich spürte seinen schnellen Atem in meinem Gesicht und war endlich dabei seine Lippen zu spüren, als uns ein lautes Klingeln aufschreckte und mich aus meinen Träumereien riss.
Erschrocken machte ich einen Schritt zurück und prallte beinahe in eine Radfahrerin rein. Sie schaffte es knapp an mir vorbeizufahren und rief mir verärgert hinterher. Unangenehm. Schnell lief ich weiter und tat so, als wäre eben rein gar nichts passiert. Jetzt würde es zwischen uns nur noch komischer werden, als es ohnehin schon war.
„Was holen wir jetzt genau?“, fragte er ganz belanglos und holte mich ein. Was wir jetzt holen? Das war seine erste Frage? Ich schüttelte den Kopf, ich hätte wahrscheinlich alles, außer das erwartet. Aber gut dieses Spiel konnte ich auch spielen, tun wir doch einfach mal so, als wäre das nie passiert, als hätte ich mir das eingebildet oder geträumt.
„Hefter und Bücher“, sagte ich knapp und stellte mich unter das Dach der Bushaltestelle. Den Bus hatten wir jetzt verpasst, ein Glück fuhren die Busse alle zehn Minuten.
„So jetzt sind wir ungestört“, sagte er und stellte sich neben mich. Bitte? Aufregung stieg wieder in mir auf und verdrängte die Peinlichkeit. Ich wurde zunehmend unsicher, doch die Bilder, wie er mich gleich in aller Öffentlichkeit küssen würde, brachten mich wieder in Schwärmerei. Hoffnung trat in mich und brachte mich zum Lächeln.
„Dann kannst du mir ja jetzt erklären, was du alleine, um sechs Uhr auf der Straße gemacht hast. Und warum du überhaupt auf der Straße gelegen hast“, riss er mich aus meiner Träumerei und zerschlug jegliche Hoffnung. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Dieser Typ machte mich echt fertig!
„Das ist jetzt nicht dein Ernst oder?“
„Warum?“, fragte er völlig unwissend und zuckte mit den Schultern. Warum? Weil du mich gerade beinahe geküsst hättest und jetzt so tun willst, als hätte es diese Situation nie gegeben! Gut, wenn er so spielen wollte, dann bitte! Dann war ich jetzt eben das Mädchen, das er nie bekommen würde! Ganz abgeneigt von mir konnte er kaum sein, sonst hätte es diesen Moment eben wirklich nie gegeben. Wird er schon sehen, was er davon hat!
„Pff, weil dich das nichts angeht.“
„Natürlich. Schließlich habe ich dir geholfen.“ Ich stöhnte auf. So langsam begann mich diese Antwort wirklich zu nerven. Doch anstatt ihm das zu zeigen, fing ich an zu lachen und machte mich somit über seine Forderung lustig.
„In welcher Welt lebst du eigentlich? Es ist mein Leben und deshalb geht dich das nichts an, außerdem habe ich verdammt nochmal nicht nach deiner Hilfe gefragt.“
„Sie aber gebraucht.“
„Oh Gott Leandro, wie kann man nur so stur sein? Ich wäre mit dieser Situation auch bestens alleine zurecht gekommen.“
„Wie auch immer, also was hast du auf der Straße gemacht? Und wie bist du überhaupt in diesen Konflikt geraten?“ Ich schüttelte den Kopf und hielt mir den Zeigefinger vor den Mund, als eine ältere Dame sich zu uns gesellte.
„Du musst ja nicht die ganze Nachbarschaft darüber informieren“, zischte ich und deute mit meinen Blicken auf die alte Dame. Sie sah so aus, als würde sie alle interessanten Dinge aufsaugen und weitertratschen. Im Endeffekt würde es dann bei Anne landen und damit in der ganzen Schule.
„Ach, jetzt hör doch auf und zier dich nicht so. Das interessiert die doch sowieso nicht“, entgegnete er gleichgültig und musterte die alte Dame kurz. Er hat leicht reden, sein Ruf stand hier ja auch nicht auf dem Spiel.
„Hör auf jetzt.“
„Hör du mal auf dich so aufzuspielen und antworte mir endlich auf diese Fragen!“
„Leandro, halt endlich deine Klappe!“, fuhr ich ihn an und drehte mich weg, in der Hoffnung er würde endlich nachgeben. Herrliches Schweigen herrschte nun zwischen uns. Prüfend, ob sie uns zugehört hatte, starrte ich sie an und beobachtete jeden ihrer Atemzüge. Sie trug eine roserne Bluse, mit lila Blümchen und hatte ihre grauen Haare zu einem Dutt hochgesteckt, der sie strenger machte, als sie wohl wirklich war. Freundlich schmunzelte sie mich an und studierte den Fahrplan. Ihr Gesicht war mit einer Menge von Falten übersät, die sie ziemlich alt wirken ließen. Gerade wollte ich wieder in Gedanken versinken, da drehte sie sich plötzlich zu mir um und kam auf mich zugelaufen. Ihre freundlichen, grünen Augen begannen sich plötzlich zu verfärben und wurden gefährlich orange. Starke Pigmentierungen sammelten sich um die orangene Regenbogenhaut und verliehen der alten, gebrechlich wirkenden Dame, einen hinterlistigen Touch.
Ihre Mundwinkel zog sie ohne Vorwarnung gefährlich weit hoch und ihre spitzen Eckzähne traten zum Vorschein, die sie liebend gern in meine Haut gebohrt hätte. Erschrocken lief ich rückwärts, bis ich gegen Leandro stieß, der verwirrt seine Hände an meinen Rücken hielt. Sah er sie nicht?
Plötzlich ging mir ein Licht auf. Orangene Augen, warum war ich da nicht früher drauf gekommen? Sie war ein verdammter Werwolf!